Eine nationale Gefahr

Eine nationale Gefahr

Netanjahu darf keine Minute länger bleiben
Benjamin Netanyahu | © Foto: Avi Ohayon, commons.wikimedia.org

Politiker wollen gewählt werden. Deshalb versprechen sie gern, was das wählende Volk hören will. So überrascht es nicht, wenn sie nach dieser Logik mit der Wahrheit instrumentell umgehen, also gegen besseres Wissen sprechen. Es gibt, wie wir aus jüngster Vergangenheit wissen, darunter auch notorische Lügner, die es bis an die Spitze von Staaten geschafft haben. Der Psychiater und Psychoanalytiker Eran Rolnik rechnet Benjamin Netanjahu dazu.

Die Geschichte hat nicht darauf gewartet, dass in Israel ein Bürgerkrieg ausbricht. Und sie hat auch nicht auf das Ende des Korruptionsprozesses gegen Benjamin Netanjahu, auf das Ende seines Staatsstreichs von oben, die sogenannte Justizreform, und auf die Gerichtsentscheidungen über die Petitionen dagegen gewartet. Letzten Samstag wurde nun der „zweite Stiefel“ gegen die Wand geschleudert (Faust Kultur 12.09.23). Jetzt steht Israel vor der realen Gefahr des Zusammenbruchs. Wir kämpfen nicht mehr für die Verfasstheit des Landes, in dem wir leben, für sein Regierungssystem, sondern um seine Existenz.
Netanjahu darf diesen Krieg nicht führen. Der Mann, der in seinem Geist und seiner Persönlichkeit alles verkörpert, was im heutigen Israel krank und faul ist, darf jetzt nicht auf der Kommandobrücke stehen. Und das nicht nur, wie jedes Kind bereits erkennen kann, weil er für das Erstarken der Hamas und den Zerfall der IDF und der übrigen Regierungsinstitutionen verantwortlich ist. Netanjahu darf nicht vor Ort sein, wenn Israel um seinen Fortbestand ringt, weil er diesen Kampf vereiteln wird.

Die Israelis müssen verstehen, dass Netanjahu für die gegnerische Mannschaft spielt, für jede gegnerische Mannschaft. Er ist kein „Verräter“ im klassischen Sinn wie in Spionage- und Actionfilmen. Er ist vielmehr ein Verräter im metaphysischen und mentalen Sinn des Wortes.
Seit Jahrzehnten höre ich mir Netanjahus Reden an, achte auf seinen Sprachgebrauch, seinen Umgang mit Tatsachen und mit Menschen. Vor einigen Jahren schrieb ich in einem Artikel mit dem Titel „Sane and Abnormal“ („Haaretz“, 11.11.2016) über die perverse Haltung des israelischen Ministerpräsidenten zur Wahrheit. Damals konnte ich mir das Ausmaß der damit verbundenen Gefahr noch nicht vorstellen.
Im vergangenen Jahr haben viele meiner Kollegen auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie darüber debattiert, ob es angemessen und ethisch vertretbar sei, sich über Netanjahus Geisteszustand – sei es psychische Inkompetenz, eine Persönlichkeitsstörung oder sogar eine Krankheit – öffentlich zu äußern.
Mein Standpunkt lautete, dass es nicht Sache psychiatrischer Gutachten sei, das Publikum vor einem Politiker zu warnen. Über die Frage der Kompetenz eines demokratisch gewählten Ministerpräsidenten sollten lieber Politiker entscheiden, mangelt es doch in der Geschichte nicht an Beispielen hemmungsloser und völlig abnormaler Menschen, die ihr Volk zu großen Erfolgen führten. Nun hat sich die Situation allerdings geändert.

Das verräterische mentale Element in Netanjahus Persönlichkeit, verkörpert in seinem Hass auf die Wahrheit, ist eine nationale Gefahr. Wer die Wahrheit hasst, kann eine Nation im Krieg nicht zum Sieg führen, nur ins Verderben. Wer in der Schabbatnacht eine in Panik geratene Nation mit einer „Sondererklärung“ täuscht – in der er sich rühmt, mit zwei Familien gesprochen zu haben, für die die Welt zusammengebrochen sei, statt es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gleichzutun und die Familien der Gefangenen und Vermissten zu kontaktieren – wer also ein Stück Wahrheit nutzt, um eine untröstliche Nation anzulügen, darf keine Minute länger im Büro des Ministerpräsidenten bleiben.
Um den Krieg zu gewinnen, muss man den Unterschied zwischen Realität und Wunschdenken sowie zwischen Wahrheit und Lüge erkennen. Wie bereits erwähnt, war Netanjahus Verhältnis zur Wahrheit schon immer unklar.

Diejenigen, die ihn für einen ausschließlich von politischen Interessen geleiteten Machiavellisten halten, übersehen sein tiefes Bedürfnis, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, selbst wenn sie ihm keinen Schaden zufügen würde und ihre Unterdrückung ihm keinen politischen Vorteil verschafft. Ein Jahr, nachdem er behauptet hatte, der Mufti von Jerusalem habe Hitler auf die Idee gebracht, das europäische Judentum zu vernichten, erklärte Netanjahu, dass die Räumung jüdischer Siedlungen einer ethnischen Säuberung gleichkomme. Was diese beiden Aussagen und seine Andeutung, dass die an ihm geübte Kritik in der Haaretz mit der Nazivergangenheit eines ehemaligen deutschen Aktionärs der Zeitung zusammenhänge, vor allem miteinander gemeinsam haben, ist nicht, dass sie „die Wahrheit umgehen“, sondern dass sie sie als menschlichen Wert angreifen.

In den letzten Jahren scheint sich Netanjahu mit Wahrheiten und Tatsachen jeglicher Art zu überwerfen. Dies konnte man an der Art der Rechtsvertretung erkennen, die er in seinen persönlichen Gerichtsverfahren wählte, und an den Argumenten der Anwälte, die ihn im Rahmen der derzeit am Obersten Gerichtshof diskutierten Petitionen vertraten, ebenso wie an seiner Weigerung, seit Beginn der sogenannten Justizreform hohe Staatsbeamte zu treffen, die ihn vor der Gefahr warnen wollten, die von seinem Staatsstreich von oben für das Land ausgeht. Auch zeigt es sich in seiner Weigerung, von Medien und Journalisten interviewt zu werden, die nach der Wahrheit suchen, und in der zwanghaften Beschäftigung mit seinem Selbstbild und dem seiner Familie, die sich in der regen Photoshop-Branche um ihn und seine Frau niederschlägt. Es hat in Israel noch nie einen Ministerpräsidenten mit einem solchen Hass auf die Wahrheit gegeben. Netanjahu umgibt sich nur mit Heuchlern und Publizisten, die bereit sind, bei jeder Abscheulichkeit zu kooperieren und jede Botschaft, jeden Spin und jeden Bluff zu verbreiten, mit dem er die Wahrheit bekämpft – jedwede Wahrheit, auch wenn sie ihm persönlich gar nichts anhaben kann.

Jetzt mag nicht die Zeit für psychologische Befunde und wilde Analysen sein, und ich werde auch heute nicht so tun, als würde ich bei einer Person, die ich noch nie getroffen habe, eine Diagnose stellen. Und doch: Netanjahus Einstellung zur Wahrheit ist weder mit einer zwar unangenehmen, doch trivialen narzisstischen Charaktereigenschaft noch mit einem politischen Überlebensbedürfnis gleichzusetzen, sondern mit einer Art Sucht. Unter den extremen Umständen, die jetzt eingetreten sind, macht ihn dieses krankhafte Bedürfnis unfähig, das Land zu führen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er selbst das Gefühl gehabt haben mag, für eine nüchterne Auseinandersetzung mit der im Krieg herrschenden Realität nicht geschaffen zu sein, und sich daher in den vergangenen Jahren dagegen abzuschotten versuchte.

„Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit“, sagte Hiram Johnson, der Älteste der republikanischen Senatoren im US-Repräsentantenhaus am Vorabend des Atombombenabwurfs auf Hiroshima – ganz sicher sprach er sich damit nicht dafür aus, Lügner in Führungspositionen einzusetzen, um Kriege zu gewinnen. Israel, das sich seit mehr als 20 Jahren für ignorante, unfähige und betrügerische Politiker an der Spitze entscheidet, tritt in den komplexesten Krieg seiner Geschichte mit einem Ministerpräsidenten ein, der die Fähigkeit zu lügen über alle politischen und menschlichen Werte erhebt.
Ignaz Semmelweis war ein ungarischer Arzt, der im 19. Jahrhundert in Wien lebte und arbeitete. Er fand heraus, dass der Grund für die hohe Sterblichkeit von Müttern nach der Entbindung (die in einigen Krankenhäusern 90 Prozent erreichte!) darin lag, dass Medizinstudenten, ohne Hygienemaßnahmen zu ergreifen, nachdem sie zum Beispiel an Obduktionen teilgenommen hatten, oft im Kreißsaal assistierten oder auf die Neugeborenenstation gingen. Auch Operationen konnten damals durchgeführt werden, ohne zuvor die Hände zu reinigen. Bei Semmelweis’ Entdeckung handelte es sich um eine einfache wissenschaftliche Wahrheit. Aber er musste sie viele Jahre herausschreien, bis sie akzeptiert wurde. Sein einfacher Vorschlag, dass Studenten und Ärzte, die bei Entbindungen anwesend sind, ihre Hände desinfizieren sollten, bevor sie den Kreißsaal betreten, löste bei seinen Kollegen großen Widerstand aus. Trotz aller Daten und Forschungen, die Semmelweis’ Hypothese stützten, mussten viele Jahre vergehen, bis seine Entdeckung akzeptiert wurde. Offensichtlich war der Gedanke, mit einer simplen Vorsichtsmaßnahme die Chancen einer Frau auf eine möglichst risikolose Entbindung erhöhen zu können, für viele Ärzte, die anders verfahren waren, mit einer unerträglichen Beleidigung und einem Schuldgefühl verbunden. Menschen haben ein widersprüchliches Verhältnis zur Wahrheit, wenn diese mit einer schmerzhaften Erkenntnis über sie selbst einhergeht.

Wir dürfen nicht zulassen, dass sich eine solche Dynamik auch in Kriegszeiten entwickelt. Wir müssen das, was wir bereits wissen, in die Tat umsetzen: Die 16 Jahre unter Netanjahu haben Israel fast ins Verderben geführt. Jetzt einen lügnerischen Anführer das Heimatland retten zu lassen, ist so, als würde ein Mediziner heutzutage einen Kreißsaal oder einen Operationssaal betreten, ohne sich vorher die Hände zu desinfizieren.
 
 
 
 

Letzte Änderung: 30.10.2023  |  Erstellt am: 30.10.2023

Redekur | © Foto: Avi Ohayon, commons.wikimedia.org

Eran Rolnik Redekur

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Kommentare

Thomas Rothschild schreibt
Ich wünsche diesem Artikel weite Verbreitung und die Konsequenzen, die er fordert. Ich fürchte, meine Wünsche werden ebenso unerfüllt bleiben wie das stur wiederholte "Nie wieder!" Viel Rhetorik, wenig Wirkung.
Bernd Schwibs schreibt
Lieber Herr Rothschild, was für ein schöner wohlfeiler Wunsch. Sollte davor aber nicht doch darauf aufmerksam gemacht werden, daß es der barbarische Angriff der Hamas war, der genau diese Möglichkeit der Entfernung Netanjahus aus dem Regierungsamt auf perfideste Weise unterbunden hat, indem er die Anhängerinnen und Anhänger der Demokratiebewegung förmlich zwang, kriegsbedingt ihre Intentionen zurückzustellen. Ein weiteres: was meinen Sie mit "nie wieder"? Für mich hieß das immer schon: Nie wieder dürfen Juden auf bestialische Weise abgeschlachtet werden!
Ryszard Lempart schreibt
Die Psychoanalyse bietet jenen eine große Hilfe, die mit sich nicht im Reinen sind und sich deshalb vertrauensvoll an eine kompetente Person wenden, um sich besser zu erkennen und durch die Selbsterkenntnis zufriedener zu leben. Ihre Fähigkeit, ehrgeizige Menschen in ihrem Verhalten zu verstehen, die sich seelisch und geistig für gesund halten (wie Benjamin Netanjahu), ist jedoch aus meiner Sicht begrenzt. Ich teile voll und ganz die die Forderung des Autors, dass der heutige israelische Regierungschef so schnell wie möglich von der "Kommandobrücke" abtreten sollte. Die Erklärung für dessen politische Inkompetenz teile ich nicht. Es ist nicht der "Hass auf die Wahrheit", die den Ministerpräsidenten dazu veranlasst, permanent zu lügen, sondern seine tief verwurzelte Intention, Macht zu erlangen und an der Macht zu bleiben. Wenn man unter "Wahrheit" eine klare Sicht dessen versteht, was geschehen ist, was geschieht und was mit einem geschehen wird, wenn bestimmte Dinge herauskommen, die man eigentlich verbergen wollte (wie zum Beispiel, dass man von den geheimen Angriffspläne der Hamas gewusst hat, aber diese Informationen ignorierte), dann hasst Netanjahu die Wahrheit nicht. Vielmehr hat er Angst vor ihr. Auch wenn das scheinbar auf dasselbe hinausläuft, weil ein Lügner einfach ein Lügner bleibt, sehe ich einen wesentlichen Unterschied dazwischen, ob man die "Wahrheit" hasst oder ob man sich vor ihr fürchtet. Natanjahu handelt nicht aus emotionaler Verblendung (Hass), sondern aus kühlem Machtkalkül, aus Angst vor der Demaskierung.
Ryszard Lempart schreibt
Die Psychoanalyse bietet jenen eine große Hilfe, die mit sich nicht im Reinen sind und sich deshalb vertrauensvoll an eine kompetente Person wenden, um sich besser zu erkennen und durch die Selbsterkenntnis zufriedener zu leben. Ihre Fähigkeit, ehrgeizige Menschen in ihrem Verhalten zu verstehen, die sich seelisch und geistig für gesund halten (wie Benjamin Netanjahu), ist jedoch aus meiner Sicht begrenzt. Ich teile voll und ganz die die Forderung des Autors, dass der heutige israelische Regierungschef so schnell wie möglich von der "Kommandobrücke" abtreten sollte. Die Erklärung für dessen politische Inkompetenz teile ich nicht. Es ist nicht der "Hass auf die Wahrheit", die den Ministerpräsidenten dazu veranlasst, permanent zu lügen, sondern seine tief verwurzelte Intention, Macht zu erlangen und an der Macht zu bleiben. Wenn man unter "Wahrheit" eine klare Sicht dessen versteht, was geschehen ist, was geschieht und was mit einem geschehen wird, wenn bestimmte Dinge herauskommen, die man eigentlich verbergen wollte (wie zum Beispiel, dass man von den geheimen Angriffspläne der Hamas gewusst hat, aber diese Informationen ignorierte), dann hasst Netanjahu die Wahrheit nicht. Vielmehr hat er Angst vor ihr. Auch wenn das scheinbar auf dasselbe hinausläuft, weil ein Lügner einfach ein Lügner bleibt, sehe ich einen wesentlichen Unterschied dazwischen, ob man die "Wahrheit" hasst oder ob man sich vor ihr fürchtet. Natanjahu handelt nicht aus emotionaler Verblendung (Hass), sondern aus kühlem Machtkalkül, aus Angst vor der Demaskierung.

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