Ein Schiff im Meer

Ein Schiff im Meer

Zum Tod von Trude Simonsohn
Trude Simonsohn | © Historisches Museum Frankfurt

Eine Überlebende ist gestorben. Und wenn Trude Simonsohn nicht schon 100 Jahre alt gewesen wäre und damit zu den Unsterblichen zählte, und wenn andererseits die Wortbedeutung von „Überlebende“ nicht auf die größten Naziverbrechen wiese, wäre das nur paradox. Elisabeth Abendroth erinnert an die prominente Frankfurterin.

Damit Heutige daraus lernen können

„Zwei Schiffe segeln im Meer. Das eine verlässt den Hafen, das andere fährt in den Hafen ein. Alle jubeln dem auslaufenden Schiff zu. Das einlaufende Schiff wird kaum beachtet. Darauf sagte ein verständiger Mann: Feiert vielmehr das Schiff, das seine Reise vollbracht hat und – gerettet von den vielen Gefahren, denen es begegnete – zurückkehrt. Und beweinet das Schiff, das abreist und den Stürmen des unbeständigen Meeres entgegensegelt. So ist es auch im Leben. Wenn ein Mensch geboren wird, macht man ein Fest, und man weint, wenn er stirbt. Man sollte vielmehr weinen, wenn er geboren wird, da man nicht weiß, ob er wissen wird, die Gefahren des Lebens zu besiegen, und man sollte lachen, wenn er stirbt und einen guten Namen hinterlässt.“

Diesen Text aus dem Midrasch hat Trude Simonsohn, die am 25. März 2022 101 Jahre alt geworden wäre, bei der Steinsetzung für unseren unvergessenen, gemeinsamen Freund Karl Brozik vorgelesen. – Karl Brozik (04.02.1926 – 18.08.2004) war Jurist, Überlebender von Auschwitz und anderen Lagern, als Direktor der Claims Conference einer der Architekten der Entschädigung der Zwangs- und Sklavenarbeiter, Anfang dieses Jahrtausends. – Ein kleines, zerfleddertes Papier mit diesem Text hing jahrzehntelang sorgfältig gerahmt, hinter Glas, in Trudes Wohnzimmer im Frankfurter Grüneburgweg. Studenten ihres Mannes, des Sozialpädagogen und Jugendrechtlers Berthold Simonsohn (24.04.1912 – 08.01.1978), hatten es ihr nach dessen Tod im Januar 1978 geschickt.

Trude Simonsohn ist fast genau 44 Jahre später, am 6. Januar 2022 in Frankfurt gestorben. Ihr langes Leben, jedenfalls alles davon, das sie bereit war, öffentlich zu machen, liegt offen vor uns wie ein Buch. (Wir haben dies Buch übrigens zusammen gemacht, Trude und ich. Sie hat erzählt, ich habe recherchiert und geschrieben.) Es gibt Filme, Fernsehsendungen, Portraits in allen Medien von ihr. Sie hat immer wieder aus ihrem Leben berichtet, in Schulen, Universitäten, Synagogen, Archiven, Kirchengemeinden, Gewerkschaftsgruppen, Literatur- und Rathäusern. Damit Heutige daraus lernen können.

Trudes Leben hat in der Tat mit Jubel begonnen. Sie war ein von Eltern, Verwandten, Freunden und Kindermädchen geliebtes Wunschkind. Dieses glückliche Kind strahlte bis zuletzt aus ihren schönen, wachen Augen. Auch als sie die Sprache schon verloren hatte, teilte sie so ihr Glück mit anderen, mit Beate, ihrer Schwiegertochter, die ihr eine wunderbare Tochter war, mit Ludmila und Vlada, die sie liebevoll gepflegt haben, mit ihren Freundinnen, Uscha, Margareta, Erika und mir. Am Schluss war es nicht leicht für Trude – und für uns, die sie begleitet haben. Aber wir kehrten immer reich beschenkt zurück aus der Budgestiftung, in der sie ihre letzten Lebensjahre verbracht hat.

Dabei hätte man wirklich weinen können bei Trudes Geburt damals in Olomouc (Olmütz), hätte man gewusst, welch unvorstellbare Gefahren ihr begegnen würden: Ausgrenzung, Entrechtung, Enteignung, Verfolgung, Verhaftung nach dem Attentat auf Heydrich, Einzelhaft, Theresienstadt, Auschwitz. Ermordung des geliebten Vaters in Dachau, Ermordung der geliebten Mutter in Auschwitz. Dass Trude Simonsohn „die Gefahren des Lebens besiegt“ hat, ist ein Wunder. Warum habe ich überlebt? Das hat sie sich oft gefragt. „Wenn ich zurückschaue auf mein Leben, hatte ich viele Chancen, tot zu sein. Ich hatte Glück, trotz allem.“

Das Glück, der großen Liebe ihres Lebens, ihrem Mann Bertel in Theresienstadt zu begegnen und ihn nach dem Krieg wieder zu treffen, das Glück, ihren Sohn Michael zu bekommen, ihre Schwiegertochter, ihren Enkel David. Ihr Sohn hat gleich zwei von Trudes Träumen realisiert: Er studierte Sozialpädagogik und danach Medizin. Lange Jahre hat er als Internist in Frankfurt praktiziert. Trudes Schwiegertochter übernahm ihre Begeisterung für die WIZO und einige weitere ihrer ehrenamtlichen Aufgaben. Enkel David ist ein begeisterter Sportler – bei Makkabi Frankfurt. Die Nazis haben versucht, die Familien Gutmann und Simonsohn für immer auszulöschen. Dass ihnen das nicht gelungen ist, war Trude Simonsohn, geborene Gutmann, eine große Genugtuung.

Das Glück, immer wieder große, befriedigende, ihren vielfachen Begabungen und besonderen Fähigkeiten entsprechende Arbeitsaufgaben zu finden. Trude, sprachbegabt, sportlich, pädagogisch und naturwissenschaftlich interessiert, hat Kinder und Jugendliche unterrichtet und liebevoll erzogen, als Nachhilfelehrerin in Olmütz, als Lehrerin im Makkabi Hazair und in der Vorbereitung der Jugendaliyah, als Madricha in Theresienstadt in einer Mädchenkaserne, nach der Befreiung in Davos als Heimpädagogin für Kinder, die den Holocaust überlebt hatten, später in Frankfurt als Jugendschöffin und in der Jugendgerichtshilfe, danach jahrzehntelang als Zeitzeugin in Schulen und Universitäten.

Trude Simonsohn war darüber hinaus eine kenntnisreiche und begabte Pflegerin mit großen medizinischen Kenntnissen. (Sie hätte gern Medizin studiert. Das haben die deutschen Faschisten verhindert.) Davon profitierten ihre Leidensgenossen in Theresienstadt ebenso wie am Ende des Krieges, in den Tagen ihrer Illegalität mitgefangene Zwangsarbeiter; nach 1945 pflegte sie dann tuberkulosekranke Überlebende in einem Sanatorium in Davos.
Ihre besondere Fähigkeit des Netze-Flechtens und ihre ebenso charmante wie energische Überzeugungskraft nutzte sie nach Bertels Tod als Vorstandsmitglied und langjährige Vorsitzende des Gemeinderats der Jüdischen Gemeinde sowie bei der Realisierung von erinnerungspolitischen Projekten, die ihr besonders am Herzen lagen: die Johanna Kirchner Medaille, mit der die Stadt Frankfurt zwischen 1991 und 1995 überlebende Widerstandskämpfer_innen geehrt hat, das Fritz Bauer Institut, die Bildungsstätte Anne Frank, das Wollheim Memorial und schließlich die Umbenennung des Platzes, an dem die Goethe-Universität liegt, in Norbert Wollheim-Platz. Dabei mit ihr zusammenzuarbeiten, war eine wunderbare Erfahrung. Die deutsche Besatzung konnte Trude Gutmann daran hindern, Abitur zu machen und zu studieren – aber nicht daran, mit ihrer Arbeit die Welt nachhaltig besser zu machen. So kann man vielleicht doch sagen, dass sie „wusste, die Gefahren des Lebens zu besiegen“, wie es im Midrasch heißt.

Schließlich das Glück ihrer vielen guten Freundschaften: Die Chawerim aus dem Makkabi Hazair. die wunderbare Sonja Okun (1899 geboren, 1944 in Auschwitz ermordet), der sie in Theresienstadt begegnet ist – für die Erinnerung an sie hat Trude viel getan, mit Erfolg. Carmen-Renate Köper hat einen Film und ein Buch über Sonja Okun gemacht. Karl Brozik. Irmgard (24.03.1916 – 17.05.2017) und Heinz-Joachim (14.05.1916 – 15.12.1974) Heydorn, die im Widerstand gegen Hitler aktiv gewesen waren, die WIZO-Freundinnen. „Ihr müsst auf Freundschaft baun“ ist der erste Vers in der Schlusshymne der Kinderoper Bundibár, die in Theresienstadt mehrfach aufgeführt wurde. Trude hat Freunde gesammelt wie ihr Vater einst Briefmarken. In allen politischen und gesellschaftlichen Gruppen, bei allen Glaubensrichtungen, in allen Nationen sammelte sie. Quasi eine Vorwegnahme der klassenlosen Gesellschaft. – Dass mein Mann und ich zu Trudes Sammlung gehören durften, empfinden wir beide als großes Geschenk. Denn Trude war eine wunderbare Freundin. Obwohl sie selbst viel zu sagen hatte, konnte sie gut zuhören, lange und intensiv. Sie war sehr nachsichtig, aber sie konnte auch eine ganze Menge fordern, zuweilen fast rabiat: „Zu jedem Unrecht nein sagen – auch wenn man sich damit nicht beliebt macht!“ Kämpfen gegen das Vergessen, gegen Antisemitismus, Fremdenhass und Faschismus heute. Dass sie das selbst tat, mit Nachdruck – und dennoch sehr beliebt war, verdankte sie ihrem Charme, ihrem Humor und ihrer hohen Glaubwürdigkeit.

Trude Simonsohn hinterlässt einen sehr guten Namen. Dem Midrasch folgend, könnten wir also lachen am Schluss ihres langen, schweren, aber auch erfüllten und glücklichen Lebens. Ihr Tod war dazu noch eine „Erlösung“, wie man so sagt. Wie kommt es dann, dass ich so traurig bin?

Dass ein Text über sie so endet, würde Trude nicht gefallen. Sie hatte einen umwerfenden Humor und erzählte für ihr Leben gern Witze. Besonders gern welche mit k. u. k. Hintergrund, dem sie sich als zweisprachig deutsch und tschechisch im Vielvölkerstaat aufgewachsene Jüdin tief verbunden fühlte. Einer ihrer Lieblingswitze stammt aus Friedrich Torbergs „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“. Die Tante Jolesch hatte einen Lieblingsneffen, Franz. Bei Torberg liest sich das so:

„Nun hatte Neffe Franz, als er einmal von einer Autoreise heimkehrte, unterwegs einen Unfall erlitten, bei dem er zwar mit dem Schrecken und gelinden Blechschäden davongekommen war, der aber dennoch am Familientisch ausgiebigen Gesprächsstoff abgab, teils weil sowohl Autobesitz wie Autounfälle damals erst im Anfangsstadium standen, also Seltenheitswert besaßen, teils weil man noch nachträglich um Franzens heile Knochen bangte. Immer wieder wollte man hören, wie er die drohende Gefahr – sein Wagen war auf einer regennassen Brücke ins Schleudern geraten – von sich abgewendet hatte, immer wieder hob Franz zu erzählen an, schmückte die Erzählung mit neuen Details und erging sich in neuen Analysen. „Noch ein Glück“, schloss er einen seiner Berichte ab, „dass ich mit dem Wagen nicht auf die Gegenfahrbahn gerutscht bin, sondern ans Brückengeländer.“ An dieser Stelle mischte sich die Tante Jolesch erstmals ins Gespräch. Sie hatte bis dahin nur stumm und eher desinteressiert zugehört (denn ihrem Franz war nichts geschehen und das war schließlich die Hauptsache). Jetzt hob sie mahnend den Finger und sagte mit großem Nachdruck: „Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“

Soweit Friedrich Torberg. Trude hat diesen Witz ein bisschen anders erzählt, drastischer, pointierter. Einfach besser. Wie sie ja auch die weltbeste Schokoladentorte backen konnte. Auf die Knie, Herr Sacher!
Ein Fest also für das einlaufende Schiff!

Letzte Änderung: 17.01.2022  |  Erstellt am: 17.01.2022

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