Draußen vor der Tür

Draußen vor der Tür

Soziale Selektion beginnt in der Kita
Kita in Frankfurt | © wikimedia commons

„Was Hänschen nicht lernt“ lautet einer der vielen niedermachenden Sprüche, „lernt Hans nimmermehr.“ Tatsächlich sind die ersten Lebensjahre grundlegend für die Ausbildung von Fähigkeiten, wie sie, im sozialen Verbund, Kitas vorbereiten. Verweigert man Kindern diese Chance, verstoßen wir nicht nur gegen die Grundrechte, denen wir verpflichtet sind. Wissenschaftliche Studien zu frühen Ungleichheiten belegen, dass wir unsere Verpflichtungen nicht ausreichend erfüllen, wie Jutta Roitsch berichtet.

Chancengleichheit und gleichwertige Lebensverhältnisse: Das sind große Versprechen im deutschen Grundgesetz. Für die Kinder zwischen zwei und sechs Jahren bleiben sie uneingelöst, obwohl die Drei-bis Sechsjährigen seit 1996 und die unter Dreijährigen seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch auf Bildung, Betreuung und Erziehung in einer Kindertagesstätte haben. Hunderttausenden von berufstätigen Eltern, insbesondere aber alleinerziehenden Müttern fehlt diese Unterstützung, so dass sie gegen ihre eigenen Wünsche nur eingeschränkt erwerbstätig sein können. Mehrere wissenschaftliche Studien liegen dazu seit wenigen Tagen vor. Sie sollten die Gesellschaft aufrütteln.

Zunächst veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung ihren „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ und den „Fachkräfteradar für Kindertagesstätten und Grundschule“. Der Überblick über das Angebot an Kita-Plätzen und Erzieherinnen ist ernüchternd. „Sehr angespannt“ nennt die Stiftung die Lage: Bundesweit errechnete sie, dass 430 000 Plätze fehlten, allein in den westlichen Bundesländern von Bayern bis Bremen sind es 385 800, davon 291 000 für die unter Dreijährigen. Im Westen nutzten 36 Prozent der Eltern eine Kita-Betreuung für ihre Kleinsten (Zahlen aus 2022), aber 49 Prozent der Eltern „äußerten einen Betreuungswunsch“, so die Stiftung. Im Osten nutzten „mit 53 Prozent wesentlich mehr Kinder dieser Altersgruppe ein Angebot“. Doch auch im Osten gilt: Angebot und Nachfrage decken sich nicht. 61 Prozent der Eltern wünschten sich ein Angebot für ihren Nachwuchs U 3, so der Wissenschaftsjargon. Die Stiftung, die sich gern das Etikett eines „Bundeskultusministeriums“ anhängen lässt, folgert aus diesen Daten, dass der Rechtsanspruch der Jüngsten in dieser Gesellschaft „nicht eingelöst werden kann“, zumal auch der Bedarf der Eltern „deutlich gestiegen“ sei, allerdings sind die regionalen Unterschiede im Angebot wie im Bedarfswunsch auffällig.

Ebenso das Gefälle zwischen Stadt und Land: Spielen Familientraditionen, religiöse Verwurzelungen und Vorbehalte gegen die (einst in bürgerlichen Kreisen verteufelte und in hitzigen Diskussionen in protestantischen Kirchenparlamenten abgelehnte) Gemeinschaftserziehung der Kleinen nach wie vor eine Rolle? Oder setzen die zuständigen Kommunen zusammen mit den kirchlichen und freien Trägern auf dem Land wie selbstverständlich eine Familienbetreuung von nichterwerbstätigen Müttern oder Großmüttern voraus? Wer sich noch an die Kunstfigur des „katholischen Mädchens aus dem Bayerischen Wald“ erinnert, in dem sich alle Benachteiligungen im Bildungssystem bündelten und dem vor über einem halben Jahrhundert kaum Chancen auf einen Platz im Gymnasium oder der Universität eingeräumt wurden, entdeckt heute erneut: Das Kita-Angebot und die Kita-Nutzung in ländlichen, traditionellen und überwiegend katholischen Regionen ist auffallend niedriger als in städtischen Ballungsgebieten, in denen sich allerdings andere Schwierigkeiten häufen. Die Gründe untersucht die Studie nicht. Die Bildungschancen, so folgert die Bertelsmann Stiftung lediglich, hingen „stark vom Wohnort“ ab.

Ähnlich ernüchternd wie der Länderbericht fällt der Überblick über die Fachkräfte aus. „Bundesweit müssten zusätzlich 111 200 Fachkräfte beschäftigt werden, damit die fehlenden Plätze zur Deckung des Elternbedarfs für die unter Dreijährigen wie auch die Kinder ab drei Jahren bis zum Schuleintritt zur Verfügung stehen,“ heißt es in einer Mitteilung der Stiftung zu den beiden Berichten, die sich im Internet herunterladen lassen (www.laendermonitor.de und www.fachkraefte-radar-kita-grundschule-2030.de). Und die (gewerkschaftlich organisierten) Erzieherinnen, die es gibt, protestieren in diesen Tagen auf der Straße und vor dem Bundeskanzleramt mit Mahnwachen gegen die Mangelverwaltung durch größere Gruppen und kürzere Öffnungszeiten sowie die allgemeinen schlechten Arbeitsbedingungen, die zu hohem Krankenstand und zur Flucht aus dem Beruf führten. „Diese Krise hat das Potenzial, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verunsichern und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Wohlfahrtstaates zu untergraben,“ sagte Doreen Siebernik, die im Vorstand der Lehrergewerkschaft GEW für Jugendhilfe und Sozialarbeit zuständig ist (am 28.November).

Doch es herrscht nicht nur ein Mangel an Plätzen und an Erzieherinnen: Zum ersten Mal belegt jetzt eine weitere wissenschaftliche Studie, dass die soziale Selektion nach ökonomischen, kulturellen und bildungspolitischen Milieus nicht erst in der Schule, sondern bereits in den Kitas zwischen Greifswald und Passau, zwischen Gelsenkirchen und Mannheim stattfindet. Soziale Herkunft und Wohnort, tatkräftige und kenntnisreiche Hartnäckigkeit der Väter und (vor allem) Mütter bestimmen über die Chancen der Kleinsten, einen Platz in einer möglichst guten Kita zu bekommen. Wer das in den sechzehn Bundesländern höchst unterschiedliche deutsche Kita-System durchschaut, beginnt bereits in der Elternzeit mit der Bewerbung und der Suche nach einem Platz auf der Warteliste. Das Nachsehen haben Familien, die sich weder auskennen noch die deutsche Bürokratiesprache verstehen.

Alle „diese Kinder sind das Fundament unserer Gesellschaft,“ betonte dagegen Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, bei der Vorstellung ihrer (im Internet verfügbaren) Studie „Frühe Ungleichheiten“ am 22. November in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung. „Dieser Sockel darf nicht wackeln“. Doch er wackelt: Die Ergebnisse über den „Zugang zu Kindertagesbetreuung aus bildungs-und gleichstellungspolitischer Perspektive“ sind noch dramatischer als die schlichten Datenreports der Bertelsmann Stiftung. Die Institution Kita, in Deutschland im Rahmen der Kinder-und Jugendhilfe von freien, kirchlichen, sozialen oder kommunalen Trägern angeboten und rechtlich Sozial- oder Kultusministerien zugeordnet, ist seit dem ersten Rechtsanspruch vor über einem Vierteljahrhundert inzwischen gesellschaftlich überwiegend als „Kinderstube der Demokratie“ (Rüdiger Hansen, 2005) anerkannt, aber nicht für alle Schichten zugänglich.

„In Deutschland bekommt jede 5. Familie mit Kindern zwischen ein und drei Jahren keinen Kita-Platz, obwohl Bedarf besteht“, heißt es in der Studie. Ein genauerer Blick in die einzelnen Tabellen und Befragungsergebnisse aber lohnt sich. Er enthüllt das Ausmaß an sozialer Selektion in dieser gesellschaftlichen „Kinderstube“, die „die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern“ und „die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen“ soll. So lautet der gesetzliche Auftrag im Paragraph 22 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches. Im praktischen Alltag wird er nicht eingelöst. Katharina Spieß verweist auf die Befunde, wer hierzulande keinen Kita-Platz bekommt: Jede dritte armutsgefährdete Familie, 39 Prozent der Familien, in denen zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, jede 4. Familie ohne akademischen Hintergrund und mehr als jede 4. Familie mit alleinerziehendem Elternteil. „Kita-Gap“ nennt die Bevölkerungsforscherin Katharina Spieß diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Über die Folgen ist in den letzten Jahren viel geforscht worden. Das Wissen ist da: „Studien zeigen, dass insbesondere Kinder von Eltern mit niedrigem sozioökonomischen Status oder aus Familien mit Migrationshintergrund von dem frühen Besuch einer Kita besonders profitieren können“ (Studie, Seite 5). Darüber hinaus seien Kitas für die Erwerbstätigkeit von Eltern und Müttern „von großer Bedeutung“. „Eine Erwerbstätigkeit von Müttern erhöht das verfügbare Familieneinkommen und kann damit kurzfristig Kinderarmut und ihre negativen Konsequenzen auf die kindliche Entwicklung verringern.“ In der Studie, die neben Katharina Spieß Mathias Huebener, Sophia Schmitz und Lina Binger erarbeitet haben und die sich auf Daten der Kinderbetreuungsstudie (KiBS) des Deutschen Jugendinstituts (DJI) stützt, wird auf knapp sechzig Seiten im Einzelnen belegt, wie groß die soziale Selektion beim Zugang zu Kitas ist. Die „frühen Ungleichheiten“ begännen bereits bei den Zweijährigen und führten „zu ungleichen Startchancen bei Schulbeginn“. Diese Ungleichheiten würden, wie unter dem Namen Pisa seit über zwanzig Jahren ein internationaler Test nach dem anderen nachgewiesen hat, „später im Schulsystem noch deutlicher“. Im Klartext heißt das: Wenn die Kita ihren Beitrag nicht leistet, „um zum einen die frühen Ungleichheiten bei Kindern abzubauen und die Chancengleichheit für alle Kinder unabhängig von ihrem familiären Hintergrund zu verbessern“ (Studie, Seite 5), dann schafft es die Schule auch nicht. Die kindlichen Entwicklungskurven der US-amerikanischen Forscher Jan Skopek und Giampiero Passaretta, die Susanne Kuger vom DJI in Berlin präsentierte, belegten diese Folgen nachdrücklich.

Doch wie soll es nach all diesen Befunden mit dem „ersten Bildungsort außerhalb der Familie“ (Katharina Spieß) oder dieser „Kinderstube der Demokratie“ weitergehen? Der in den letzten Jahren von den Trägern und Anbietern der Kitas häufig gehörte Rückzug auf die nur ungefähre Datenlage ist jetzt verwehrt: Alle Beteiligten vom Bundesfamilienministerium bis zur letzten kreisfreien Stadt, von der Arbeiterwohlfahrt bis zur Diakonie müssen sich Fragen gefallen lassen und ihre Politik überprüfen. Der Bund setzt gesetzlich immer neue Rahmenbedingungen, überprüft die Durchsetzung in der Praxis aber kaum. Die zahlreichen, zeitlich befristeten Modellversuche, die der Bund in den letzten Jahren nicht ohne Erfolg gefördert hat, die aber nur wenige Länder nach dem Auslaufen fortführen, sind Bildungs- und Sprachangebot in der Kita. Die Kinder „draußen vor der Tür“ aus Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird oder die sich in den bürokratischen Bewerbungsverfahren verheddern, erreichen sie nicht. In einigen Ländern begleiten „Geburtslotsen“ Familien in schwierigen Verhältnissen, werden Flyer in mehreren Sprachen an die Familien mit kleinen Kindern verschickt. Doch alle diese kleinen Bemühungen vor Ort schließen die große Lücke, den „Gap“, nicht. So macht sich unter den Beteiligten und Verantwortlichen Ratlosigkeit breit, wer die lautstarken Forderungen nach „Ausbauen, Ausbauen, Ausbauen“ erfüllen sollte, wie die Werbung für den Beruf der Erzieherinnen und Erzieher (davon wünschen sich alle Beteiligten mehr) aussehen könnte und wie schließlich die Auswahlverfahren in den einzelnen Kitas chancengleicher ausfallen könnten. Antworten wird es geben müssen, wenn der Sockel, auf dem sich die Gesellschaft aufbaut, nicht wanken soll.

Letzte Änderung: 13.12.2023  |  Erstellt am: 13.12.2023

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Kommentare

Alfred Harth schreibt
Ich beobachte diese Vorgänge seit Jahren, da ich einer Kita in Ffm nahestehe, die laut Stadtschulamt neuerdings nicht weitergeführt werden darf, weil auf Prinzipien herumgeritten wird. Anstatt diese voll ausgestattete Einrichtung weiter zu unterstützen, versäumt die Politik auch in diesem Fall, die Probleme zu minimieren. Ein unverständlicher Vorgang angesichts der Versprechen der SPD bei der letzten OB-Wahl und der aktuellen Verlautbarungen der neuen hessischen Landesregierung. Bürger versinken in Hilfslosigkeit…

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