Die bebilderten Heimatkalender legten mit ihren etwas unscharfen Schwarzweißfotos nach dem Krieg einen distanzierenden Filter zwischen die eigene, erinnerte Anschauung und die befremdende Wiedergabe. Es musste doch anders gewesen sein. Vor allem das, was darin fehlte, schien nur im Vergessen aufbewahrt. Peter Kern erzählt, was die Dorfchronik schönte oder vertuschte.
Die von der Schwester zugesandte Dorfchronik mit ihrem Heimatkalender entpuppte sich als Fundgrube für den Mann, wollte er doch der Verwicklung seines Heimatdorfs in die Nazizeit nachgehen. Beim Lesen wurde ihm deutlich: Der Zusammenhang macht sich kenntlich, indem er fehlt. Er blätterte vor, er blätterte zurück. Die Kalenderblätter sparen die zwölf Jahr einfach aus. In seinem Studium hatte der Mann einmal gelernt, auch das Nichts habe ein Sein; es sei vermittelt, gehe in das Sein über. Wie sind die braunen in die 50er und 60er Jahre übergegangen, fragte er sich. Über das Nichts, über das Nicht-darüber-reden, sind sie übergegangen. Im Heimatkalender, der sich doch so gerne dem örtlichen Brauchtum widmete, kein Wort über den Brauch de Judd verbrenne, bei dem die Dorfjugend am Sonntag Laetate eine Strohpuppe verbrannte. Die stand für den Winter und die verhasste Minderheit. Der vierte Fastensonntag fiel 1945 auf den 11. März; bis zu diesem Datum fand die jährliche Gaudi statt.
Die Kelten haben im Heimatkalender allerhand Spuren hinterlassen; Eisenbarren beispielsweise, die ihnen als Schatz und als Zahlungsmittel galten. Über die Hinterlassenschaften der NSDAP ist nichts zu lesen. Stattdessen der Hinweis, die Nazi-Partei sei aus den letzten freien Wahlen nicht als stärkste Kraft hervorgegangen, das Zentrum und die Bayernpartei hätten vor ihnen gelegen. Die Nazis und ihr Emblem tauchen lediglich in manchen Fotos auf. So ist das halbe Dorf aufmarschiert, als sie mit Pomp und Salut die ersten 23 Toten der nahen Westfront beerdigen. Der Zeremonienmeister in Uniform hat sich mit gestrecktem Arm vor der mit Kränzen bedeckten Gräberreihe aufgebaut und die Trauergemeinde im Hintergrund macht den Führergruß nach.
Eine Geschichte des Kalenders handelt von unserer ältesten Juddeschul. Im pfälzischen Dialekt galt das Wort von der Juddeschul als ein Inbegriff für fehlende Zucht und Ordnung, erinnerte sich der Mann. Nostalgisch und rührend auch die Erzählung über den armen Juden, Nix-heid genannt. Der Lumpensammler kommt jeden Montag zu Fuß die zehn Kilometer von Höheinöd her, und die Bäuerinnen geben ihm ihre alten Putzlappen, Pferdedecken oder Fußabstreifer. Mit dem Ruf Nix-heid, hanner nix heiid kündigt er sich an und fragt zugleich nach dem Begehrten. Seinen Sack trägt der Lumpensammler über der Schulter. Den Kindern des Dorfes macht man Angst vor ihm. Seien sie unartig, würden sie in den Sack gesteckt und mitgenommen. Der dem Juden aus Einöd gewidmete Artikel endete mit dem frommen Bild von Abrahams Schoß; dort möge der Nix-heid ruhen.
Falls der Lumpensammler aus Höheinöd in Abrahams Schoß ruht, falls sich die Theodizee für ihn in Wohlgefallen aufgelöst hat, hat der Ahasver den Weg über Gurs nehmen müssen. Denn dorthin wurden die pfälzischen Juden deportiert. Die Züge gingen über Mühlhausen, Avignon und Toulouse bis in die Nähe der spanischen Grenze. Als Zeitpunkt der Transporte hatten die Nazis die Tage des Laubhüttenfestes bestimmt, das die Juden an den Auszug aus Ägypten erinnert. In Gurs ging zugrunde: Bär, Leopold, Lumpensammler, geboren am 25.11.1856 in Höheinöd, gestorben am 21.8.1941. Dort starb elend: Reinheimer, Emanuel, Lumpensammler, geboren am 14.1.1852 in Wallhalben, verheiratet mit Henriette Straus, Lumpensammlerin aus Höheinöd, gestorben am 11.11.1940, Grabstein Nr. 90. Welcher der beiden der Nix-heid war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.
Ein langer Artikel der Dorfchronik widmet sich dem fünfzigjährigen Jubiläum der zwischen Hauptdorf und Biebermühle gelegenen Horberg-Siedlung. Der Text stammt von 1987. Er schildert die Siedlungsgeschichte, hebt mit den späten 30er Jahren an. Die Schuhindustrie habe sich prächtig entwickelt, der Bedarf an Wohnraum ebenso, und der Bürgermeister habe sich tatkräftig daran gemacht, der Wohnungsnot zu steuern. Der Verfasser lobt den damals herrschenden Pioniergeist. Ihm sei es zu verdanken, dass sich einfache Fabrikarbeiter wie der Abel, Michael und der Zwing, Alois ein eigenes Häuschen leisten konnten. Für 20 Familien war ein Traum in Erfüllung gegangen. Jede Familie bekam seine Fahnenstange, so daß bei der feierlichen Übergabe…über dem schmucken Neubaugebiet die Reichsfahne dem ersehnten Tag ihr festliches Gepräge gab. Das dem Artikel beigefügte Foto zeigt die Hakenkreuzfahne. Sie weht vor den Häuschen einer NSDAP-Mustersiedlung.
Der von Arbeitslosen des Dorfes erbaute Traum preist der Bürgermeister von damals als die beste Siedlungsform für die werktätige Bevölkerung an, weil sie geeignet ist, den Arbeiter wieder mit dem Heimatboden zu verbinden. Der Artikel zitiert Eugen Willenbachers Grußwort vom 15. Dezember 1937, des Mannes, der der jüdischen Familie Baer das Aufenthaltsrecht im Dorf genommen hatte. Der Bürgermeister stellt die praktische Einteilung der Wohnräume heraus, denn sie sei die Grundlage für die Entwicklung eines gesunden Familienlebens.
Alle Häuser, erfährt der Leser, waren mit einem Garten und einem Stall für die Kleintierzucht ausgestattet. Ihrem Besitzer war beim Siedlungsbau viel Eigenleistung abverlangt. Jeder bekam ein Schwein, eine Ziege und fünf Hühner. Die Kinder waren gehalten, die Ziegenherde zu hüten. Dazu mussten die Tiere jeden Tag durch den Wald getrieben werden, um zum Grünbühl, der Weide, zu kommen. Das neue Heim kostete 4. 500 Reichsmark. Die erbrachte Eigenleistung wurde angerechnet. Monatliche Beträge von 50 Pfennig waren zu leisten. In den Kriegsjahren ermäßigte sich der Abtrag auf 30 Pfennig.
Was der Mann auf den Kalenderblättern las, rief seine Erinnerungen wach. Sich mit dem Pfarrer gut zu stellen, war nach dem Nazismus, der Zeit, die nom Kriech hieß (vor 1933 lebte man in de ame Zeit), ein Gebot der Klugheit. Denn den Pfarrer Ackermann fragte die US-Behörde nach dem Grad der Verstrickung seiner Schäfchen. Für manches verbürgte er sich und immer mit der gleichen Begründung: Der had doch Kinner. Der Schullehrer Karch, der den Heil Hitler-Gruß in der Turnstunde mit Unterstützung von Ohrfeigen einübte, hatte mit seinen fünf Kinder also nichts zu befürchten. Zumal er nun auch noch eifrig die Messe besuchte. Doppelt gemoppelt hält besser, galt ihm als Entnazifizierungsdevise.
Die erlebten Bombardements und der ausgefallene Endsieg machten die Kirchen der Nachkriegszeit voll. Sankt Josef erwies sich als zu klein. Pfarrer Ackermann betrieb daher den Bau eines Mehrzweckgebäudes in der Horberg-Siedlung; Gotteshaus, Kindergarten und Gemeindezentrum unter einem Dach. Als der Messdiener, der der Mann damals war, früh morgens in Sankt Pius seinen Dienst versah, nahmen drei, vier alte Mütterchen an der Messe teil. Fürs Hochamt sonntags in Sankt Josef langte dagegen der Platz nicht mehr aus. Ein Sehen und Gesehen-Werden sei das, schimpfte die Oma, und unserm Herrgott würde das gar nicht gefallen.
Auszug aus Manuskript sucht Verlag. Der Text basiert auf Herrn Peter Conrads Archiv.
Letzte Änderung: 14.11.2022 | Erstellt am: 14.11.2022
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