Inbegriff eines guten Demokraten
Andreas von Schoeler, der ehemalige Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, hat den Ignatz Bubis-Preis erhalten. Der Preis, der seit 2001 alle drei Jahre zum Geburtstag von Ignatz Bubis, am 12. Januar, übergeben wird, ist für Persönlichkeiten oder Organisationen bestimmt, die sich durch ihr öffentliches Wirken für die von Ignatz Bubis vertretenen Werte einsetzen. Die Laudatio sprach der Präsident des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross. Die Dankesrede, die Andreas von Schoeler in der Paulskirche hielt, ist hier nachzulesen.
Der Ignatz Bubis-Preis ist eine besondere Auszeichnung. Sie erinnert an einen großen Bürger unserer Stadt. Mit der Vergabe des Preises hat sich die Stadt die Selbstverpflichtung auferlegt, im Sinne von Ignatz Bubis zu wirken. Das ist ein hoher Anspruch und eine große Verpflichtung, für die Stadt und für die Preisträgerinnen und Preisträger. Ich bin mir dessen bewusst und bedanke mich beim Magistrat der Stadt und Ihnen, sehr geehrte Frau Eskandari-Grünberg, für diese ganz besondere Ehre.
Und ich danke Ihnen, lieber Herr Gross, sehr herzlich, dass Sie heute die Laudatio übernommen haben. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass man sich selbst nicht zu wichtig nehmen und nicht in den Mittelpunkt stellen soll. Aber offensichtlich waren sie nicht 100%ig erfolgreich dabei. Denn ich gestehe: Es hat mir Freude gemacht, Ihnen zuzuhören. Sie haben mich im Jahre 2009 „angeworben“ für den Förderverein des Museums. Für die freundschaftliche und gute Zusammenarbeit, die sich daraus ergeben hat, bin ich Ihnen sehr dankbar. Sie haben mir damit die Möglichkeit gegeben, mich auch nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik und meinem Berufsleben für Themen zu engagieren, die mir immer wichtig waren. Dass ich auf diese Weise mithelfen konnte, den Neubau des Jüdischen Museums möglich zu machen, betrachte ich als ein besonderes Glück. Ich danke Ihnen dafür.
Mein Dank gilt auch den Musikern des Kooperationsstudiengangs von Internationaler Ensemble Modern Akademie und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen des Ensemble Modern haben in den letzten Jahren häufig mit dem Jüdischen Museum und seinem Förderverein zusammengearbeitet. Gemeinsam wollten und wollen wir in dieser Kooperation erinnern an die großartigen Komponisten, die von den Nationalsozialisten wegen Ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden und deren Werke leider allzu oft auch nach dem Ende der Naziherrschaft vergessen blieben, so dass man von einer zweiten Verfolgung nach der Verfolgung sprechen kann. Ich habe mir deshalb gewünscht, dass Sie heute ein Stück von Erwin Schulhoff spielen und danke Ihnen, dass Sie mir diesen Wunsch erfüllt haben. Den ersten Satz seines Concertino aus dem Jahr 1925 haben wir zu Beginn gehört, den zweiten werden wir später hören.
Wenn ich in die Runde blicke, sehe ich viele Menschen, die sich in den letzten Jahren mit mir für das Jüdische Museum engagiert haben. Ich begrüße Sie alle und benütze die Gelegenheit gerne, Ihnen herzlich zu danken. Mit Ihrem Einsatz für das Museum haben Sie dafür gesorgt, dass die Tradition des bürgerschaftlichen Engagements, dem unsere Stadt so viel zu verdanken hat, weiter lebt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums sorgen dafür, dass die Möglichkeiten des Neubaus auch genutzt werden – zum Beispiel durch interessante Ausstellungen und spektakuläre Neuerwerbungen. Man spürt Ihre Freude und Ihr Engagement. Das freut auch mich und ich danke Ihnen dafür.
Einschließen in meinen Dank möchte ich die Männer und Frauen des Protokolls der Stadt, die diese Veranstaltung – wie immer – großartig vorbereitet haben.
Als ich ein Teenager war, gab eine ältere Cousine bekannt, dass Sie heiraten werde. Es gab in der Familie ein Gemurmel, aus dem ich – ohne daß irgendetwas gesagt wurde – entnommen habe, dass der zukünftige Ehemann wirklich ganz reizend sei, aber … Aber irgendwie schien er nicht „zu passen“, was auch immer das heißen mochte. Meine Cousine heiratete ihn trotzdem, und sie führten eine glückliche Ehe. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis ich begriffen habe, warum der „reizende Mann“ angeblich nicht passen sollte. Er war Jude.
Mir kam diese Geschichte wieder in Erinnerung bei meiner Vorbereitung auf den heutigen Tag. Sie führt uns nämlich mittenhinein in die 60er Jahre der Bundesrepublik. In die Zeit, in der die Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechensmaschinerie in Deutschland oder, genauer gesagt, in der amerikanischen Besatzungszone Zuflucht suchten, diese zunächst in den DP-Lagern fanden und dann aus unterschiedlichsten Gründen in Deutschland blieben und sich hier eine Existenz aufbauten. Es war eine Bundesrepublik, die sich mit aller Kraft dem Wiederaufbau widmete. Und es war eine Bundesrepublik, die von den Verbrechen der Nazi-Herrschaft ganz überwiegend nichts wissen und nichts hören wollte. Nach vorne wollte man schauen, nicht zurück. Alle Schuld der Vergangenheit sollte beschwiegen und verschwiegen werden. Natürlich waren die antisemitischen Klischees nicht verschwunden, aber sie wurden nicht mehr so leicht öffentlich ausgesprochen. Detlev Claussen charakterisierte diese Zeit einmal treffend wie folgt: „Schon das Wort Jude verursachte den meisten Deutschen Schwierigkeiten. Konnte man Menschen so ansprechen, ohne sie zu diskriminieren? Also vermied man es.“
Ich bin Jahrgang 1948. Mein Interesse an Politik und Gesellschaft und dann später mein politisches Engagement begann in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Wie viele andere junge Menschen meiner Generation wollte ich in der saturierten Bundesrepublik die Verkrustungen der Adenauer-Zeit aufbrechen. Unsere Themen waren in der Außenpolitik die Aufhebung des Eisernen Vorhangs, die Aufnahme von Gesprächen zwischen Ost und West, und in der Innenpolitik die Stärkung der Bürgerrechte in einem liberalen Rechtsstaat, der Minderheitenrechte achtet und „im Zweifel für die Freiheit“ entscheidet. Willy Brandts Regierungserklärung brachte es auf den Punkt: Mehr Demokratie wagen.
Und es waren diese 60er Jahre, an deren Ende ich Ignatz Bubis kennenlernte. Er trat im Jahre 1969 in die FDP ein, in der ich seit 1966 Mitglied war. Seitdem saßen wir beide über viele Jahre hinweg in verschiedenen Gremien der FDP. Daraus ergaben sich viele Begegnungen, und wir lernten uns abseits der formellen Gremien auch persönlich kennen. In diesen Jahren habe ich viel von ihm gelernt.
Ich habe miterlebt, wie sehr es ihn verletzte, wenn er – meistens aus Naivität, manchmal auch bösartig-aggressiv – in ausgrenzender Weise angesprochen wurde. Zum Beispiel, wenn ihn jemand bat, seinen Botschafter in Bonn zu grüßen und damit den israelischen Botschafter meinte. Seit dieser Zeit reagiere ich außerordentlich gereizt auf das gedankenlose Gerede von den „jüdischen Mitbürgern“ als seien die jüdischen Deutschen nicht genau so Bürger dieser Republik wie die nichtjüdischen. Oder auf das häufig gebrauchte Begriffspaar „Deutsche und Juden“, als könne man nur eins oder das andere sein. Wir sollten uns alle bewusst sein, wie schnell aus Gedankenlosigkeit ein „Fauxpas“ werden kann. Und mit „Fauxpas“ meine ich nicht nur den Verstoß gegen eine Benimmregel. Der falsche Schritt kann hier ein sehr schmerzender Tritt sein.
Auch nachdem unsere parteipolitischen Wege sich getrennt hatten, blieben wir freundschaftlich verbunden. Und die Frage, wie man das Gedenken an die Menschheitsverbrechen des Holocausts wach halten und Judenhass, Fremdenfeindlichkeit oder Hass auf andere Minderheiten bekämpfen kann, wurde für mich zu einem Thema, das mich nicht mehr losgelassen hat. In meiner Zeit als Oberbürgermeister in den 90er Jahren wurden in Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und anderen Orten der Republik schlimmste ausländerfeindliche Anschläge begangen. Ignatz Bubis überließ die Proteste gegen diese Gewalttaten nicht anderen. Er erhob seine Stimme laut und wirkmächtig – auch vor Ort. Seine Präsenz dort machte das Fehlen der Repräsentanten des Staates noch deutlicher. Wie viele andere habe ich Ignatz Bubis dafür bewundert. Die Bilder mit ihm vor den verbrannten Häuserfassaden haben sich mir eingeprägt. Und ich habe ihn dafür bewundert, mit welchem unglaublichen Einsatz er von Diskussion zu Diskussion eilte, Schulklassen auch in entlegenen Dörfern besuchte, um mit den Schülerinnen und Schülern zu diskutieren.
Ignatz Bubis glaubte an die Kraft des Argumentes, die Wirkung des Gesprächs, den Wert des Zuhörens und die Notwendigkeit des politischen Kompromisses. Er war und ist für mich deshalb der Inbegriff eines guten Demokraten. Heute leben wir in einer Zeit, in der immer mehr Menschen nur noch mit Gleichgesinnten kommunizieren, Spaltungstendenzen sich vertiefen und viele Diskussionen Schaufensterdebatten sind. Ignatz Bubis ist keinem Gespräch aus dem Weg gegangen. Im Gegenteil. Als im „Häuserkampf“ aus der linken Ecke behauptet wurde, ein großer Anteil der Hauseigentümer seien Juden, ist er persönlich mit einem der Wortführer durch das Westend gegangen, um ihm von Haus zu Haus darzulegen, wer die Investoren waren. Da war keine Presse dabei, es war keine Schau, sondern der Versuch, mit Argumenten zu überzeugen. Ich wünsche mir, dass mehr solcher Gespräche über die Meinungsfronten hinweg auch heute stattfinden.
Sein Lebensweg führte Ignatz Bubis vom Überlebenden des Holocausts, dessen Familie von den Deutschen ausgelöscht worden war, zum Präsidenten des Zentralrates der Juden und zu einer moralischen Autorität in Deutschland.
Es ist eine Untertreibung, zu sagen, dass dieser Weg nicht leicht war. In den zu Beginn adressierten 60er Jahren gab es ein Schweigen zur Vergangenheit ja nicht nur auf der Seite der Täter und ihrer Kinder. Auch auf der Seite der Opfer wurde wenig über die Vergangenheit gesprochen, auch wenn ihre Schrecken hier immer präsent waren. Ich war immer wieder erschüttert, wenn mir Juden in persönlichen Gesprächen offenbarten, dass Sie jedes öffentliche Auftreten als Jude oder Jüdin vermieden, um nicht „aufzufallen“. Vor diesem Hintergrund wird der fundamentale Schritt erst richtig verständlich, den Ignatz Bubis und viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter der jüdischen Gemeinde mit der Besetzung der Bühne im Konflikt um die Aufführung des Fassbinder-Stückes „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Jahre 1985 machten. Detlev Clausen schreibt zur damaligen Lage: „Lebende Juden waren bis dahin in der westdeutschen Öffentlichkeit unbekannte Wesen“. Mit der Bühnenbesetzung machte die Jüdische Gemeinde in unserer Stadt deutlich, dass Sie sich von nun an selbstbewusst an öffentlichen Diskussionen zu beteiligen gedenke. Welch ein Schritt! „Zum ersten Mal wurden Juden nicht als Opfer, sondern als lebende Akteure wahrgenommen“, um noch einmal zu zitieren.
Die Rolle des politischen Akteurs hat Ignatz Bubis von da an immer stärker wahrgenommen. Er ist dabei angefeindet, verleumdet und bedroht worden wie kein anderer. Aber er hat auch viel Zustimmung, Bewunderung, ja Verehrung bekommen. Wie häufig mag er dabei dem „Gemurmel“ begegnet sein, dem sich der Ehemann meiner am Anfang erwähnten Cousine ausgesetzt sah? Nach dem Motto: „Ein großartiger Mann, aber …“
Und da ist es wieder, das „Aber“ der Ausgrenzung. Selbst auf dem Höhepunkt seines Ansehens Anfang der 90er Jahre war Ignatz Bubis nicht vor unausgesprochenen oder auch ausgesprochenen Ausgrenzungen gefeit. Und wir können sicher sein, dass er dafür ein sehr feines Gespür hatte. 1993 wurde er für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht. Aber er wies alle diesbezüglichen Spekulationen zurück. Die Zeit sei noch nicht dafür gekommen, dass ein Jude Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland werden könne.
War Ignatz Bubis in seinem Wirken erfolgreich? Wir alle kennen seine resignative Einschätzung zu dieser Frage in seinem letzten Interview kurz vor seinem Tod. Und es ist ja richtig, dass es auch während seiner Zeit und danach weiterhin rechtsextremistische Gewalttaten gab und gibt, dass eine rechtsextremistische Partei wie die AfD im Bundestag und in den Landtagen sitzt und sie bei Umfragen mehr als 10% bekommt trotz aller Verstrickungen in rechts-terroristische Milieus, zu Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern. Die bewunderungswürdige Kraft von Ignatz Bubis liegt gerade darin, dass er sich auch davon nicht von seinem Kampf und seinem Engagement hat abhalten lassen. Die Tatsache, dass der Judenhass unausrottbar zu sein scheint, hat ihn nicht gelähmt, sondern angespornt. Darin liegt sein Vorbild.
Es ist für mich eine große Ehre, den Preis zu erhalten, der seinen Namen trägt. Ich freue mich darüber und danke Ihnen.
Letzte Änderung: 11.01.2023 | Erstellt am: 11.01.2023
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