Etwa 360.000 Menschen haben 2021 die katholische Kirche verlassen – fast ein Drittel mehr als im bisherigen Rekordjahr 2020. Ein Grund: der Missbrauchsskandal. Auch bei der evangelischen Kirche stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Vergleich zum Vorjahr um 60.000 auf rund 280.000. Erstmals sind die Mitglieder der beiden Kirchen in Deutschland in der Minderheit. Das hätte auch Folgen für das Verhältnis der Kirchen zum Staat. Aber, stellt Helmut Ortner fest, da geschieht nichts.
Nun ist eingetreten, was viele prognostiziert hatten: Weniger als die Hälfte der Bevölkerung hierzulande ist noch Mitglied in der katholischen oder evangelischen Kirche. Es herrscht Erosion auf allen Ebenen. Im Erzbistum Köln – einem der reichsten Bistümer der Welt – stiegen die Austrittszahlen um mehr als 130 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020. Von einem „Woelki-Tsunami“ ist dort die Rede, um zu beschreiben, was sich dort ereignet hat: 40.000 Austritte allein in der jüngsten Amtszeit des Erzbischofs Rainer Maria Woelki. Der Vertrauensverlust ist enorm. Der skandalöse Umgang mit dem Missbrauchsskandal, hochriskante Finanz- und Immobiliengeschäfte, zuletzt starre Reformverweigerungen auf dem Synodalen Weg, all das lässt Gläubige verzweifeln – und austreten. Nicht nur im Kölner Sprengel. Im Erzbistum Hamburg traten im vergangenen Jahr rund 50 Prozent mehr aus als im Vorjahreszeitraum. Der Mitglieder-Niedergang grassiert landesweit – und damit der Verlust beträchtlicher Kirchensteuer-Einnahmen.
Die Zahlen repräsentieren nach Worten des Limburger Bischofs Georg Bätzing, der auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz ist, die „tiefgreifende Krise“ der katholischen Kirche in Deutschland. Er sei „zutiefst erschüttert“ über die extrem hohe Zahl an Austritten. Sein Kollege, der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, beschwört indes weiterhin die Kirche als Hort der Sinnstiftung und gibt die Hoffnung nicht auf, dass „trotz vieler Fehler in unserer Kirche“ die Strahlkraft des gelebten Christseins in den vielen Gemeinden weiterhin wirke. Doch in den Niederungen des Kirchen-Alltags fehlt es nicht nur an Strahlkraft, es fehlt vor allem an Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) verzeichnet sinkende Mitgliederzahlen. Sie hatte ihre Statistik bereits im März veröffentlicht. Demnach stieg die Zahl der Kirchenaustritte im Vergleich zum Vorjahr um 60.000 auf rund 280.000.
Ob Katholik oder Protestant – Tatsache ist, die meisten Kirchenmitglieder sind schon lange keine überzeugten Anhänger ihrer Kirche mehr, sondern sogenannte „Taufscheinchristen“. Gerade etwas über 3 Prozent der evangelischen und knapp 10 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder besuchen regelmäßig noch den sonntäglichen Gottesdienst. Die Bindekraft bröckelt. Gläubige Schäfchen verlassen massenhaft die Herde. Die große Mehrheit, ob Katholiken oder Protestanten, nennt einer Studie der Ev. Kirche zufolge überhaupt keinen konkreten Anlass für ihren Austritt. Sie haben sich im Laufe der Jahre einfach von der Kirche entfremdet und ziehen irgendwann den Schlussstrich. Hinzu kommt: In Zeiten grassierender Teuerungen der Lebenshaltungskosten wird der jahrelang aufgeschobene Austritt aus einer Kirche, die einem ohnehin nichts bedeutet, nun endlich vollzogen. Freilich: Nicht mehr Mitglied der Kirche zu sein, muss nicht zur Folge haben, von seinem Glauben abzufallen. Glaube geht auch ohne Kirche.
Und die Politik? Obwohl die aktuellen Statistiken ein Beleg dafür sind, dass nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt hinter den Kirchen und ihren Glaubenssätzen steht, scheint die Politik das zu ignorieren. Noch immer gibt es eine Fülle anachronistischer Gesetze und Subventionen, etwa bei der horrenden öffentlichen Finanzierung von Kirchentagen oder der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten bis hin zu Kirchenredaktionen in Landes-Rundfunkanstalten. Daran wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern. Zu stark ist der klerikale Lobbyismus, die Kirchenhörigkeit der Politik.
Deutschland ist kein Kirchenstaat. Es ist an der Zeit, dass die Politik angesichts des massiven gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts der Kirchen erkennt, dass die Kirchen immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung haben. Erstmals sind die Mitglieder der beiden Kirchen in der Minderheit. Dem muss die Politik gerecht werden. Die Komplizenschaft zwischen Staat und Kirche ist nicht mehr zeitgemäß, sie muss ein Ende haben.
Für allzu großen Optimismus freilich ist kein Platz. In Berlin, dem bislang noch letzten Konkordat-freien Bundesland, steht ein Abschluss eines neuen Staatsvertrags mit dem „Heiligen Stuhl“ kurz vor seinem Abschluss. Darin sichert sich die katholische Kirche auch in Zukunft zahlreiche Privilegien und sichert ihren Einfluss, vor allem im pädagogischen und schulischen Bereich. Etwa vertraglich festgehaltene Erziehungsziele wie: „Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott und im Geiste der christlichen Nächstenliebe zu erziehen.“ So ist ein an der staatlichen Humboldt-Universität gegründetes „Zentralinstitut für Katholische Theologie“ ebenfalls Gegenstand des ersten katholischen Staatsvertrags des Landes. Dort sollen das „Studienangebot, die organisatorische Verankerung des Instituts an der Universität sowie die Berufung von Professorinnen und Professoren“ fortan unter Federführung der christlichen Organisation stattfinden. Sobald die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und die Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne) den Vertragsentwurf mit Erzbischof Nikola Eterovic unterzeichnet haben, wird dieser geltendes Recht. Das Verfassungsgebot, das eine Trennung von Kirche und Staat verlangt, wird von der rot-grünen Landesregierung ignoriert. Wieder einmal.
Letzte Änderung: 09.08.2022 | Erstellt am: 09.08.2022