Filme als Symptome einer komplexen Wirklichkeit

Filme als Symptome einer komplexen Wirklichkeit

Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser
Thomas P. Elsaesser | © Privat

Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser, der 2019 in Peking starb, war nicht nur Regisseur, Drehbuchautor und Professor für Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität von Amsterdam; er hat mit seinen Büchern und Essays die Filmtheorie, die Medienarchäologie und die Neuen Medien bereichert. Konrad Elsässer, sein Vetter, erinnert sich an Begegnungen mit ihm und an gemeinsame Projekte.

Am 22. Juni 2023 wäre Thomas Elsaesser 80 Jahre alt geworden, wäre er nicht schon am 4. Dezember 2019 in Peking gestorben. Damals war ich noch kurz vor seinem Tod mit ihm zum Gespräch im Deutschen Film-Museum (DFF), um über einen Vorlass seiner Sammlungen und Arbeiten zu sprechen. Ich war erstaunt über die Fülle und Breite seiner filmwissenschaftlichen Aktivitäten, von denen ich bis dahin nur ein Buch gelesen hatte. Aus diesem geplanten Vorlass ist nun ein umfangreicher Nachlass für das Museum und für die Martin-Elsaesser-Stiftung geworden.
 
Nach einem Aufruf gegen die Zerschneidung der Frankfurter Großmarkthalle habe ich Thomas zum ersten Mal 2007 getroffen. Auf der Basis dieses Aufrufs hat er als Enkel des Architekten Martin Elsaesser zusammen mit seiner Schwester Regine den juristischen Prozess gegen die Europäische Zentralbank geführt. Der Prozess endete mit einem Vergleich und der Gründung der Martin-Elsaesser-Stiftung im Dezember 2009. Kennengelernt habe ich meinen kosmopolitischen Vetter zweiten Grades Thomas erst im Zuge dieser Gründungsphase, als Gesprächspartner, Entscheider und Stifter.

Orte

Martin Elsaesser: Kirchenbauten, Pfarr- und Gemeindehäuser

Thomas lebte in New York und Amsterdam und an vielen unterschiedlichen Orten in der Welt – auf Konferenzen und wissenschaftlichen Veranstaltungen. Nun kam für ihn Frankfurt als weiterer Ort dazu. Immer wieder bin ich überrascht worden, wie viel er über diese Stadt wusste und wie viel er sich mit dem Neuen Frankfurt beschäftigt hatte. Eine erste Überraschung war, dass er mit einem Beitrag und mit dem Vollzug der Stiftungsgründung die Ausstellung über Martin Elsaesser 2009-2010 im Deutschen Architekturmuseum (DAM) ermöglicht hat. Sein kluger Aufsatz im Katalog hat sich zugleich als breiter Umriss nachfolgender Forschungen und Aktivitäten erwiesen. 
 
2012-2013 haben wir zusammen verschiedene Ortserkundungen in Württemberg durchgeführt und vor allem die Kirchengebäude von Martin Elsaesser gemeinsam aufgespürt und besichtigt. Daraus ist dann die Neuauflage des Kirchenbuchs von Elisabeth Spitzbart und Jörg Schilling geworden mit den Fotos von Rose Hajdu, und ebenso resultierte daraus die Ausstellung über die Elsaesser-Kirchen, die 2012 in Augsburg eröffnet  wurde.  Als international versierter Wissenschaftler und Professor emeritus hat Thomas die Verbindungen zu Architekturfakultäten und Universitäten aktiviert, zu München, Stuttgart, Dortmund, Hamburg. Er hat die Edition der Schriften von Martin Elsaesser projektiert und ermöglicht, meist in Zusammenarbeit mit Jörg Schilling.

Familiengeschichte

Die jahrelange Beschäftigung mit der Familiengeschichte seines Großvaters Martin Elsaesser hat Thomas zu Entdeckungen von Briefen seiner Großmutter Liesel Elsaesser geb. Wilhelm und zu Leberecht Migge geführt. Daraus hat er ab etwa 2010 ihre Geschichte auf und mit der Sonneninsel im Seddinsee bei Berlin verfolgt. So entstand sein großer eigener Film, den er dann bis 2016 realisiert hat – für die Martin-Elsaesser-Stiftung ist es ein wichtiger Schatz, unschätzbar in vielerlei Beziehung. Thomas selbst hat gerne Konferenzen und Kinofestivals genutzt, um den Film zu zeigen und zu kommentieren. Aus der Beschäftigung mit dem Gartenarchitekten Leberecht Migge hat er auch den Anstoß gegeben für die große Berliner Ausstellung im Botanischen Garten und den Prinzessinnengärten 2019.
 
Wann immer Thomas hier in Frankfurt ankam, hatte er einen kleinen Rollkoffer dabei und sein Notebook. Immer mit leichtem Gepäck, oft nur mit einem dünnen Mantel bekleidet.
Er hatte noch viel vor und war sehr aktiv. 2025 eine Veranstaltung zum neuen Frankfurt, eine Biografie, die Sammlung seiner Publikationen, Kooperation mit dem Deutschen Filmmuseum u.a.
 
Thomas hat alles gegeben, was ihm gegeben war. Der Verlust ist groß. Wir spüren, wie sehr sein Leben uns beschenkt und reich gemacht hat, dafür sind wir dankbar.
Am 4. Dezember 2019 starb Thomas nach seiner Vorlesung in Peking, China.
Jetzt erinnern wir an ihn zu seinem 80. Geburtstag.

Film- und Präsentationsprogramm zum 80. Geburtstag von THOMAS ELSAESSER im Deutsches Filminstitut – Filmmuseum

Mit einem Archivgespräch über die Erschließung der wissenschaftlichen Sammlung Thomas Elsaessers, die das DFF im Jahr 2020 übernommen hat, geht es los, und zwar am Dienstag, 20.6., um 19 Uhr (Onlinetickets 5 / 3 Euro) im DFF-Archivzentrum (Eschersheimer Landstraße 121), Eintritt frei für Studierende. Eva Hielscher, Isabelle Bastian und Jens Kaufmann geben Einblicke in die Sammlung und erläutern ihren Wert für die Forschung. Alo Paistik präsentiert die Website zur Elsaesser-Sammlung, die derzeit im Auftrag des DFF entsteht und Vinzent Hediger gibt Auskunft, wie der gemeinsame Masterstudiengang Filmkultur und die Forschungsprojekte der Universität die Sammlungen im DFF-Archiv nutzen. Am Mittwoch, 21.6., findet im Kino des DFF ein Film- und Präsentationsprogramm statt:

Mi, 21.6., 18 Uhr:
ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN (1978)
Ein Zentralwerk im Schaffen von Harun Farocki, der darin die Entstehung des deutschen Industriekomplexes vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die 1930er Jahre und die Wurzeln des Faschismus darin untersucht. Historisch und thematisch mit Thomas Elsaessers Film von 2017, DIE SONNENINSEL, verwandt, zieht Farocki eine Parallele zwischen den industriellen Produktionsprinzipien und dem Filmemachen. „Das erste Mal habe ich einen seiner Filme auf einer Konferenz in Vancouver vorgestellt, nachdem ich eine 16mm-Kopie von ZWISCHEN ZWEI KRIEGEN am kanadischen Zoll vorbei geschmuggelt hatte“, erinnert sich Elsaesser, der den Film in dem 2004 von ihm herausgegebenen Buch „Harun Farocki: Working on the Sight-Lines“ umfassend analysierte.

Mi, 21.6., 20 Uhr:
Elsaesser-Würdigung und Website-Präsentation
Malte Hagener (Uni Marburg) über die Bedeutung von Elsaesser, Alo Paistik stellt die neue, vom DFF in Auftrag gegebene Website zur Sammlung Thomas Elsaesser vor. Eintritt frei.

Mi, 21.6., 21 Uhr:
DIE SONNENINSEL (2017)
Frankfurts Stadtbaurat Ernst May und Architekt Martin Elsaesser wurden in den 1920er Jahren zu Vorreitern des Neuen Bauens. Vor den Nazis floh May in die Sowjetunion, Elsaesser auf eine abgeschiedene Insel im Osten Berlins. Auf dieser „Sonneninsel“ begegnen Elsaesser und seine Frau dem Landschafts- und Gartenarchitekten Leberecht Migge, der dort seine Ideen der autarken Versorgung und des alternativen Lebens in der Praxis umsetzen wollte. In DIE SONNENINSEL erzählt Martin Elsaessers Enkel Thomas Elsaesser anhand bislang unbekannter Privataufnahmen vom erzwungenen Aussteigerdasein seines berühmten Großvaters und einer tragischen Ménage à trois.

  
 
Siehe auch:
Veranstaltung im Deutschen Filmmuseum

Letzte Änderung: 14.06.2023  |  Erstellt am: 29.05.2023


„Elsaesser gehört zu den Gründerfiguren der Filmwissenschaft. 1973, mit gerade dreißig Jahren, legte er mit „Tales of Sound and Fury“ einen langen Aufsatz zum amerikanischen Melodram der 1950er Jahre vor, der den Ausgangspunkt der akademischen Nobilitierung eines weiteren Exilanten bildete, des Regisseurs Douglas Sirk, und zugleich eines der Forschungsfelder begründete, mit dem sich die Filmwissenschaft als Fach zu etablieren vermochte. … Elsaessers Schülerinnen und Schüler prägen die Filmwissenschaft heute in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, den USA, aber auch in der Türkei und Indien.”
Vinzenz Hediger

Bücher von Thomas Elsaesser

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