Den Blick für das Lokale

Den Blick für das Lokale

Gespräch mit Berthold Vogel

Es klang nicht schlecht, als die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot vor ein paar Jahren eine Republik Europa entwarf, die sich über die Beteiligung der Regionen legitimierte. Der Leiter des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen, Berthold Vogel, leitet das Projekt für das Soziale-Orte-Konzept, das mit Feldforschungsmethoden erforscht, wie die Provinz befindet. Jutta Roitsch hat mit ihm gesprochen.

Jutta Roitsch: An elf Instituten und Universitäten forschen Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler in den nächsten drei Jahren über den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieses umfangreiche Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung signalisiert, dass in dieser Republik im demokratischen Fundament etwas bröckelt oder ins Rutschen gerät. Von Schieflagen ist die Rede, von abgehängten Menschen und Regionen. Mit dem Wort „Zusammenhalt“ wird Harmonie, Wärme und Solidarität verbunden. Ist es das, was verloren gegangen ist? Oder meint „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ etwas völlig anderes: Die Verständigung über ein demokratisches Gemeinwesen? Und die Frage: Wie und mit wem wollen wir leben?

Berthold Vogel: Ich bin überzeugt, dass die beiden von Ihnen genannten Aspekte wichtig sind, wenn wir über Zusammenhalt forschen. Allerdings würde ich aus meiner Perspektive sagen: Zusammenhalt – das sind leistungsfähige öffentliche Infrastrukturen und stabile sozial- und rechtsstaatliche Institutionen. Zusammenhalt entsteht über die Frage der Konstitution der öffentlichen Angelegenheiten. Gemeinwohl und Gemeinwesen zu ermöglichen bedeutet aber noch lange nicht, dass wir uns alle mögen oder einander solidarisch zugewandt sein müssen. Wir können sehr unterschiedliche Interessen haben. Aber wir sollten einander vertrauen können. Institutionell und infrastrukturell gesichertes Vertrauen reicht vollkommen aus für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ja, es ist schon viel gewonnen, wenn wir das gut hinbekommen.

Dieses Vertrauen ist aber gerade im vergangenen Jahr der Pandemie sehr erschüttert worden. Die vorhandenen Schwächen im Föderalismus sind sichtbarer geworden. Hat das Ihre Motivation bestärkt, genauer hinzusehen?

Unbedingt. In der Tat hat mich die Pandemie darin bestärkt, dass wir starke und resiliente öffentliche Güter und Infrastrukturen benötigen, wenn wir in gesellschaftlichen Stresssituationen nicht den Gemeinsinn verlieren wollen, der für unsere Demokratie so wichtig ist. Starke und resiliente öffentliche Güter und Infrastrukturen erfordern aber eine handlungsfähige und – willige Politik – auf allen Ebenen: europäisch, im Bund, in den Ländern und kommunal vor Ort. Interessant ist ja, dass zu Beginn der Pandemie das Vertrauen in Staat, Politik und öffentliche Einrichtungen sehr groß war. Hier gibt es seit Beginn des Jahres 2021 einen klaren Bruch. Irritierend finde ich, dass die Politik diesen Vertrauensvorschuss nicht nutzen konnte, sondern im Grunde ihre Maßnahmen zwischen zweiter und dritter Welle der Pandemie mehr oder weniger storniert hat. Eine Zäsur ist für mich die sogenannte Entschuldigung der Kanzlerin vor Ostern. Zum einen weiß ich nicht, wofür sie sich entschuldigt hat (es ging ja um strengere Maßnahmen zum Gesundheitsschutz), zum anderen herrscht seitdem politischer Stillstand. Obwohl eine klare Mehrheit der Bevölkerung harte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie fordert, irrlichtert die Bundes- und Landespolitik um Öffnungsphantasien herum und empfiehlt kontingente Modellprojekte wie Tübingen oder Rostock als Lösung, die allerdings zu Beginn der dritten Welle krachend scheitern. Ja, ich bin auch für Regionalisierung, aber dann im Sinne der Null-COVID-Strategie, die von den lokalen Gegebenheiten her denkt. Aber nicht im Sinne von Lockerungsversprechen, sondern von harten Begrenzungsstrategien. Kurzum: Ich denke nicht, dass der Föderalismus das Problem ist, sondern die Sorge der Politik, vermeintlich Unpopuläres zu tun. Ich würde sogar umgekehrt sagen: Eine Politik der öffentlichen Verantwortung und Solidarität muss im Lokalen beginnen. Das hat aber nichts mit Lokallobbyismus à la Boris Palmer zu tun.
Fachwerkhäuser in Waldeck
Fachwerkhäuser in Waldeck

In Ihrem Projekt in Göttingen, das Sie jetzt in einer sehr anschaulichen Broschüre erstmals öffentlich vorgestellt haben, gehen Sie und Ihr Team einen sehr praktischen Weg: Sie machen das, was einmal Feldforschung genannt wurde. Sie verlassen die Universität und das Institut. Sie nennen das „eine Forschungsreise zur Wirklichkeit“? Warum dieser Ansatz und warum ging Ihre Forschungsreise in einen Landkreis in Nordhessen (Waldeck Frankenberg) und einen in Südthüringen (Landkreis Saalfeld-Rudolstadt)? Zwei landschaftlich idyllische Orte mit Fachwerkhäusern und Schieferdächern? Warum diese Idylle?

Beide Regionen haben landschaftliche Reize und eine interessante, lokaltypische Architektur. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir es hier mit einer Idylle zu tun haben. Wer genau hinschaut, der und die sehen Regionen, die zu kämpfen haben – mit Leerstand in den Ortskernen, teils mit Verfall von Gewerbe- und Privatimmobilien, mit der Landflucht der jungen Leute, mit der Trauer der Älteren, die ihre Kinder und Enkel nur noch an Feiertagen oder in den Sommerferien sehen und mit den Mühen des Pendlerdaseins, denn vor Ort ist wenig Erwerbsarbeit geblieben. Gleichwohl – und das ist bemerkenswert – kämpfen die, die da sind und bleiben wollen, um ihre Orte. Wenigstens einige von ihnen tun das. Aber das reicht ja schon. Man gibt sich nicht auf, denn die Leute wissen, auf die Situation vor Ort kommt es an. Und das ist auch meine wissenschaftliche Motivation, in die Provinz, in die Peripherie mit meinen Projekten zu gehen. Denn es ist doch klar: Die Menschen beurteilen ihre Gesellschaft nicht aus der Perspektive der Fragen, die in Berlin, London oder Rom verhandelt werden, sondern aus der Perspektive derer, die morgens vor die Haustür treten, zum Pendlerzug eilen, die Kinder in den Kindergarten bringen oder die Eltern im Pflegeheim besuchen. Das ist der soziale Alltag, und wenn dessen Grundlage brüchig wird, weil der Zug nicht fährt, weil die Schule der Kinder marode Klassenzimmer hat und die Pflegekräfte der Eltern nur noch überfordert sind, dann entsteht gesellschaftliches Unbehagen. Wir müssen wieder den Blick für das Lokale lernen. Dort entstehen Solidarität, aber auch Ressentiment, dort entstehen Gemeinsinn, aber auch Verdruss auf „die Anderen“. Demokratie beginnt vor Ort.

Sie suchen in den beiden Landkreisen nach „sozialen Orten“ oder den Bedingungen, unter denen sie entstehen könnten. Vor zehn Jahren legte eine andere Forschergruppe aus Hamburg und Berlin den Bericht „Über Leben im Umbruch“ vor und schilderte am Beispiel der Stadt Wittenberge an der Elbe die Verwerfungen, die Deindustrialisierung und Neuorientierungen nach dem Ende der DDR. „Soziale Orte“ waren damals die Parkplätze vor den Discountern am Rande der Stadt. Nach den Berichten Ihrer meist jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen aber nicht (mehr) „Penny“ und „KIK“ die Menschen zusammenbringen, sondern Kunst und Kultur. Ist das wirklichkeitsnah?
Eines der historischen Stadttore in der Saalfelder Altstadt
Ein historisches Stadttor in Saalfeld

Auch in Saalfeld oder Waldeck ist es ja nicht ausgeschlossen, dass Parkplätze oder Tankstellen periodisch zu Treffpunkten und öffentlichen Orten werden, an denen vor allem junge Leute zusammenkommen. Aber die Realität in unseren Regionen ist vielfältiger. Kunst und Kultur spielen dabei auch eine wichtige Rolle – zum Beispiel in der Gestaltung öffentlicher Treffpunkte oder als Initiativen, die auch mal ein kritisches Licht auf die Region werfen und schließlich als Ereignisse, die Ausstrahlung über den Ort hinaus haben. Soziale Orte sind ja nicht das andere Wort für Kirchturmpolitik. Vielmehr leben sie gerade von ihrer Ausstrahlungskraft über den Ort hinaus. Und da können Kunst und Kultur wichtige Signale senden.

Aber wen erreichen diese Signale? In dem Kreis in Südthüringen, den Sie ausgewählt haben, machen rechtsextreme Männergruppen immer wieder Schlagzeilen.

Uns erreichen diese Signale – und mich. Ich kannte Saalfeld-Rudolstadt vor meinen Studien überhaupt nicht, wurde dann zu einer lokalen Demokratiekonferenz eingeladen, und so kam eins zum anderen. Mit meiner Kollegin Helena Reingen-Eifler habe ich dann zusammen den Landkreis erkundet und sende jetzt auch positive Signale über den Landkreis nach außen. Deutlich wird, dass der Landkreis viel, viel mehr ist als eine bundesweite Schlagzeile zum Thema Rechtsextremismus. Der Landkreis steht für ein vielfältiges Kulturleben, in dem Fragen der Stadtbegrünung, des Willkommens von Geflüchteten und der Zukunft der lokalen Demokratie diskutiert werden. Wir finden Unternehmen, die sich für junge Leute engagieren und ihnen vor Ort Perspektive geben. Wir sind in Kontakt mit einer engagierten Jugendamtsleiterin, die neue Freiräume für Jugendliche eröffnet. Auch an die jungen Leute soll ja das Signal gehen: Vor Ort habt ihr eine Perspektive, ihr lebt nicht in einem Umfeld, in dem nur noch das Weggehen zählt. Diese Signale sind enorm wichtig und sie müssen nach außen gesendet werden, aber eben auch nach innen.

Mir ist aufgefallen, dass in beiden Landkreisen es vor allem Frauen sind, die Ideen entwickeln, anstoßen, sich aufreiben, sich aber bewusst für den ländlichen Raum, das Dorf entschieden haben. Gibt es einen „Typ Mensch“, der sich nicht für die Großstadt oder das großstädtische Umland entscheidet? Mir ist auch aufgefallen, dass bei diesen Engagierten Fragen wie Schule, Chancen für Kinder und Jugendliche kaum eine Rolle spielen. Auch auf WLAN und Handyempfang pfeifen sie. Die „Absiedelung“ (so nennen Sie es) zu stoppen und mit dem „Homeoffice“ zurück auf das Land zu ziehen, scheint demnach keine Perspektive zu sein. Dazu ein kleiner Ausflug ins Nachbarland Frankreich, in dem nach dem Protest der gelben „Warnwestler“ umfangreiche Programme zur Wiederbelebung des ländlichen Raums aufgelegt worden sind. Dort ist das Dorf für flexible Großstädter überhaupt keine Alternative, wohl aber die Kreisstadt, die einiges zu bieten hat an Infrastruktur. Welche Erkenntnisse haben Sie dazu aus der Forschung vor Ort mitgenommen?

Ob man auf dem Land bzw. in Dorf und Kleinstadt lebt, ist ja bei den meisten Leuten keine Entscheidung aus freien Stücken, sondern abhängig von Herkunft und Verbundenheit mit dem Ort. Die Verbundenheit reicht dabei vom Immobilienbesitz bis zur jahrelangen Vereinszugehörigkeit. In vielen Fällen ist das Leben auf dem Land daher schlicht alternativlos. Aus diesen Gründen sind wir als Gesellschaft auch zur Förderung des Prinzips gleichwertiger Lebensverhältnisse verpflichtet. Es ist ja keine gute politische Idee, zu sagen, wer da oder dort wohnt, hat halt Pech gehabt. Zugleich ist auch allen klar, dass man im Südharz oder in Oberfranken nicht dieselbe Infrastruktur wie in einer Großstadt erwarten kann. Gleichwertigkeit heißt nicht Gleichheit, und das ist den Menschen auch wichtig. Was sehen wir in unserem Fall nun vor Ort? Wir sehen gerade an peripheren Orten – oft wider Erwarten – sehr initiative Menschen, die sich gegen den Trend stellen und Infrastrukturen aufzubauen versuchen, die das Bleiben vor Ort erleichtern und attraktiv machen. Das gilt übrigens für Männer und Frauen, und auch für Jung und Alt. Diese Initiativen zeigen, dass die interessanten Ideen für die Zukunft unseres Zusammenlebens vielleicht gar nicht in den urbanen Zentren entstehen, sondern außerhalb, in den Randlagen. Sie benötigen freilich Verstetigung und finanzielle Unterstützung. Dafür plädieren wir mit unserem Konzept Sozialer Orte.

Gibt es für Sie schon erste Erkenntnisse über Voraussetzungen und Bedingungen für diese Zukunftsideen aus dem ländlichen Raum?

Diese Ideen brauchen Personen und Repräsentantinnen und Repräsentanten. Ideen können viele entstehen, aber am Ende werden sie von konkreten Personen umgesetzt. Es braucht die Ortsbürgermeisterin, die sagt, wir organisieren für die alten Leute vor Ort einen Einkaufsring, und sie muss dafür Mitstreiter gewinnen und es verantworten. Es braucht eine lokale Gruppe von drei bis vier Leuten, die sagen, wir sorgen dafür, dass wir öffentliche Orte gestalten, an denen Menschen zusammenkommen können, Jung und Alt, Alteingesessene und Zugezogene, wir schaffen Kreuzungspunkte und machen sie schön und attraktiv. Es braucht dieses persönliche Engagement. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist – und das ist ein zentrales Ergebnis unserer Studien: Ohne eine öffentliche Infrastruktur in der Fläche läuft das nicht. Öffentliche Institutionen müssen vor Ort sichtbar und ansprechbar sein. Sie bieten den Rechtsrahmen und das finanzielle Wissen, wie man beispielsweise Fördergelder akquirieren kann. Der Rückzug des Staates aus der Fläche hat fatale Folgen, denn er lässt diejenigen alleine zurück, die sich im Sinne von Demokratie, Gemeinsinn und Teilhabe aller zu engagieren bereit sind, sich aber nicht in luftleeren Räumen bewegen können. Oberhand gewinnen langfristig dann die, die gar kein Interesse an gemeinsamen Austausch haben, sondern mit autoritären Konzepten auch lokale Gesellschaften spalten. Kurzum: Ideen für eine vitale und demokratische Gesellschaft brauchen starke rechts- und sozialstaatliche Institutionen vor Ort. Das gilt erst recht in diesen Zeiten – während und nach der Pandemie.

Das Großprojekt „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ läuft nur bis zum Jahr 2024. Was ist dann? Ein dicker Bericht für die Schubladen des Bundesbildungsministeriums und viel Enttäuschung vor Ort, wenn die Gelder für Kunst- und andere Kulturprojekte ausbleiben?

Nun, ich hoffe, dass es uns bis dahin gelungen ist, ein leistungsfähiges und öffentlich gut sichtbares Forschungsinstitut „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ aufzubauen, das an elf Standorten im Land unterschiedliche Perspektiven und Kompetenzen zusammenbringt. Und dann wird es um die Verstetigung gehen – als wissenschaftliche Dauereinrichtung. Insofern liegt in Ihrer Frage das Worst-Case-Szenario: Vier Jahre Forschung, umfangreicher Abschlussbericht und dann haben Politik und Wissenschaft ihre Schuldigkeit getan. So einfach dürfen wir es uns mit diesem Thema nicht machen. Wir in der Wissenschaft stehen hier in der Verantwortung, innovative und der Gesellschaft zugewandte Forschung auf den Weg zu bringen. Und das ist heute wichtiger denn je. Die sozialen Folgen und ökonomischen Lasten der Pandemie werden uns noch lange beschäftigten. Verteilungs- und Wohlstandskonflikte werden den Zusammenhalt unserer Gesellschaften heraus fordern. Wissenschaft steht hier in der Verantwortung und sie sollte in einer demokratischen, vielstimmigen Gesellschaft auch in die Pflicht genommen werden.

Letzte Änderung: 19.07.2021

Berthold Vogel | © Foto: transcript Verlag
Das Soziale-Orte-Konzept

Hrsg.: Georg-August-Universität Göttingen u. a.
Neue Infrastrukturen für gesellschaftlichen Zusammenhalt

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Kommentare

Konrad Elsässer schreibt
außerordentlich lesenswertes Gespräch mit verschiedenen Tiefungsebenen: das Gespräch selbst zwischen der Journalistin und dem Forscher, das Konzept sozialer Orte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die wechselseitige Stadt-Land-Abhängigkeit, die Aktivität und Aktivierung von Menschen ... Ein Gespräch, das Hoffnung macht und für die Gestaltung des eigenen sozialen Orts motiviert!

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