Drahtzieher der Rettung
Er war mit Helmut Gollwitzer, Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth und Martin Niemöller befreundet, wurde von der Gestapo mehrfach verhaftet und gefoltert und arbeitete dennoch im Widerstand, schmuggelte Flugblätter und verhalf jüdischen Menschen zur Flucht. Pfarrer Heinz Welke organisierte das Bockenheimer Netzwerk mit, das illegale Hilfe für Verfolgte des Nazi-Regimes leistete. Doris Stickler berichtet von dem 1977 gestorbenen Theologen.
Die Jahre im Widerstand hatten bei Heinz Welke deutliche Spuren hinterlassen. Seine spätere Ehefrau Annemarie lernte ihn 1941 „ausgemergelt, krank durch die Folterhaft“ und in einen „zerfransten Mantel“ gehüllt“, kennen. Da war der evangelische Theologe 30 Jahre alt, bereits mehrfach in die Klauen der Gestapo geraten und aus Hessen verwiesen. Das hinderte ihn nicht am Weitermachen. Die schweren Misshandlungen und die im Kerker zugezogene Knochentuberkulose nährten nur seinen Widerstandsgeist.
Es war vor allem ein Satz aus dem Matthäusevangelium, der Welke den Weg durch die dunklen Zeiten wies: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Aus diesen Worten schöpfte der Pfarrer die Kraft, sein Leben zu riskieren, um das vieler anderer zu retten. Als eine Historikerin kurz vor seinem Tod von ihm wissen wollte, warum er 1940 aus der sicheren Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt sei, fragte Welke erstaunt zurück: „Wie hätte ich denn sonst gegen den Hitler und die Nazis kämpfen können?“
Den Kampf nahm er schon als Theologiestudent auf. Seit 1934 in der Bekennende Kirche (BK), verweigerte Welke 1935 in der langen Reihe seiner Kommilitonen als Einziger den obligatorischen Eid auf „den Führer“. „Bedingungslose Treue“ und „lebenslängliche Gefolgschaft“ wollte er als evangelischer Christ „nur Gott gegenüber“ bezeugen. Dafür hat man ihn halbtot geprügelt und von der Bonner Universität verbannt. Das ihm Wichtigste nahm Welke allerdings mit: Die Freundschaften zu seinen Gesinnungsbrüdern Helmut Gollwitzer und Dietrich Bonhoeffer und zu seinem Lehrer Karl Barth. Zu Martin Niemöller, der aus einem Nachbarort seiner Geburtsstadt Iserlohn stammt, hatte er ohnehin bereits eine enge Beziehung.
Nach dem Studienabschluss an der Theologischen Schule der BK in Wuppertal lebte und arbeitete Welke bis zur Befreiung Deutschlands überwiegend illegal. Vom Pfarrernotbund 1937 in die Frankfurter Dreifaltigkeitsgemeinde zu Pfarrer Otto Fricke geschickt, verschrieb sich der 26-Jährige nicht nur der theologischen Opposition. Welke verteilte zwar hessenweit die in Knorr-Erbswürste gerollten Flugblätter der BK und zettelte als Pfarrer der studentischen Bekenntnisgemeinde waghalsige Aktionen an. Einmal pinselte er etwa nachts mit Studenten an die Haustür des übergewichtigen Gauleiters Jakob Sprenger den Jesaja-Vers „Zu der Zeit wird die Herrlichkeit Jakobs dünn sein, und sein fetter Leib wird mager sein“.
Entsetzt über den grassierenden Antisemitismus wie auch über das laue Verhalten der BK war Welkes Handeln zunehmend politisch motiviert. Spätestens nach der Pogromnacht 1938 war klar, welche Aufgaben für ihn an erster Stelle stehen. Als Kriegsinvalide verkleidet wohnte der Pfarrer jedem Judentransport vom Osthafen zum Frankfurter Hauptbahnhof bei und setzte nun alles daran, Verfolgte zu retten. Wie viele es waren, lässt sich nicht mehr ermitteln. Welkes Tante sprach in den Nachkriegsjahren von „vielen, sehr vielen“ Geretteten, seine Großmutter erzählte von 30, in der Nähe von Königstein in einer Höhle versteckte Personen, für die sie in den letzten Kriegsmonaten 1945 Essen kochte.
Dass man heute überhaupt näheres über Heinz Welkes couragierte Taten weiß, ist der Soziologin Petra Bonavita zu verdanken. Im Rahmen ihrer Recherchen zu Rettern und Helfern in Frankfurt fand sie heraus, dass der Theologe und das Arztehepaar Fritz und Margarete Kahl die Drahtzieher des „Bockenheimer Netzwerks“* waren, das Unterschlupfmöglichkeiten und Fluchtwege für Juden organisierte. Als segensreich erwiesen sich hier Verbindungen, die Welke während seines Studiensemesters 1933/34 in Zürich sowie 1940 während seines Sanatoriumaufenthalts in Davos geknüpft hatte.
Einige der Rettungsgeschichten konnte die Wissenschaftlerin zwar rekonstruieren. Die von Robert Eisenstädt zum Beispiel, dem es gelungen war, aus dem Vernichtungslager Majdanek in Polen zu fliehen und sich bis Frankfurt durchzuschlagen, von wo aus er mit Welkes und Kahls Hilfe in die Schweiz gelangte. Die meisten Rettungsaktionen werden jedoch unwiederbringlich im Dunklen verharren. Schriftliches wurde ja sofort vernichtet, die Mehrzahl der ohnehin raren Augenzeugen ist bereits tot. Auch Welkes Kinder kennen die Vorgänge nur lückenhaft und seine 2004 verstorbene Ehefrau Annemarie wurde nie dezidiert dazu befragt.
Überzeugt, dass man bislang lediglich die „Spitze eines Eisbergs“ kennt – um Welkes Kontakte zu den französischen Protestanten in der Résistance-Bewegung etwa hat sich noch niemand gekümmert – hätte sich der 1946 geborene Sohn Dieter einen „gesprächigeren Vater gewünscht“. Der Theaterregisseur lastet die Verschwiegenheit wie auch die „bleierne Traurigkeit“ Heinz Welkes vor allem der „restaurativen Adenauer-Ära“ an: „Über Zivilcourage und Mut wollte damals niemand etwas hören. Es hätte nur den kollektiven Verdrängungsprozess gestört.“
Selbst in der Niederräder Paul-Gerhardt-Gemeinde, wo Welke von 1945 bis zu seiner Pensionierung 1976 amtierte, wussten die wenigsten von seinem furchtlosen Widerstand. Aufgeatmet hat der Mitverfasser des Darmstädter Wortes erst, als die 1968er-Bewegung eine Aufarbeitung des NS reklamierte. Geschlossene Türen oder braune Farbe konnte der Theologe bis zu seinem frühen Tod 1977 allerdings nie mehr ertragen. Auch sein „Zorn über die Feigheit und den Konformismus der Amtskirche“ hielt an. Dieter Welke erinnert sich noch gut, dass sein Vater bisweilen nur mit Mühe „vom Kirchenaustritt abzuhalten“ war.
*Den Namen Bockenheimer Netzwerk hat die Soziologin Petra Bonavita geprägt, da in dem Frankfurter Stadtteil die meisten der bekannten Retter wohnten. In den Händen von Heinz Welke, Fritz Kahl und seiner Frau Margarete liefen die Fäden zusammen. Sie planten die Fluchtwege und sprachen die einzelnen Netzwerker an, die sich aus Sicherheitsgründen untereinander in der Regel nicht kannten. Neben den drei Köpfen gehörten vor allem Patienten von Dr. Kahl und Mitglieder der Dreifaltigkeitsgemeinde dem Netzwerk an. Außerdem gab es eine Reihe Kriminalbeamte, die vor Razzien und Vorladungen durch die Gestapo warnten sowie ein Fälscher, der vermutlich bei einer Frankfurter Zeitung arbeitete und für Verfolgte Dokumente frisierte. Der Schlosser Karl Münch, der im Ersten Weltkrieg im U-Boot Martin Niemöllers diente, war so empört über die KZ-Internierung seines früheren Kommandanten, dass er ohne Wenn und Aber Pfarrer Welke unterstützte, Kurierdienste erledigte und Flugblätter der Bekennenden Kirche verteilte. Er besaß auch jene „Dietriche“, mit denen Amtsstubentüren geöffnet wurden, um Ausweise zu besorgen.
Als Welke die Kontakte nach Stuttgart und in die Schweiz aktivierte und Fluchtwege auskundschaftete, traten überdies etliche Kuriere in Aktion. Briefpost oder Telefon wäre zu gefährlich gewesen. In Stuttgart war die Hauptperson in der Fluchthelferkette Dorle Pfeiffer, Mitglied in der evangelisch-reformierten Gemeinde von Pfarrer Kurt Müller. Der Theologe fungierte als einer der Ansprechpartner für verfolgte Berliner Juden, die sich über das „Büro Grüber“ gezielt an ihn wandten. Später hat er auch Hilfesuchende des Bockenheimer Netzwerks versorgt, die ihm Pfarrer Welke „zur Betreuung“ anvertraute.
Letzte Änderung: 10.01.2022 | Erstellt am: 10.01.2022
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