Die Schamhemmung der israelischen Politik

Die Schamhemmung der israelischen Politik

Gesellschaft
Eva nach dem Sündenfall | © Auguste Rodin/Museum Boijmans

Viele Israelis haben auf die Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahlen mit Schock, Verdrängung oder Eskapismus reagiert. Aber es geht auch um Scham. Der Psychoanalytiker, Psychiater und Historiker Eran Rolnik denkt über ein komplexes Gefühl und sein politisches Potenzial nach.

…während die Todestriebe ihre Arbeit unauffällig zu leisten scheinen. Sigmund Freud 1

Was sich in den Köpfen von Millionen von Israelis seit Bekanntwerden der Ergebnisse der letzten Wahlen abspielt, lässt sich mit Begriffen wie Schock, Verdrängung oder Eskapismus benennen. Aber es geht auch um Scham.

Normale Menschen schämen sich selbst für Dinge, die sich ihrer Kontrolle oder persönlichen Verantwortung entziehen. Die Feinde der israelischen Demokratie – ihre Vandalen – sind schamlos, nicht aber ihre Unterstützer. Die Herausforderung an jene Israelis, die derzeit beschämt und um die Zukunft ihres Landes besorgt sind, besteht darin, Scham und Angst in gezieltes politisches Handeln umzusetzen. Das ist keine zu unterschätzende Herausforderung, da die Scham ihrem Wesen nach ein Gefühl ist, das den Handlungsdrang bremst und blockiert. Lieber zieht sich ein schamerfüllter Mensch in ein Bruchteil seiner Selbst zurück, als nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und dem eigenen Gefühl und Gewissen zu folgen. Es ist einfacher, wütende Menschen auf die Straße zu bringen als Menschen, die sich schämen.

Scham ist ein komplexes Gefühl. Um das Schamgefühl mitzuteilen, muss eine innere Barriere überwunden werden, wobei die Umstände seiner Entstehung oft unklar und mysteriös bleiben. Manchmal fällt es uns schon schwer, überhaupt seine Existenz zuzugeben. Hingegen neigen Gewissensbisse, Schuldgefühle und sogar Depressionen zu Exhibitionismus und nehmen gern einen geschwätzigen Ton an. Angst jedoch, die aus der Scham entsteht, bleibt auch in der Psychotherapie noch stumm und zieht sich ins Innere zurück. Darum gilt Scham auch als „Aschenputtel der Gefühle“.

Die Scham ermöglicht erst das Gewissen. Sie wird in der frühen Kindheit erlernt und in höchst individueller Syntax verinnerlicht, die daher schwer zu entschlüsseln ist. Das Schamgefühl ist im Allgemeinen an Todesangst und Erfahrungen der Abhängigkeit wie Hilflosigkeit gebunden, die ein Baby dann erlebt, wenn es sich mit der ganzen Intensität seiner Triebe und Bedürfnisse konfrontiert sieht, sich dabei aber den Anforderungen und Erwartungen seines Umfelds anpassen muss. Zu Todesangst, Erfahrung von Abhängigkeit und Hilflosigkeit kommen, je nach Intensität der Impulse und der entsprechenden Reaktion des Umfelds, heftige Gefühle von Scham, Eifersucht und Demütigung hinzu.

Scham ist ein Warnsignal an unser Ich, dass es sich in Konflikt mit und zwischen den von ihm verinnerlichten psychischen Instanzen befindet (Ich, Über-Ich, Ich-Ideal). Es ist zugleich ein Gefühl, das uns die Tatsache einer psychischen Realität vor Augen führt, deren intime Syntax uns unklar bleibt, während wir dazu neigen, ihre Existenz zu leugnen. Die Schamerfahrung besitzt daher auch das Potenzial, innere Spaltungen zu beheben, persönliches Wachstum und Einsicht zu fördern. Wer seine Scham leugnet oder sie aus dem Selbstverständnis ausschließt, bleibt in der Entwicklung stecken.

Der biblische Mythos von der Vertreibung aus dem Garten Eden beleuchtet diesen positiven Aspekt bei der Entstehung des Schamgefühls, sowie die Rolle, die es in der Entwicklung menschlicher Zivilisation spielt. Diese Geschichte illustriert den Zusammenhang zwischen Begierde und Scham, zwischen der eigenen Selbsterkenntnis und der Erkenntnis des anderen. Adam und Eva schämen sich, weil sie sich ihrer Sexualität bewusst werden, also jenes sie überwältigenden Verlangens, einander „zu erkennen“. Das Trauma der Sexualität und der Schmerz der Erkenntnis hängen voneinander ab. Aus psychologischer Sicht bestraft Gott seine Geschöpfe im Grunde nicht dafür, dass sie vom Baum der Erkenntnis aßen, vielmehr vermenschlicht er sie. Indem Gott den ersten Menschen aus dem Paradies verbannt, spricht er ihm die Schamlosigkeit ab. Zugleich ermöglicht er ihm aber auch geistiges und spirituelles Wachstum: Adam und Eva müssen fortan in dem Bewusstsein leben, dass Gott sie nicht bedingungslos liebt und dass der Nächste – und die Welt als solche – eine eigene, von ihnen separate Existenz hat. Das Buch Genesis erkennt damit eine wichtige Tatsache des Lebens an: Wissen und Wahrheit stellen zwar die geistige Nahrung des Menschen dar, doch dabei ist der Drang nach Selbsterkenntnis – genauso wie die sexuelle Verführung – stets mit Scham verbunden. Die Verschmelzung von Lust und Scham bildet eine der Voraussetzungen für die Entwicklung menschlicher Kultur.

Die Feinde der israelischen Demokratie sind schamlos, nicht aber ihre Freunde. Die Herausforderung, vor der sie derzeit stehen, besteht darin, ihre Beschämung in politisches Handeln umzusetzen. So schwer fassbar und verborgen das Schamgefühl auch sein mag, es mischt sich in das öffentliche Leben ein. Beschämung und Schande kann Nationen in den Krieg führen. Scham verfügt über die Macht, politische und soziale Prozesse zu radikalisieren oder zu lähmen, Organisationen, Gruppen oder Nationen daran zu hindern, sich an die verändernde Realität anzupassen. Sie kann sie aber auch dazu bewegen, zu versuchen, diese Realität zu beeinflussen.
Elfriede Jelinek, Literaturnobelpreisträgerin im Jahre 2004, sieht in der Scham etwas eminent Politisches. Sie betonte die unterschiedliche Haltung der politisch Rechten und Linken zur Scham.

Die Rechte, behauptet Jelinek, sei unfähig, sich zu schämen. Es reicht aber weder aus, diese Charaktereigenschaft der Rechten auf die Psychologie der einen oder anderen Führerfigur zurückzuführen (Menachem Begins Psychologie unterscheidet sich wesentlich von der Benjamin Netanjahus), noch auf die Werteskalen oder das Menschenbild der Rechten. Im Grunde ist die Rechte eine Gemeinschaft, die sich aus dem gemeinsamen Erleben, nicht aber aus einer geteilten Ideologie heraus bildet. Die Schamlosigkeit, die die politische Rechte kennzeichnet, ist ein wichtiger Teil der rechten Erlebnis, und hängt eng mit ihrer Geschichtswahrnehmung zusammen. Die der politischen Rechten eigene Tendenz besteht darin, sich selbst zu jedem gegebenen historischen Zeitpunkt als Maßstab des Wahren und als Inbegriff des Normativen wahrzunehmen. Für die Rechte stellt die Gegenwart – wie für die Religion – keinen Faktor dar, der Nachdenken oder Hinterfragen erforderlich machte. Der Mensch, für die Rechte, soll eins mit der Zeit sein, nicht getrennt von ihr. Die Zeit bildet ein Kontinuum und der Mensch darf sich auf ihrer Achse höchstens als Gewinner oder Verlierer der Geschichte einordnen.

Die europäische Rechte etwa wird Auschwitz nie als „Zivilisationsbruch“ oder „Zeitenwende“ begreifen – nie als Ausdruck eines moralischen, politischen wie ideologischen Versagens ihres Menschenbildes, somit auch nicht als Fallbeispiel, aus dem etwas über die menschliche Natur gelernt werden könnte, geschweige denn über das Verhältnis zwischen Nation, Führer und Gesetz.

Die Rechte kann Auschwitz höchstens als Ausdruck einer politischen Niederlage ansehen. Auch für die israelische Rechte ist Auschwitz kein Kapitel der Weltgeschichte, aus dem man etwas Allgemeingültiges über das Unwesen des Faschismus lernen kann, sondern höchstens ein Kapitel in der Geschichte der Juden, das ihnen nicht wieder passieren darf. Somit wird Auschwitz lediglich das Zionismus legitimieren, nicht dessen Schwächen oder Problematik. Die Knesset-Abgeordneten der religiös-zionistischen Koalitionsparteien werden niemals die Ähnlichkeit des von ihnen derzeit propagierten Gesetzes, welches Ärzten erlaubt, nicht-jüdischen Patienten die Behandlung zu verweigern, mit den vom Reichstag erlassenen „Gleichschaltungs-” und „Reichsbürgergesetzen“ erkennen. Diese, wir erinnern uns, bildeten die rechtliche Grundlage für die Verwandlung der demokratischen Weimarer Republik in einen totalitären Staat, dessen Zweck es war, die nationalsozialistische Ideologie allen Bürgern gewaltsam aufzuzwingen. Mit Hinblick auf die Ermordung Jizchak Rabins tut sich die israelische Rechte schwer, hierin einen hinreichenden Grund für die Gewissensprüfung zu erblicken. Ihr erscheint die politisch motivierte Ermordung Rabins durch einen rechten Attentäter lediglich als logische Folge des Scheiterns der Osloer Abkommen, nurmehr als (zirkel-)schlüssiger Beweis für das Versagen der Linken, Sicherheit zu schaffen.

Die Linke ist ob der Verbrechen des Stalinismus beschämt, die sie als Fehlinterpretation und kriminelle Entartung sozialistischen Denkens ansieht. Die deutsche Linke schämt sich für die Verwandlung des SPD-Vorsitzenden und ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum „besten Freund“ Wladimir Putins. Die Rechte, hingegen, würde sich nie für Benjamin Netanjahu schämen (geschweige denn für Aryeh Deri, Mosche Katzav, Ehud Olmert oder Avraham Hirschson, die allesamt bereits rechtskräftig verurteilt wurden). Der Grund dafür liegt nicht darin, dass die Rechte demokratisch gewählt wurde oder dem Wähler nach dem Munde redet. Wer in Israel rechts wählt, verschafft sich zugleich einen Freibrief, um zu sich selbst und dem politisch-gesellschaftlichen Geschehen auf Distanz zu gehen. Dabei gilt allein die bloße Tatsache, dass eine Führungsperson an der Macht bleiben konnte, als ausreichender Beweis dafür, dass sie das richtige Zeug zum Führer hat.

Es ist äußerst zweifelhaft, ob ein Parteiführer der europäischen und amerikanischen Rechtsextremen das mörderische Naziregime je als Perversion der eigenen Rassenideologie weißer Vorherrschaft (white supremacy) anerkennen könnte. Den Aufstieg und Fall des deutschen Faschismus erzählt sich die Rechte als eine Geschichte von Niederlage und Fehlschlag, nicht aber als die einer politischen und moralischen Katastrophe, derer man sich schämen müsste. Vielmehr hätten sich aus Sicht der politischen Rechten gerade die Linken — nicht die Rechten — für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu schämen, habe doch der Faschismus nicht zwangsläufig zu solch verheerenden Zerstörungen und Gräueltaten führen müssen, so das ausweichende Argument. Die Linke habe sich daher für den Mord an Rabin oder für Auschwitz zu schämen – nicht die Rechte. Rabin sei ermordet worden, weil sich die Rechte durch den Osloer Friedensprozess bedroht gefühlt habe, während der Antisemitismus nicht so mörderisch geworden wäre, hätte man Hitler nicht derart in die Enge getrieben. Egal wie stark und gewalttätig die Rechte gerade sein mag, es ist immer die Linke, der sie für das Scheitern der eigenen Politik die Schuld gibt. Wenn nicht gerade für Verrat, dann für einen Mangel an Mitgefühl und Arroganz. Was das mit Scham zu tun hat?

Scham erinnert den Menschen daran, dass er in sich gespalten ist, dass es eine Lücke gibt zwischen dem, was man zu sein glaubt, und dem, was man wirklich ist (unbewusste Wahrheiten, Impulse und Fantasien, inneres Kind); dass es eine Kluft gibt, zwischen dem Menschen und seiner Welt und Zeit, in der der Mensch lebt. Die Verdrängung der Scham ist Teil jenes Kampfes, den die politische Rechte gegen diese Spaltung führt. Die Linke hingegen genießt diese Spaltung tendenziell etwas zu sehr. Sie rechtfertigt mit der Scham sowohl ihre voyeuristische Einstellung als auch ihre distanzierte Haltung zur politischen Realität.

Indes hält die israelische Linke stets einen Ehrenplatz bereit für diejenigen, die sich jeweils in Opposition zur eigenen Position befinden. Diese ironische, teils verzerrte Perspektive führt nicht selten dazu, dass sich viele Linke sogar nach ihrer Niederlage „auf der Siegerseite“ sehen („was kann man nach 50 Jahren Militärbesatzung über ein anderes Volk schon anderes erwarten“ usw.).

Anstatt die eigene Scham und Beschränkung zu akzeptieren, zieht die radikale Linke den „Narzissmus der kleinen Differenzen“ der solidarischen Schicksalsgemeinschaft vor. Es ist, wie bereits erwähnt, schwierig, Menschen, die sich schämen, auf die Straße zu bringen. Aber wir dürfen uns nicht von der Scham in unsere Häuser sperren und in einen Zustand der Zersplitterung, Unwissenheit, Blindheit und Lähmung versetzen lassen. Wenn wir Rassismus und den israelischen Faschismus nicht als Teil unserer Selbst anerkennen, können wir beides nicht bekämpfen.
 
 

Aus dem Hebräischen von Jan Kühne
 
 
1 Jenseits des Lustprinzips, Kap. VII.

Letzte Änderung: 02.02.2023  |  Erstellt am: 31.01.2023

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Kommentare

Martin Weimer schreibt
Herzlichen Dank für diesen Artikel, der mich sehr berührt. Sie schaffen eine Verbindung zwischen dem Politischen und dem Individuellen auf der Grundlage der Schamproblematik, die einen zur vorsichtigen Wahrnehmung eigener Schamgefühle befähigen kann. Könnten Sie die Quelle von Jellineks Aussagen bekannt machen? Sie haben da offenbar eine Goldader gefunden... Als Gruppenanalytiker schwant mir, dass die Scham auch deswegen ein so fundamentaler Affekt sein könnte, weil sie auf Ausschlussdrohungen basiert: "Bist du nicht so, wie ich dich brauche, dann kann ich mit dir nichts anfangen". Berufspolitisch klagen manche Gruppenanalytiker beredt über die mangelnde Akzeptanz der Gruppenanalyse auf dem Psychotherapiemarkt (in Deutschland). Aber ich habe wiederholt als Gruppenanalytiker meine heftigen Schamgefühle in einer von mir geleiteten Gruppe erlebt, in der ich nichts verstand. Will sagen: auch hier scheint die Schamangst eine nachhaltige Rolle zu spielen. Ihr Artikel macht Lust zum Weiterdenken: haben Sie herzliche Dank dafür!

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