Genres, Zeiten und Orte verwischen

Genres, Zeiten und Orte verwischen

Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen

Die Völkerkundemuseen von Leipzig, Dresden und Herrnhut muss die neue Leiterin Nanette Jacomijn Snoep nicht nur verwalten, sondern vor allem in die Gegenwart führen. Jedes Haus ist eine besondere Herausforderung, weil es eine jeweils ganz eigene Sammlung besitzt und ein sehr unterschiedliches Publikum ansprechen soll. Wobei zunächst für die Museumschefin das Grassi Museum Leipzig und das Museum für Völkerkunde Dresden (z.Zt. im Umbau, ab September wird es im Japanischen Palais wieder eröffnet) im Fokus stehen. Die kleine Sammlung Herrnhut bleibt noch eine Weile im Dornröschenschlaf. Die Zukunft der Völkerkundesammlung liegt nicht in der Betrachtung der Vergangenheit, sondern „Ein Museum muss die Grenzen zwischen ‚Kunst-’ und ‚Nicht-Kunst-’Museen, zwischen verschiedenen Medien (Skulptur, Malerei, Video etc.), Genres, Zeiten und Orten verwischen“, so Nanette Snoep im Gespräch mit Clair Lüdenbach.

Interview mit Nanette Jacomijn Snoep Direktorin Staatliche Ethnographischen Sammlungen Sachsen (SES), Museen für Völkerkunde, Dresden, Leipzig und Herrnhut

Vaneriu maske, Papua Neuguinea  | © Foto: Völkerkunde Museum Dresden, Foto: Alena Drahokoupilova
Sie leiten drei Museen. Ist das sinnvoll? Oder wäre es besser, wenn jedes Museum eine eigene Leitung bekäme?

Natürlich ist es einfacher, ein Museum an einem Ort mit einem Team zu leiten. Ich bin keine Verfechterin von Museumsfusionen, halte das nicht für eine ideale Lösung. Dass Sachsen nicht mehr die Mittel hatte, die drei Museen unabhängig leiten zu lassen, war mir von Beginn an bewusst, aber dennoch ist es nicht einfach und bedarf einer kontinuierlichen Auseinandersetzung. Drei Völkerkundemuseen in einem Bundesland sind in Deutschland einzigartig. Die drei Museen sind bereits 2004 aus finanziellen Erwägungen fusioniert worden, auch um zu vermeiden, eines der drei Museen dauerhaft schließen zu müssen. In den Niederlanden ist übrigens im April 2014 das Museum of World Cultures ebenfalls aus der Fusion dreier Museen, dem Völkerkundemuseum in Leiden, dem Tropenmuseum in Amsterdam und dem Afrika Museum in Berg en Dal entstanden.

»Ich möchte in einer Ausstellung Vielstimmigkeit zeigen.«

Slavkiller Zeremonialaxt, Sammlung Gustav Klemm  | © Foto: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Foto: Karin Wieckhorst
Was muss ein Museum für Weltkulturen leisten, um heute attraktiv zu sein?

Alle Museen müssen sich heute fragen, welche Rolle sie im 21. Jahrhundert spielen wollen. Wir müssen eine neue Art von Museum erfinden, ein Forum und Ort der Multiperspektivität und Mehrstimmigkeit schaffen. Es ist spannend, „Türen auf“ zu machen und beispielsweise Künstlern Raum in einer Dauerausstellung zu geben, weil sie immer mit einer ganz anderen Sicht auf die Ausstellung schauen. Ich denke, es ist entscheidend für unsere traditionellen Kulturinstitutionen, Künstlern zu erlauben, in aller Freiheit mit unserer Weise des Ausstellens zu „spielen”, um neue Wege für das Zeigen und Erzählen zu finden. Aber das gilt nicht nur für Künstler, sondern auch für Musiker, Tänzer, Schriftsteller, Denker und Forscher aus der ganzen Welt. Genau das ist die Idee unserer Reihe „GRASSI invites“. Bei der ersten Ausstellung der Reihe haben wir mit 27 Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst zum Thema „fremd“ zusammengearbeitet. Ich mag diese künstlerischen Auseinandersetzungen, auch wenn sie einige Besucher verstören können. Aber zumindest rufen sie Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten hervor und können bewirken, dass wir über unsere tief verwurzelten Gewohnheiten nachdenken. Ich bin davon überzeugt, dass das Kombinieren und Zusammenführen von Künstlern, Kuratoren und Forschern mit ihren sehr unterschiedlichen Hintergründen, Sicht- und Arbeitsweisen in einem Ausstellungsraum zu einer neuen Art von Ausstellung führen kann. Grenzen verwischen und Sichtweisen durchmischen sind Methoden, das Museum lebendiger und dynamischer zu machen.

Diese Museen enthalten Ausstellungsstücke aus vielen Ländern und aus ganz unterschiedlichen Zeiten. Was macht man nun damit?

Rund 80 Prozent des Sammlungsbestandes der Museen für Weltkulturen wurde in sehr kurzer Zeit gesammelt und kam vor Ende des Ersten Weltkriegs in deren Besitz.
In Zeiten von Migration und Globalisierung sehen sich die Museen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die heutige Gesellschaft veranlasst. Dabei tragen unterschiedliche Interessengruppen sehr verschiedene Erwartungen an eine Institution heran. Die Museen besitzen überwiegend historische Sammlungen von Objekten und haben gleichzeitig die Aufgabe, nicht nur die Vergangenheit, sondern insbesondere auch die Gegenwart der verschiedenen Kulturen zu vermitteln. Das ist eine der wichtigsten Aufgabenstellungen, vor denen die Museen für Weltkulturen stehen. Zuallererst muss über die Geschichte des Sammelns gesprochen werden. Wie kamen diese Objekte hier nach Europa? Anschließend werden die historischen Gegenstände in Sonderausstellungen, durch Intervention in der Dauerausstellung, durch Videoarbeiten in den Kontext zu aktuellen Themen gebracht. Ich habe bis heute noch kein Museum kennengelernt, welches dafür wirklich eine überzeugende Umsetzung gefunden hat. Um das zu erreichen, muss vielleicht wieder gesammelt werden. Aber können heute beispielsweise noch sakrale Objekte gesammelt werden? Ich bezweifele das. Dagegen können wir mit Source-Communities oder auch mit Künstlern aus den Herkunftsländern der Sammlungsobjekte Projekte verwirklichen, in denen eine aktuelle Beschäftigung mit den historischen Objekten mittels Film oder Videoarbeit stattfindet.
Seit 25 Jahren ist die ethnologische Museumslandschaft in Europa stark in Bewegung. Manche sprechen sogar von einer grundsätzlichen Krise des Völkerkundemuseums. Ich komme aus Frankreich und habe dort sehr lange für das Musée Quai Branly gearbeitet, das 2006 aus der Fusion zweier Museen entstanden ist. Dort hat man sich schon vor Jahren gefragt, was die Zukunft eines ethnologischen Museums ist. Dieselbe Fragestellung besteht heute für das Humboldt-Forum, das diese Diskussion in Deutschland stimuliert. Jacques Hainard war Direktor des ethnografischen Museums von Neuchâtel. Er ist in Deutschland kaum bekannt. Er war ein Vorreiter und hat in diesem Schweizer Museum bereits in den 80er und 90er Jahren hervorragende, experimentelle Ausstellungen zu dieser Thematik verwirklicht. Er fragte in den Ausstellungen: Was ist Zeit? Was bedeutet die Darstellung von Kulturen? Wie funktioniert das? Was ist die Rolle von Europa in einem ethnografischen Museum?

»In Zeiten von Migration und Globalisierung sehen sich die Museen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung für die heutige Gesellschaft veranlasst.«

Nkisi Manjaka, 19. Jh., Republik Kongo, Sammlung Robert Visser | © Foto: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Foto: Esther Hoyer
Sie haben vorher am Musée Quai Branly gearbeitet und konnten dort viel Erfahrung sammeln. Wie konzipiert man nun hier in gleich drei Museen interessante Ausstellungen und weckt Besucherinteresse?

Heute kann ich zunächst genauer über das GRASSI Museum in Leipzig sprechen, da wir in Dresden erst im September 2016 mit unseren Ausstellungstätigkeiten beginnen werden. Genauso wie ethnografische Objekte von einem künstlerischen/ästhetischen Standpunkt aus betrachtet werden können, können westliche Kunstwerke aus einer anthropologisch-ethnologischen Sichtweise gezeigt und interpretiert werden.
Ins GRASSI Museum in Leipzig haben wir in der Reihe „GRASSI invites“ 27 Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst eingeladen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Dauerausstellung auseinandergesetzt haben. Dabei ist eine breite Palette von Werken entstanden, die sehr inspirierend sind. Aber die Menschen sind noch nicht daran gewöhnt, und deshalb sind einige Besucher auch etwas schockiert darüber. Es ist eine sehr kritische Auseinandersetzung (mit der Frage): Wie werden sogenannte „fremde“ Kulturen im Museum dargestellt?
Ich möchte in einer Ausstellung Vielstimmigkeit zeigen. Es kann nicht mehr so sein, dass nur ein Museum die Wahrheit darstellen kann und es darüber hinaus auch nur diese eine objektive Wahrheit gibt. Nein, es besteht eine Vielfalt von Stimmen, und diese verschiedenen Blickweisen sind eingeladen, sich mit unseren Exponaten, mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen.

Kifwebe Maske der Songye, Kongo  | © Foto: Völkerkunde Museum Dresden, Foto: Alena Drahokoupilova
Die Dauerausstellung hat ja was Überwältigendes, aber ist auch sehr düster. Man sieht vergangene Lebensräume und Gewohnheiten verschiedener Kulturen. Aber all das muss vermittelt werden.

Es geht nur über Vermittlung. Im Falle des Bunga-Hauses in der Dauerausstellung wurde mit Menschen aus der Region Kuch im indischen Bundesstaat Gujerat, d.h. mit Menschen aus Herkunftsländern zusammenarbeitet. Das ist interessant, aber die Figurinen, die in diesem Zusammenhang platziert wurden, schafften eine Distanz zwischen dem sogenannten „Wir“ und „Ihr“. Was ist das „Wir“? Wir, die sogenannten „Deutschen“ und die anderen „Nicht-Deutschen“? Wurde bei dieser Präsentation auch verständlich, dass dafür Menschen extra aus Indien angereist sind, um ein Bunga-Haus im Museum zu bauen? Wir haben vor zwei Wochen eine kleine Video-Installation im Bunga-Haus verwirklicht und diese soll künftig noch weiter ausgebaut werden. Das Gesamtprojekt „Bau eines Bunga-Hauses im Museum“ ist interessant: Es wurden Geldmittel beschafft, um das Bunga-Haus mit Menschen aus Kuch verwirklichen zu können. 2007 wurde gefilmt, wie diese Menschen nach Leipzig gekommen sind und das Haus gebaut haben. Wie und aus was ist das Haus gebaut worden? Wie leben die Menschen in Kuch heute? Gibt es in Kuch neben der traditionellen auch eine andere Architektur? Es gab ein Erdbeben in Kuch. Was ist danach passiert? Es gibt so viele aktuelle Themen im Zusammenhang mit dem Bunga-Haus, die viel mehr in den Fokus gebracht werden müssen.

Wie muss nun ein ethnologisches Museum heute aussehen? Wie eine Blick in die Vergangenheit? Oder wie ein Kunstmuseum?

Das Museum des 21. Jahrhunderts muss Raum geben für Subjektivität. Objektivität ist eine Illusion, insbesondere in der Ethnologie, aber im Allgemeinen auch in den Humanwissenschaften. Ein Museum muss die Grenzen zwischen „Kunst-“ und „Nicht-Kunst-“Museen, zwischen verschiedenen Medien (Skulptur, Malerei, Video etc.), Genres, Zeiten und Orten verwischen. Ich bin davon überzeugt, dass die Unterscheidung zwischen den sogenannten „Völkerkunde-Museen“ und den sogenannten „Kunstmuseen“ nicht mehr funktioniert und längerfristig ganz verschwinden wird. Was ist ein Kunstmuseum? Viele Kunstmuseen machen heute auch kulturhistorische Ausstellungen. Ich bin gegen diese Klassifizierung. Wir machen ein Museum, in dem über Ethnologie, über Philosophie, kulturhistorische Aspekte und historische Aspekte – interdisziplinär – gesprochen werden kann. Die jetzige Dauerausstellung stellt auch eine Identität des GRASSI dar. Aber schon nach der kleinen Veränderung beim Bunga-Haus werden dem Besucher bisher verborgene Aspekte mehr sichtbar. Wir können anhand dieses Hauses über Umwelt sprechen, über die Architektur in Erdbebengebieten. Wenn sehr traditionelle Häuser in einer Ausstellung präsentiert werden, muss gleichzeitig nach den modernen Häusern, mit modernen Wohnzimmern in den jeweiligen Ländern und Regionen gefragt werden. Was ist ein modernes Wohnzimmer beispielsweise in Lagos? Auch die großen Fernseher und barocken Sofas können gezeigt werden. Es sollte auch erzählt werden, dass Lagos in Nigeria 22 Millionen Einwohner hat und dass dort überhaupt nicht mehr so gelebt wird, wie es ausschnitthaft in der heutigen Dauerausstellung im GRASSI im Bereich „Afrika“ gezeigt wird. Auch mit der Medienvielfalt sollte in der Dauerausstellung gespielt werden. Die Kombination verschiedener Darstellungsformen ist eine tolle Möglichkeit.

»Die Museen besitzen überwiegend historische Sammlungen von Objekten und haben gleichzeitig die Aufgabe, nicht nur die Vergangenheit, sondern insbesondere auch die Gegenwart der verschiedenen

tino-Figuren, Atoll Nukuoro, Mikronesien, Sammlung Godeffroy  | © Foto: GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig, Foto: Karin Wieckhorst
Im Grassi Museum hat man den Eindruck, alles wird ausgestellt. Man müsste, folgt man Ihren Vorstellungen, den größten Teil in einem Depot lagern und dann daraus schöpfen und immer neue Zusammenhänge herstellen.

Das ist ein Ansatz. In Leipzig umfasst die Dauerausstellung heute 4300 Quadratmeter. Ich bin kein Befürworter von Dauerausstellungen, da Inhalte, Themen und Präsentationsformen in einer Dauerausstellung heute sehr schnell von aktuellen gesellschaftspolitischen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklungen überholt werden.
Das Museum Dahlem in Berlin hat sehr lange funktioniert. In den 70er Jahren war es sehr modern. Es war wunderbar und hat eigentlich 25 Jahre lang gut funktioniert. Heute ist es nicht mehr möglich, eine Ausstellung für 25 Jahre zu konzipieren. Ich glaube vielmehr an flexible Dauerausstellungen, die man schnell verändern kann, in der Schwerpunkte gesetzt werden können. Für die zukünftige Dauerausstellung im GRASSI Museum möchte ich die Anzahl der Objekte merklich reduzieren, damit die Objekte tatsächlich wahrgenommen, über sie etwas gelernt werden kann. In der heutigen Ausstellung sind so viele Objekte, dass teilweise sowohl die Texte nicht mehr lesbar als auch die Objekte nicht mehr sichtbar sind. Es gibt so wunderbare Objekte, die, solitär platziert, viel mehr ausstrahlen als fünfundzwanzig nebeneinander. Ich möchte, dass die Besucher verstehen lernen, was eine Sammlung ist. Vielleicht können wir ein Schaudepot realisieren, in dem wir die Frage stellen: Was wurde in den letzten zwanzig Jahre gesammelt? Was hat man 1880 gesammelt? Das waren viele Speere etc. Und in den 20er Jahren bestand viel mehr Interesse für menschliche Figuren. Das stellt schon mehr einen ästhetischen Ansatz dar. Ich möchte, dass nachvollziehbar wird, dass sich der ethnografische Geschmack im Laufe der Jahre gewandelt hat. Wir werden folglich die Ausstellung ändern durch Schaudepots, durch Räume, in denen man einfach nur sitzen und auch Musik hören kann, in denen auch multimediale Stationen eingerichtet werden, in denen über Tanz und Musik informiert wird und vieles mehr. Es können auch Einzelinterviews zu hören und zu sehen sein. Wie zum Beispiel ein Gespräch mit einem Voodoo-Priester aus Lagos und einem Einwohner aus einem kleinen Dorf oder mit einem Politiker oder Schriftsteller.

Auf der einen Seite sind die historischen Bestände des Museums. Der Besucher soll erfahren, woher sie kommen und in welchem Kontext diese Sammlungen entstanden sind. Wer waren eigentlich die Sammler? Das waren Missionare, Kolonialbeamte, Ethnologen und Kaufleute. Es gibt eine große Bandbreite von Sammlerportraits, mit deren Hilfe sehr viel über Geschichte gelernt werden kann, aber auch über heutigen Themen wie Globalisierung und Migration, um schließlich auf diese Weise aus dem Museum etwas Lebendiges zu machen. Zum Thema Zeit möchte ich im Japanischen Palais in Dresden eine Voodoo-Webcam installieren. Dazu werde ich nächstes Jahr einen Voodoo-Priester aus Süd-Togo einladen, mit dem ich schon gearbeitet habe. Er wird im Japanischen Palais einen Voodoo-Altar aufbauen. Und nachdem er dann zurück ist in Lomé, kann ihm der Besucher per Webcam Fragen stellen. Gleichzeitig an verschiedenen Orten mit diesem Mann ins Gespräch zu kommen und ihm Fragen zu stellen, ist ein Aspekt, der mich sehr interessiert. Er spricht Französisch, und wir brauchen einen Dolmetscher, was alles technisch sehr aufwändig ist, aber dieses Experiment müssen wir eingehen, um Zeit- und Sprachbrücken zu überschreiten. Für die Besucher ist wichtig zu erfahren: Was ist heute ein Voodoo-Priester in Lomé? Wer sind seine Klienten? Was sind das für Menschen, die einen Voodoo-Priester aufsuchen? Wie ist die Mischung der Religionen in Togo?

Die Religionen sind ein naheliegendes Thema, um Brücken zu anderen Kulturen aufzuzeigen. Wie ist es mit den anderen Objekten, die ein Völkerkundemuseum ausmachen? Jeder Gegenstand erzählt Geschichten. Wie kann man das vermitteln, um diese Museen attraktiv zu machen? Wie kann man die Hemmschwelle aufheben?

»Wie kommen die Pegida-Anhänger ins Museum? Das ist nicht so einfach. Die gehen nicht in ein Museum für Weltkulturen. Aber ihre Kinder und die Schulklassen gehen hin. Und ich glaube, ein Kind

Gesichtsmaske der Dan Elfenbeinküste  | © Foto: Völkerkunde Museum Dresden, Foto: Alena Drahokoupilova

Ich habe in Straßburg eine Ausstellung über Voodoo gemacht. Straßburg ist keine sehr kosmopolitische Stadt. Voodoo wird oft mit Hollywood-Voodoo mit Blut und Haiti assoziiert. Das Imaginative ist ganz wichtig. Wie kann vermittelt werden, dass Voodoo etwas ganz Einfaches ist und wir alle das gleiche Bedürfnis haben? In einer Vitrine gibt es ein Objekt, das ein verstorbenes Kind darstellt. In Südwest-Afrika, Benin, Togo, Nigeria und auch Ghana gibt es den Glauben, dass, wenn bei Zwillingen ein Kind stirbt, das sehr gefährlich sein kann. Die Mutter muss sich dann mit dem Kind im Reich der Toten beschäftigen. Dann wird eine kleine Figur geschnitzt, die die Mutter zusammen mit dem lebenden Kind herumträgt, sie kleidet, füttert und für diese singt. Das ist natürlich sehr psychologisch. Wie geht man mit einem Verstorbenen um? Wie geht eine Mutter mit dem Verlust eines Kindes um? Das Kind aus Holz ist ein Ersatzkind. Es geht darum: Wie geht man mit seiner Trauer um? Wir haben eine solche Figur ausgestellt. Daneben zeigten wir ein Interview mit einer Frau aus Togo, die ihre Zwillingsfigur in der Hand hielt und ihre Geschichte erzählte. Es gab auch jemanden, der live erzählte, wie Voodoo in Togo gelebt wird und über den Umgang mit Trauer. Dann kamen Besucher, die erzählten, dass sie auch Gegenstände hätten, die sie an etwas Besonderes erinnerten. Besucher haben in der Ausstellung geweint. Am Ende ging es nicht mehr um eine Voodoo-Ausstellung, sondern über die Bewältigung von Trauer.

Das ist eine leichte Brücke.

Ja, aber am Anfang dachte der Besucher, er gehe in eine exotische Voodoo-Ausstellung. Was ich sagen möchte ist, man kann immer in einem sehr spezifischen Kontext etwas finden, das man mit anderen teilt. So kann man das auch mit Musik machen. Was teilt die afrikanische Musik mit der Jazzmusik? Wie ist die afrikanische Musik in den Jazz gekommen? In Antwerpen gibt es „Das Museum am Strom“. Dort gibt es eine Ausstellung über Buddhismus. Dort geht es nicht nur um den exotischen Buddhismus, sondern auch darum, was Buddhismus in Antwerpen ist. Es gibt Exponate aus dem 19./20. Jahrhundert, und gleichzeitig vermittelt man dort mit Interviews, wer in Antwerpen Buddhist ist und wie Buddhismus gelebt wird. Ein Museum muss immer auch eine Verbindung zu der jeweiligen Stadt herstellen, in der es sich befindet.

Ihre Ausstellung in Leipzig könnten Sie ebenso gut hier in Dresden zeigen. Sind die Exponate der Sammlungen beider Städte ähnlich, oder unterscheiden sie sich stark?

Ja, ich glaube schon. Auch die Besucher unterscheiden sich. Wir haben in Dresden in der Mehrzahl noch ein eher klassisches Publikum. In Leipzig ist es, vermute ich zumindest heute, ein etwas jüngeres Publikum. Dort könnten Ausstellungen über Manga oder Body-Art wunderbar funktionieren. Hier in Dresden sollten wir zunächst den ästhetischen Aspekt mehr in den Mittelpunkt rücken. Die Künstlergruppe „Die Brücke“ hat damals im Museum für Völkerkunde in Dresden die Objekte entdeckt, die sie inspirierten. In Paris funktionierte es, über die moderne Kunst eine Brücke zu den Besuchern zu bauen. Im Japanischen Palais geht es um Ästhetik, um Einzelobjekte, aber auch die Objektbiografie, die Geschichte ist wichtig.

Gibt es hier denn einen anderen Sammlungsschwerpunkt?

In Dresden haben die Kurfürsten gesammelt. Deshalb besitzen wir, wenn auch zu einem geringen Prozentsatz, Objekte aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Diese sind sehr selten, und wir werden sie natürlich zeigen. Dass Sachsen schon vor der Globalisierung global war, ist auch sehr interessant. Es gab z.B. die ersten globalen Kontakte unter August dem Starken. Es ist unglaublich spannend, diese Geschichte der Sammlung darzustellen. Diese Ausprägung weist die Leipziger Sammlung nicht auf. Dort stammt die Sammlung im Wesentlichen aus dem 19. und Anfang 20. Jahrhundert.

Stehen die barocken Ausstellungsstücke nicht zum größten Teil auch in anderen Museen? Wie zum Beispiel die Porzellansammlung?

Das Porzellan ja. Aber wir haben noch einen beträchtlichen Teil aus Afrika, wie zum Beispiel aus West-Afrika afro-portugiesische Elfenbeinlöffel. Das ist sehr interessant. Damit können wir über die Kontakte zwischen Afrika und Portugal sprechen. Wir können über die Sklaverei und über die erste globalisierte Welt sprechen. Die Portugiesen sind mit Zeichnungen und Grafiken nach Westafrika gegangen und haben diese Grafiken dort gezeigt. Die Menschen an der Westküste haben die Jagd- und Waldszenen gesehen und sie in ihren Elfenbeinarbeiten nachgeahmt. Diese Mischung aus afrikanischen und europäischen Welten ist natürlich sehr spannend. Wie war Afrika in der europäischen Phantasie und wie Europa in der afrikanischen? Das sieht man in diesen Elfenbeinstücken.

Einst war Dresden eine multinationale Stadt, und heute erlebt man eine extrem konservative politische Gesellschaft. Muss ein Weltkulturenmuseum sich damit auseinandersetzen?

Ja, ein Museum für Weltkulturen muss auch gegen diese Fremdenfeindlichkeit antreten. Das geschieht im GRASSI Museum in Leipzig bereits. Wir veranstalten viele Formate über die Ausprägungen des Islam heute. Eine Veranstaltungsreihe nennt sich „Salam Deutschland: Islam im Grassi“. Die Veranstaltungen stoßen bei den Besuchern auf großes Interesse. Diese Formate und Reihen möchte ich auch gerne in Dresden umsetzen. Wir müssen uns darauf konzentrieren und zeigen, dass Dresden im Barock und bis in die zwanziger Jahre eigentlich eine weltoffene Stadt war. Mit diesem Thema können wir auch humorvoll spielen. Man kann einerseits den Stolz auf die Errungenschaften und Schätze der Stadt hervorheben, aber gleichzeitig gäbe es das Meißener Porzellan nicht ohne das chinesische. Das muss noch glaubwürdiger vermittelt werden durch Ausstellungen und Veranstaltungen. Und es gibt hier im Japanischen Palais ein wunderbares Damaskus-Zimmer aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

Vergleichbar mit dem Berliner Damaskus-Zimmer?

Ja, aber unser Zimmer ist sogar noch schöner. Weltweit sind nur sehr wenige dieser Damaskus-Zimmer erhalten. Seit Jahren wird es von Grund auf restauriert und soll 2017 fertig gestellt sein. Damaskus war eine Stadt, in der die drei großen Religionsgemeinschaften, Juden, Christen und Muslime, lange Zeit harmonisch zusammenlebten. Unser Damaskus-Zimmer möchte ich zum Mittelpunkt von Veranstaltungen machen. Viele syrische Flüchtlinge besuchen heute das Damaskus-Zimmer in Dresden. Dort finden Veranstaltungen statt, und dabei kann Tee getrunken werden. Im Moment sind diese Veranstaltungen nur über Gruppenreservierungen buchbar. Erst wenn wir das Museum wieder eröffnen, ist das Damaskus-Zimmer für alle Besucher zugänglich. Besonders wichtig finde ich in Museen für Weltkulturen, dass der Besucher persönliche Kontakte erleben kann. Das können keine Objekte, keine Exponate ersetzen. Das ermöglichen Mediatoren, die über ihre eigene Welt und die Objekte sprechen. Besonders müssen wir uns um den Islam in unserem Museum im Japanischen Palais kümmern. Dabei ist Bildung und Vermittlung ganz wichtig. Wie kommen die Pegida-Anhänger ins Museum? Das ist nicht so einfach. Die gehen nicht in ein Museum für Weltkulturen. Aber ihre Kinder und die Schulklassen gehen hin. Und ich glaube, ein Kind wird am Abend nach Hause kommen und wird seinen Eltern über seine Erfahrung in diesem Museum erzählen. Dabei kommt vielleicht ein Gespräch zustande. Deshalb ist für mich die Zielgruppe der 13- bis 14jährigen sehr wichtig. Diese möchte ich ins Museum holen. Das ist natürlich die schwierigste Zielgruppe, denn Jugendliche in diesem Alter gehen eigentlich überhaupt nicht ins Museum. Deshalb werden wir über Mangas und Body Art sprechen. Auch die Jugendweihen sind in Sachsen ganz wichtig. Deshalb werden wir Initiationsriten in der Welt thematisieren. Wir arbeiten auch viel mit „DAZ-Klassen“, was „Deutsch als zweite Sprache“ bedeutet. In diesen Klassen sind auch viele Flüchtlingskinder vertreten. Die kommen zu uns und können sich anschließend gemeinsam mit den deutschsprachigen Schülern über ihre Erfahrungen im Museum austauschen. Und im Hintergrund muss auch das Team eines solchen Museums international sein. In Zukunft müssen wir versuchen, unser Team so gut wie möglich zu internationalisieren.

Das klingt alles ganz schön, aber das kostet auch viel Geld. Wie steht es eigentlich um die Finanzierung des Museums?

Ich komme aus Paris aus einem Museum, in dem es viel Geld gab. Am Anfang habe ich daran gezweifelt, dass man mit dem hier vorhandenen Budget etwas Gutes verwirklichen kann. Aber viel Geld kann auch zur Folge haben, dass die Kreativität ein bisschen verloren geht. Ich glaube, es kann dennoch funktionieren, wenn man mit Künstlern, mit Studenten arbeitet.
Warum muss man unbedingt sehr schöne, aber auch sehr teure Vitrinen haben? Wir müssen ein neues Museumsdesign finden, das nicht so viel kostet. Es gibt heute so viel interessantes Design, daher bin ich sicher, dass wir eine neue Gestaltung finden werden. Aber auch das kostet Geld. Also muss ich sehr viel mit Drittmitteln finanzieren. Jedesmal, wenn ich eine Sonderausstellung verwirkliche, denke ich daran, eine Installation daraus später in der Dauerausstellung zu integrieren. Damit das gelingt, müssen Experimente möglich sein, und es darf keine Angst vor sehr schnell zusammengestellten Ausstellungen bestehen. Die nächste Sonderausstellung in der Reihe „GRASSi invites“ thematisiert „Flucht“ und das „Dazwischen-Gefühl“. Was ist das, wenn man nicht in seinem eigenen Land lebt, aber auch noch nicht ganz angekommen ist? Was ist Nostalgie? Was ist Heimweh? Und gibt es Objekte, die uns an unsere Heimat erinnern? Was ist Heimat? Ist das ein Ort? Darüber machen wir eine Ausstellung. Das machen wir mit Flüchtlingsgemeinschaften, mit Künstlern und das alles für sehr wenig Geld. So müssen wir anfangen zu experimentieren, statt zu sagen, wir haben zu wenig Geld und machen deswegen lieber nichts. Das geht über die Zusammenarbeit mit Kunsthochschulen, Universitäten und Designern, die vielleicht neue Methoden und Materialien kennen. Ich lasse mich gerne auch von zeitgenössischen Ausstellungen inspirieren, in denen ich häufig eine ganz neue Gestaltung mit einfachen Mitteln entdecken kann. So versuche ich, Wege zu finden, trotz knapper Ressourcen interessante Projekte und Ausstellungen zu verwirklichen.

Letzte Änderung: 17.08.2021

Nanette Jacomijn Snoep  | © Foto: Vera Marusic
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