Das sogenannte Wachstumschancengesetz
Als die Freien Demokraten mehr und mehr zur Förderpartei der Wirtschaft degenerierte, tendierte ihre Wählbarkeit sichtbar gegen Null. Die Tatsache, dass sie aus Gründen politischer Arithmetik in die Regierungskoalition aufgenommen werden mussten, hat dem Reform- und Innovationswillen dieser Regierung nicht entsprochen. Peter Kern kommentiert die Intentionen des geplanten Wachstumschancengesetzes.
Die Schurkenrolle ist diesmal weiblich besetzt. Die Familienministerin der Grünen, Frau Paus, wird beschuldigt, das sogenannte Wachstumschancengesetz um seine Chancen zu bringen. Worin bestehen die, und was macht ihre Schuld so groß? Der Wut auf die grüne Ministerin freien Lauf zu lassen, wie es gegenwärtig die Sache der konservativen Presse ist, macht sich einfacher, als die 279 Seiten eines Gesetzentwurfs zu lesen. Das Gesetz aus dem Hause Lindner will weitere Goodies für Unternehmen festschreiben, Begünstigungen, die sich zu den aktuell gewährten 20 Milliarden Investitionsförderung für die Halbleiterindustrie hinzuaddieren. Frau Paus will mit einer Grundsicherung der Armut gegensteuern, die hierzulande jedem fünften Kind droht und veranschlagt dafür 12 Milliarden Euro. Um seiner Widersacherin ordentlich Kontra zu geben, greift Lindner zu einem aktuell beliebten Argument: Das Geld würden doch bloß die Ausländer kassieren. Er drückt dies ein bisschen durch die Blumen aus: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut…Unser Ziel muss es sein, dass Eltern ihr eigenes Einkommen erzielen. Ihnen einfach nur mehr Sozialtransfer zu überweisen, verbessert nicht zwingend die Lebenschancen der Kinder.
Um das von der FDP forcierte Gesetz öffentlich anzupreisen, muss das Vorurteil herhalten. Dies betrifft auch die angeblich gigantische Unternehmensbesteuerung hierzulande. Das neue Gesetz will als eine Art Heftpflaster für eine ständig schmerzende Wunde gesehen werden. Das Recht, seine Steuerlast durch Abschreibungen auf den Maschinenpark zu mindern, ist im Vergleich mit anderen europäischen Ländern in Deutschland aber sehr weitgehend, ein Sachverhalt, der die falschen Tränen über die hohen Sätze ins rechte Licht rückt. Die Konzerne haben zudem eigene Stäbe, die für die Minimierung der zu zahlenden Steuern zuständig sind. Und gerne wird die Konzernzentrale auch dort angesiedelt, wo vom verdienten Gewinn am wenigsten abzutreten ist. Dies waren in der jüngsten Vergangenheit die Niederlande, Irland und Österreich. Dass es, sagen wir, die Siemens oder die Daimler AG nicht dorthin gezogen hat, geht auf den mutmaßlichen geschäftsschädigenden Imageverlust zurück, der im Fall einer Verlagerung zu gewärtigen wäre.
Zum Ausgleich für die angeblich ruinösen Abgaben nun also die in Aussicht gestellte Förderung von Forschungsaktivitäten. Diese Förderung war in der Vergangenheit schon ganz üppig; denn die Unternehmer mit ihren Verbänden hatten schon in vorigen Bundestagsperioden durchgedrückt, sich die Löhne der mit Forschung und Entwicklung Beschäftigten mit bis zu 60 Prozent sponsern zu lassen. Dieses Sponsoring des variablen wird nun auf das konstante Kapital ausgedehnt. Das für die Forschung nötige Equipment kommt als förderwürdig neu hinzu, die für die Durchführung des Forschungs- und Entwicklungsvorhabens erforderlichen… abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, wie es im schönen Juristendeutsch heißt.
70 Prozent der sogenannte Auftragsforschung kann künftig aufs Konto der Staatskasse gehen. Was hat es damit auf sich? Auftragsforschung ist in allen großen Industriezweigen üblich. Man vergibt Aufträge an externe Ingenieurbüros oder Fraunhofer Institute und kauft sich damit wissenschaftliches Knowhow. Laut Gesetzestext ist es zukünftig nicht erforderlich…, dass die im Rahmen der Auftragsforschung anfallenden Aufwendungen des Auftragnehmers im Einzelnen nachgewiesen werden müssen. Dies dient insbesondere der Verfahrensvereinfachung. Man bekommt Geld vom Staat (statt ihm welches zu zahlen), und muss nicht mal nachweisen, wofür. Der liberale Kampf gegen die Fesseln der Bürokratie hat seine Vorteile.
Das ökonomisches Wachstum versprechende Gesetz sieht Prämien für Klimaschutz-Investitionen vor. Wer die Prämie erhalten will, verpflichtet sich, die Energie- und Ressourceneffizienz seiner Betriebsstätte zu verbessern. Auch ist die diesen Zweck unterstützende Digitalisierung der betrieblichen Prozesse förderfähig. Und es geht auch hier nicht um Peanuts; bis zu 30 Mio. Euro kann ein Unternehmen mit Hilfe dieser Förderlinie kassieren.
Der Korporatismus, einmal die Deutschland AG genannt, findet gegenwärtig zu Bedingungen statt, die für die amtierende Bundesregierung denkbar ungünstig sind. Die Ampelkoalition (abzüglich ihres gelben Farbanteils) sieht sich von den Unternehmen erpresst bei ihrer Anstrengung, dem Klimawandel durch Decarbonisierung der Produktionsprozesse gegenzusteuern. Die Unternehmen lehnen sich zurück und sagen: „Okay, wir sind dabei, aber das kostet dich was. Und bist du nicht willig zu zahlen, dann gehen wir woanders hin mit unseren Investitionen. Mister Biden mit seinem Inflation Reduction Act wirbt mit vielen Dollars um uns.“ Die Regierung befürchtet eine verzögerte transformative Investitionsbereitschaft des Wirtschaftsstandortes Deutschland, heißt es in dem Gesetzentwurf. Der gespreizte Satz umschreibt die Angst vor der ausbleibenden Investitionsbereitschaft der Vorstände, denn ein Wirtschaftsstandort ist kein ökonomisches Subjekt, aber die Herren und Damen Vorstände sind es.
Das ausstehende Gesetz will die Liquiditätssituation der Unternehmen verbessern. Diese Formulierung unterstellt, es sei durchgehend schlecht um sie bestellt. Es verspricht eine Reform der Thesaurierungsbegünstigung nach Paragraph 34a EstG und eine Steigerung der Attraktivität der Option zur Körperschaftsbesteuerung nach Paragraph 1a KStG. Natürlich weiß kein Mensch außerhalb der begünstigten Camorra, was damit gemeint ist, und die Qualität unserer Qualitätspresse bemisst sich daran, die Entschlüsselung solcher Hieroglyphen den Fachzeitschriften des Steuerrechts zu überlassen.
Um auf den ungleichen Kampf zwischen Frau Paus und Herrn Lindner zurückzukommen. Der FDP-Mann bemüht ein Beispiel, um Frau Paus Pläne zur Kinder-Grundsicherung zu torpedieren: Eine fünfköpfige Familie, die erhält heute schätzungsweise 36.000 bis 38.000 Euro im Jahr vom Steuerzahler. Überproportional viele dieser Familien haben eine Einwanderungsgeschichte und stehen zunächst nur theoretisch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, weil ihnen die Qualifikationen fehlen. Aus meiner Sicht hilft es da wenig, ihnen jetzt hohe zusätzliche Transfers zu zahlen, seien es 1000 oder gar 3000 Euro pro Jahr. Neben dem vom AfD-Plakat abgelesenen Verweis auf die gebärfreudige Ausländerin ist außerdem bemerkenswert, dass dem Herrn Lindner ein paar lumpige Tausender, sollten sie an die Falschen gehen, plötzlich als eine beträchtliche Summe gelten. Frau Paus argumentiert mit der Statistik. Danach liegt das Armutsrisiko in der Mehrzahl der Fälle bei den Alleinerziehenden und ihren Kindern. Nix mit Ausländern und Großfamilie. 5,6 Millionen Kids könnten von der Grundsicherung profitieren.
Letzte Änderung: 24.08.2023 | Erstellt am: 22.08.2023
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