Drang nach Freiheit

Drang nach Freiheit

Der Mauerbau und seine Folgen
Zwei Hinrichtungen am selben Tag

Wer alles hinter sich lässt und flieht, hat gute Gründe. Georg Welzel ist so oft in seinem Leben geflohen, bis er offenbar aus dem Leben geflohen ist. Johannes Winter hat den abenteuerlichen Weg dieses freiheitsliebenden Menschen aus Cottbus, der unter fremdem Namen hingerichtet wurde, nachgezeichnet.

Die Geschichte des DDR-Bürgers Georg Welzel

Die Saison ist vorüber, das Gras braun wie die abgereisten Touristen. Kein Wohnwagen weit und breit. Die große Siesta hat begonnen. Im Schatten vor dem Bistro sitzt die Kellnerin, aufatmend, die Zehen in den Wind gestreckt. Ihre Mittagsgäste, Arbeiter und Ingenieure, die hinterm Hügel ein Atomkraftwerk errichten, sind in den Feierabend verschwunden. Über den staubigen Vorplatz nähert sich ein Mann. Er trägt ein Gewehr über der Schulter. Die junge Frau wird sich erinnern, daß er es an die Hauswand lehnte. Und daß sie sich nichts dabei dachte. Denn im späten Herbst wird hier auf alles geschossen, was sich bewegt. Kein Grund, dem Unbekannten einen Kaffee zu verweigern. Wird sie es bereuen?

Das Brummen eines Motorrads wird lauter. Der Polizist der Guardia Civil Antonio Torralba Moral steigt ab. Für ein Schwätzchen am Tresen. Um der Kellnerin schöne Augen zu machen, unterbricht er gerne seinen Dienst. Es fehlt nicht viel, und Netty van Hoorn, Ferien-Jobberin aus Holland, wird zur Augenzeugin.

Ein Konvoi passierte den Schlagbaum. Hinter den Scheiben angespannte Gesichter, bis die Ankunft auf der anderen Seite Erleichterung in die Mienen zeichnete. Die Gesichter gehörten entlassenen Häftlingen, geprägt von Jahren, die sie in der Hand der Stasi waren.

Zum Beispiel der Schriftsteller Klaus Kordon, im zentralen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen eingekerkert: „Wie die Zeit verging, konnte er nur am Stand der Sonne überprüfen, die ab dem frühen Vormittag über die Zellenwand kroch und ein zweites, sehr diffuses Gitter in den Raum zauberte. Schien keine Sonne, drang nur wenig Licht durch die Glasziegelsteine, dann musste er sich auf seine innere Uhr verlassen, die ihn anfangs oft narrte. Aber er hatte ja längst begriffen: Desorientierung, Isolation und Langeweile, das waren die drei Foltermethoden, mit denen sie ihre Gefangenen zum Sprechen bringen wollten.“

Erinnerungen an den Alltag im Stasi-Knast, wo man sich die Wärter nicht vom Hals halten konnte. Wärter, die für die Haftbedingungen zuständig waren. Auch der Schriftsteller Jürgen Fuchs war ihnen ausgesetzt: „Sie wollen deine Orientierung zerstören, du sollst ins Schlingern kommen. Menschen, die du schätzt, werden geringschätzig abgetan. Alles, was dir wertvoll ist, soll in diesen Zimmern seinen Wert verlieren. Vor allem dein eigener Menschenwert soll dir zweifelhaft erscheinen. Sie sagen: Dass Menschen mit Gewalt nicht zu ändern sind, ist nicht gesagt, denn wir beherrschen unser Handwerk und haben viel Zeit.“

Verkauft in die Freiheit

Georg Welzel, geboren in Cottbus, hatte ein Drittel seines Lebens in Stasiknästen verbracht, als er, keine dreißig Jahre alt, 1972 von der Bundesrepublik für 40.000 DM „freigekauft“ wurde. Er war einer von rund 34.000 DDR-Bürgern, die gegen Geld in einem Bus des hessischen Unternehmers Reichert in den Westen wechselten. Nicht ohne dass vor der Grenzübergangsstelle die Kennzeichen gewechselt wurden – die Stoßstange der Busse war mit drehbaren Nummernschildern ausgestattet.

Fremd das Leben, das hinter der Autobahnbrücke begann. Umso aufregender, dem Unbekannten zu begegnen, hinter dem die Hoffnung auf Neuanfang verborgen lag.

Was Georg Welzel im Gepäck hatte: er war das älteste von drei Kindern. Der Vater verschwand aus seinem und der Familie Leben, als er ein Junge war. Karl-Heinz W., Schreiner, machte rüber nach West-Berlin, wurde unerreichbar, was ihn für den Sohn zum magischen Vorbild werden ließ. Auch und gerade nachdem 1961 die Staatsführung Westberlin eingemauert und die DDR mit einem Minen-Stacheldraht-Streifen abgeriegelt hatte. Zwar gründete Sohn Georg, nach einer Kindheit in Heimen Schlosser geworden, in dieser Zeit eine Familie. Aber die Sehnsucht nach dem verlorenen Vater blieb Impetus und Kitt allen Sinnens und Trachtens. Der Drang, es diesem gleichzutun, trieb ihn an, und dieser Drang war stärker als die Aussicht auf einen Trabbi.

Was Georg Welzel mit sich trug: er hatte, als er die Grenze in einem Reichert-Bus passierte, drei Flucht-Versuche hinter sich, ein klassisches DDR-Delikt, nämlich „ungesetzlicher Grenzübertritt“, „illegales Verlassen der DDR“ und „versuchter Grenzdurchbruch“ (in Richtung CSSR). Er war dreimal verhaftet und dreimal verurteilt worden, unter anderem zu Zwangsarbeit im Braunkohlewerk „Schwarze Pumpe“. Mehrmals hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. Hatte insgesamt fast 10 Jahre wegen „Republikflucht“ in Stasi-Gefängnissen verbüßt, zum Teil in Einzelhaft, 10 Jahre auf Pritschen genächtigt, war 10 Jahre lang einer Zellen-Existenz mit Margarinebrot und Muckefuck ausgesetzt, Vernehmungen und Verhören mit Schikanen, Demütigung und Gewalt. Ob zum Trost oder aus Trotz, nach jeder Freilassung hatte er mit seiner Liebsten ein Kind gezeugt, ohne Unterhalt zu zahlen – und mit ihrer Zahl und dieser Praxis den Vater eingeholt. Mit der Ausreise war er gleichgezogen. Der Sohn, der sich fürs Überqueren der Grenze zwischen DDR und BRD auch von jeder Fürsorge für die Seinen hatte freikaufen lassen, der seine Verantwortung für Frau und Kinder aufgegeben, sie verlassen hatte – auch hierin der Vater ein Vorbild. Genug Stoff, ein Gewissen zu infizieren. Stoff aus einer Vergangenheit, die angereichert war mit dem Diebstahl kleinerer Geld-Beträge, mit dem Fälschen von Postsparbüchern, mithin banale Gründe für immer noch mehr Freiheitsentzug.

Etikett aus seiner Stasi-Akte: Wenzel ist „Individualist, gesellschaftsgefährlich, unbelehrbar“. Fazit eines IM-Berichts: Welzel hasst die Stasi „diese Schweine“. Konsequenz: Welzel stellt einen „Antrag auf Übersiedlung nach Westdeutschland“ bzw. „Entlassung in die BRD“. Im Westen angekommen, war ein Auto-Kauf unumgänglich. Opel musste das beglaubigen. Die Teilhabe am westlichen Konsum – vom Traum in die Tempo-Wirklichkeit, auf vier Rädern, anstrengungslos – wurde spürbar, sie vermittelte gute Gefühle, gar Hochgefühle. Welzels Ziele aber blieben diffus, obwohl sich die Sehnsucht nach Freiheit erfüllt zu haben schien.

Verpflichtung zum Stillschweigen

Zwar war er eine Randfigur auf der Bühne deutsch-deutscher Austausch-Politik, gleichwohl Teil dessen, was der DDR-Schriftsteller Jürgen Fuchs „Verkauf der Landeskinder“ nannte, in der Sprache der offiziellen Propaganda ein „Faktor der Entspannung“. Ein hinter Knastmauern beschädigtes Leben wurde entsorgt. Vergessen aber konnte er nicht. Welzel jobbte in Oberhausen, fuhr Lkw in Belgien und kollidierte mit Regeln, die ihm unbekannt waren, ob im Verkehr mit Autos oder mit Menschen – oder die einzuhalten er verlernt hatte. Seine Mutter ließ er wissen: „Ich bin so glücklich“ und schickte ein Paket mit Kaffee und Waschpulver, versprach Geld für die Kinder. Lebenszeichen als Erfolgsmeldung.

Nichts schien im Leben von Georg Welzel so sicher wie verpasstes Glück. Die Trennung von der Familie – der Lebensgefährtin, den Kindern, der Mutter, für die er der Lieblingssohn war – ließ ihn offenbar nicht zur Ruhe kommen. Trauer stellte sich ein, Schuldgefühle drohten ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber wenn es nur das gewesen wäre. Die Knast-Jahre hatten ihn verletzt, beschädigt. Er fühlte sich verstrickt in einem Netz von Hilf-, von Ratlosigkeit. Jens Reich, Arzt und DDR-Bürgerrechtler, hat eine Diagnose gestellt, die auf ihn zutreffen könnte: „Die Stasi produzierte paranoid Wahnsinnige, seelisch Zerstörte“.

Welzel brach auf, ging wieder auf die Flucht, um in der Amnesie seiner Vergangenheit zu entgehen. Es gab nichts mehr, womit er noch hätte brechen können. Ob er sich verfolgt fühlte? Jedenfalls schien es, als könne er es nicht erwarten, sich in Abenteuer zu stürzen. Das brachte ihn dazu, sich wie ein Tramp aufzumachen, in den Süden. Es wirkte indes, als ob ihn nicht Fernweh ins Land von Sonne, Pizza und rotem Wein gezogen hätte. Auch nicht der Duft oder die Bilder blühender Zitronen. Ihn verlangte es eher nach Abhilfe gegen die Schmerzen seiner Seele.

Dafür putzte er in Palermo, malochte in Marseille, bediente in Barcelona. Die Ortswechsel wurden willkürlich, die Ziele zufällig. Nirgendwo hielt er es lange aus, blieb unstet unterwegs. Auch in Spanien zog es ihn nach Süden. In der Nähe von Tarragona klaute er eine Flinte und landete auf einem Campingplatz. Endstation. – Nach einem halben Jahr außerhalb des Stacheldraht-Staates war er wieder im Gewohnten gelandet, im Knast, dem er entkommen, aber nicht entrinnen konnte.

Salvador Puig Antich ist Student der Universität Barcelona, 21, und Aktivist der militanten Opposition gegen die Diktatur des Generals Franco. Der Anarchist wird bei einer Schießerei mit der Guardia Civil schwer verletzt festgenommen. Trotz unklarer Beweise wird ihm der Tod eines Polizisten zur Last gelegt. Wenig später stirbt Francos designierter Nachfolger Carrero Blanco bei einem Attentat der baskischen ETA. In Madrid schrillen die Alarmglocken. Das Regime fühlt sich aufs Äußerste gereizt. Ähnlich dem alt und krank gewordenen Diktator liegt es in den letzten Zügen. Unter seinen Anhängern populär ist denn auch die Parole der „mano dura“, der harten Hand gegen Terroristen.

Der Prozess gegen Puig Antich findet vor einem Militärgericht seiner Heimatstadt statt. Naheliegend, dass die Richter nach der Logik der Vergeltung urteilen, naheliegend auch, dass Verhandlungsführung und Schuldspruch vom Escorial, dem Palast des Diktators gesteuert werden. Im demokratischen Europa steht Spanien am Pranger, es wird mit dem Mittelalter gleichgesetzt. Massen-Proteste im In- und Ausland. (Ich sehe mich mit Schneebällen bewaffnet, die wir gegen das spanische Konsulat im Frankfurter Westend warfen.) Vergeblich, das Regime bleibt unerbittlich.

Da geschieht etwas Merkwürdiges. Salvador Puig Antich wird am 8. Januar 1974 wegen Polizisten-Mordes zum Tode verurteilt. Wegen des gleichen Delikts bestätigt am 9. Januar 1974, einen Tag später, ein Militärgericht in Madrid das Todesurteil gegen einen Heinz Chez. Es ist unübersehbar, dass die beiden Fälle nicht nur in zeitlichem Zusammenhang stehen.

Heinz Chez, unter diesem selbst kreierten Namen – des Vaters Vorname bzw. der Nachname der in Polen geborenen Mutter legen nahe, wie verbunden er der Familie ist und bleibt – liefert sich Georg Welzel der spanischen Justiz aus, ohne Papiere. Er ist, nachdem er in der Camping-Bar südlich Tarragona vor den Augen der Kellnerin Netty van Hoorn den Guardia-Civil-Polizisten Torralba erschoss, zu diesem Zeitpunkt seit über einem Jahr inhaftiert.

Als Zeugin wird Netty aussagen, im Gespräch mit ihr habe der Schütze deutsch und nicht polnisch oder eine andere Sprache gesprochen. Bis er, panisch wegen befürchteter Kontrolle, auf den Abzug drückt. Die Macht der Waffe stürzt ihn in ausweglose Ohnmacht. Und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Welzels freiwilliger, posthum literarisch beglaubigter Namenswechsel kam einer Kamikaze-Aktion nahe. Warum verbarg er vor den spanischen Behörden seine (west-) deutsche Identität? Dämmerte ihm nicht, dass er sich damit in Lebensgefahr brachte? In seiner persönlichen Erklärung heißt es, er sei ohne Pass über die Pyrenäen gewandert (eine der vielen Grenzen, die er überschritt), habe in Barcelona Station gemacht und sei per Anhalter auf dem Camping-Platz südlich von Tarragona gelandet. Am nächsten Morgen sei er an einem nahegelegenen Bahnhof festgenommen worden.

Wollte er, der zehn seiner fast dreißig Lebensjahre der DDR-Staatsicherheit ausgesetzt war, seine Familie in Cottbus vor dieser schützen? Jedenfalls – und im Nachhinein – hat er dies mit der Angabe „in Polen geboren“ und indem er sowohl seine neue Staatsangehörigkeit (deutsch) als auch seine alte (Bürger der DDR) verheimlichte, erreicht. Zugleich aber begab er sich jeder Möglichkeit, unter der Beobachtung von Behörden der Bundesrepublik seinem Prozess entgegen zu sehen. Konnte er wissen, dass Spanien mit Polen keine diplomatischen Beziehungen, mithin keine Verpflichtung zum Austausch von Informationen hatte? Oder wollte er nicht davonkommen? Wollte er dafür büßen, dass er die Familie, seine Mutter im Stich gelassen hatte?

Es kam, wie es kommen musste: Heinz Chez war – anders als Georg Welzel es gewesen wäre – der spanischen Militär-Justiz schutzlos ausgesetzt. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihm ein Pflichtverteidiger beigestellt wurde. Er trug den Stempel „staatenloser Vagabund“ und damit das Risiko, ohne diplomatische Begleitung vor Gericht zu stehen. Und nicht nur das. Seine Verhandlung fand – anders als die von Salvador Puig Antich – außerhalb jeder öffentlichen Wahrnehmung statt, wurde geradezu als Geheim-Prozess geführt.

Die Justiz-Behörden Spaniens und mithin die Medien des Landes blieben eisern bei der Version, „el polaco“ sei der Mörder des GC-Polizisten. Dies war sein Todesurteil und zugleich ein historischer Kontext, der belegt, dass eine „falsche“ Nationalität den Wert eines Menschen auf das Niveau einer Nummer drücken kann.

Welches Kalkül aber verfolgte das Franco-Regime, die beiden Fälle – einen gewöhnlichen Todesschützen und einen politischen Aktivisten – zusammen zu schnüren? Grundlage war die zeitliche Nähe, die das Attentat gegen den designierten Franco-Nachfolger einrahmte. Ein ex-Minister sprach sogar vom „Glück“, die Täter „komplementär“ behandeln zu können. Heraus kam das Konstrukt von zwei höchst ungleichen Angeklagten als kriminelle Kumpane („Polizisten-Mörder“), um ihre Taten unterschiedslos mit dem Tode ahnden zu können. Die eine Hinrichtung konnte als Rechtfertigung für die andere dienen. So dass sich die Öffentlichkeit bloß mit der Normalität von Strafe konfrontiert sah, in diesem Fall der Höchststrafe.

Erlassen, verfügt und angewandt von einem Regime, das selber vor dem Exitus stand. Es fehlten gerade eineinhalb Jahre, dass Franco starb.

Georg Michael Welzel

Verdeckt und verschwiegen

Gleich den übrigen Demonstranten auf der Straße am Frankfurter Palmengarten war ich, während der Protest gegen das Todesurteil für Salvador Puich Antich mit Schneeballwürfen gegen das spanische Konsulat über die Bühne ging, bar jeder Kenntnis des Falles Heinz Chez. Ebenso wenig war uns oder irgendjemandem sonst je etwas von einem Georg Welzel zu Ohren gekommen. Die Taktik des Franco-Regimes, ihn totzuschweigen, war erfolgreich.

Was auch in den 15 Monaten gelang, die Chez im Gefängnis von Tarragona auf seine Hinrichtung wartete, als zwischen Interpol und den Geheimdiensten Spaniens bzw. der Bundesrepublik rege Informationen über seine wahre Identität ausgetauscht wurden. Verdeckt und verschwiegen. Dem Verfahren wie der Öffentlichkeit wurden sie vorenthalten. Die Chance, ihm beizustehen, sollte es nicht geben. Sie gab es nicht.

Heinz Chez hatte mit alldem wohl seinen Frieden gemacht. Die letzten Stunden, heißt es, habe er sich in Gesellschaft des Gefängnispfarrers mit Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielen vertrieben. Die Rachsucht der Hinrichtung, mehr noch die Grausamkeit, mit der der Verurteilte von einem Henker, der gleich einem unerfahrenen Azubi seines Amtes waltete, quälend lange Minuten in den Tod gefoltert wurde, dieser Umstand blieb lange Jahre unbekannt. Zumal sämtliche Beteiligte zu Stillschweigen verpflichtet worden waren.

Es dauerte dreißig Jahre, bis es dem spanischen Journalisten Raúl M. Riebenbauer (El silencio de Georg, 2005; zu Deutsch „Georgs Schweigen“) nach hartnäckiger Recherche in Archiven sowie Befragungen von Zeitgenossen gelang, das Geheimnis um eine Identität und ihre tödlichen Folgen zu lüften.

Er wies nach, was vor wie nach der Hinrichtung Welzels in Spanien galt: nach dem normalen Mörder mit unklarer Identität krähte kein Hahn. Für die DDR-Bürokratie existierte ihr freigekaufter ex-Bürger ohnehin nicht (mehr). Folglich war auch das allwissende Parteiorgan „Neues Deutschland“ bar jeder Kenntnis, keine Zeile wurde je veröffentlicht. Und auch in Polen blieb er unbekannt.

Nicht genug, die Medien der Bundesrepublik regierte ein auffallendes Desinteresse. In der SZ war zu lesen, der Hingerichtete sei „Pole aus Stettin, ein Trinker und Landstreicher“, während die FAZ von einem „drogensüchtigen staatenlosen Vagabunden“ berichtete.

Walter Haubrich, ihr legendärer Spanien-Korrespondent, steuerte Dönekes bei über einen der Henker, der zeitweilig sein Nachbar in Madrid gewesen sei, und wusste Details über die „garrote vil“, die „schändliche Würgeschraube“, mit der die beiden Delinquenten am gleichen Tag, dem 2. März 1974, zur gleichen Stunde, morgens gegen 9 Uhr, hingerichtet wurden – als letzte in der Geschichte Spaniens. Dass einer der beiden Deutscher war, habe er, so Haubrich gegenüber dem Journalisten Riebenbauer, nicht gewusst.

Ein lyrischer Grabstein

Die Schriftstellerin Helga M. Novak, eine ehemalige DDR-Bürgerin, setzte Heinz Chez einen lyrischen Grabstein (Ballade von einem nach dem kein Hahn kräht, 1975). Hätte es auch für Georg Welzel gereicht? Die katalanische Theatergruppe Els Joglars machte aus dem Justiz-Skandal eine populäre Farce (La Torna, 1977). Der Plot des Stücks, dass dem Angeklagten allein wegen der ,Himmelfahrt’ Carrero Blancos keine Begnadigung zuteil geworden sei, ging dem sterbenden Regime zu weit. Ein ganzes Bündel an Geduldsfäden riss. Die Aufführung endete mit der Verhaftung von Regisseur und Schauspielern.

Der katalanische Autor Manuel Vázquez Montalbán sprach das Schlusswort, dem er den Titel „tragische Ironie des Verschweigens“ (1977) gab. Gegen einen DDR-Flüchtling, spottete er, per definitionem ein geradezu „klassischer Antikommunist“, wäre in Francos Spanien niemals ein Todesurteil gefällt bzw. vollstreckt worden. Auch deshalb habe man alles getan, seine Identität geheim zu halten.

Die Schriftstellerin Helga M. Novak hat Heinz Chez, dessen wahren Namen sie nicht kannte, die „Ballade von einem nach dem kein Hahn kräht“ (1975) gewidmet:

Ballade von einem nach dem kein Hahn kräht

am letzten Samstag ließ Franco
den Studenten Puig Antich ermorden
und einen anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez hieß er und war Pole


seit Wochen regnet es Steine
und Bittschriften für Puig Antich
nicht für den anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez heißt er und ist Pole


Franco denkt beileibe nicht daran
den Studenten Puig Antich zu begnadigen
ganz zu schweigen von dem anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez heißt er und ist Pole


an einem Märztag wird die Garrote
Salvador Puig Antich um den Hals gelegt
genauso wie dem anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez heißt er und ist Pole


der Henker schraubt das Würgeeisen zu
bis ein Dorn die Wirbelsäule auseinanderreißt
bei dem einen wie dem anderen
nach dem kein Hahn kräht
Heinz Chez heißt er und ist Pole


dreitausend Spanier sind losgezogen
um den Studenten Puig Antich zu beerdigen
wer begleitete den anderen?
nach dem kräht kein Hahn
Heinz Chez hieß er und war Pole


nur den Angehörigen hat die Polizei
das stumme Friedhofsgelände freigegeben
wo steckt die Familie des anderen?
nach dem kräht kein Hahn
Heinz Chez hieß er und war Pole


Polen hat seinen verlorenen Sohn
nicht zurückgeholt bevor er elend starb
die polnische Obrigkeit wußte:
nach dem kräht kein Hah
auch wenn er Heinz Chez heißt und ein Pole ist!

Helga M. Novak, 1975

Helga M. Novak, solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Rita Jorek © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main
Mit freundlicher Genehmigung von Schöffling & Co.

Letzte Änderung: 26.08.2021

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Kommentare

Pfeufer schreibt
Danke für diese sehr schöne , traurige Ballade .Es war mein Vater .

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