Das ist der Moment, um Farbe zu bekennen

Das ist der Moment, um Farbe zu bekennen

Nach dem Hamas-Überfall in Israel
Terrorangriff der Hamas auf Israel | © Screenshot

Wenn plötzlich die Mörder in Massen über die Grenze kommen, gibt es keine Möglichkeit zur spontanen Gegenwehr. Noch hilfloser ist, wer weit weg vom Geschehen lebt und Verwandte und Freunde in Not sieht, verletzt weiß oder verloren hat. Der österreichischer Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici, der seit 1964 in Wien lebt, reagiert auf den terroristischen Überfall der Hamas.

Fernab meiner Nächsten in Israel bin ich ihnen in diesen Tagen näher noch als sonst. Ich folge den hebräischen Sondersendungen. Ich vergrabe mich in die sozialen Medien. Ich höre von jüdischen Bekannten, dessen Angehörige umgebracht wurden. Alle sorgen sich um ihre Liebsten. Ich rufe meine Verwandten an. Mein Bruder, ein Arzt, berichtet mir von den Verwundeten im Krankenhaus, von vielen, die mit Kopfschuss eingeliefert werden. Die Dschihadisten fielen über ein Trance-Festival her, um wahllos Menschen abzuschlachten. Unter den zahllosen Toten, sagt mein Bruder, ist der Sohn seines Kollegen.

Die Hamas schickte Mordbanden über die Grenze, um Unschuldige zu töten. Zu Hunderten zogen sie los, drangen mitten am Feiertag in jüdische Dörfer und Städte ein. Sie erschossen, wen immer sie auf der Straße trafen. Sie brachen in Wohnungen ein. Sie gingen von einem Haus zum nächsten. Die Mörder klopften an die Türen der Bunker, hinter denen sich Kinder, Eltern, Alte verschanzt hatten. Sie rotteten ganze Familien aus. Sie nahmen manche als Geiseln mit. Sie vergewaltigten Frauen. Sie drehten von all dem Filme. Sie riefen dabei unentwegt: „Allahu Akbar“. Sie schändeten die Leichen, luden sie auf Pickup Trucks, um mit ihren Waffen auf den halbnackten Toten thronend in Gaza einzufahren.

Nichts davon ist ein legitimer Kampf. Die Hamas regiert über ein Gebiet und unterhält eine Armee mit Waffen und Uniformen. Ihre Raketen sollen zivile Orte treffen. Von Kriegsverbrechen ist hier zu sprechen, und sie sind nicht nur ein Mittel zum Zweck, sind kein Kollateralschaden, der versehentlich entstand oder in Kauf genommen wird. Das Kriegsverbrechen ist das eigentliche Ziel. Die eigene Bevölkerung wird zum Schutzschild des Terrorregimes, das sie unterdrückt. Die Massaker an Juden werden nicht geleugnet, sondern zelebriert. Alles wird auf den Videos der Hamas festgehalten.

Wer jetzt angesichts der Aufnahmen diese Untaten durch den Verweis auf die israelische Besatzung relativiert, verteidigt die Massenmörder. Zweifellos kann nicht wenig an israelischer Politik kritisiert werden, aber nichts rechtfertigt das Vorgehen der Hamas.

Während in Israel die Dschihadisten noch mordeten, zogen in Wien – aber auch in anderen europäischen Städten – schon ihre politischen Anhänger durch die Straßen. Sie, die gerne vorgeben, das Leid des palästinensischen Volkes lindern zu wollen, feierten wieder einmal offen das Abschlachten jüdischer Menschen, und – tatsächlich – sind es jüdische Einrichtungen in der Diaspora – Synagogen, Schulen, Gemeindezentren – die an solchen Tagen ins Visier des Hasses und des Terrors geraten.

Das ist der Moment, da es gilt, jenseits der Sonntagsreden und Erinnerungsrituale Farbe zu bekennen. Der Kampf gegen Antisemitismus kann nicht redlich geführt werden, ohne für das Existenzrecht und die Sicherheit Israels und seiner Zivilgesellschaft einzustehen.
 
 
 
 
Der Beitrag erschien am 09.10.2023 im Wiener „Falter“ als spontane Reaktion Doron Rabinovicis auf die Ereignisse in Israel.

Letzte Änderung: 17.10.2023  |  Erstellt am: 17.10.2023

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Bereits im Jahr 1924 machte Helmuth Plessner als der Begründer der Göttinger Soziologie darauf aufmerksam, dass ein Kampf auf Leben und Tod stets einer Form bedarf, nach der schon die Seele und die Geistigkeit des Menschen unabweisbar verlangen. Die Worte des Heeresinspekteurs lassen angesichts dessen jedoch aufhorchen, wenn Alfons Mais jüngst konzediert, dass die Bundeswehr mehr oder weniger "blank" dasteht und fortgesetzt über keine Form verfügt. Zumindest die deutschen Streitkräfte sind daher nicht einmal im Ansatz dazu befähigt, notwendig Farbe zu bekennen und in die Schlacht gegen den ohnehin allfälligen Antisemitismus zu ziehen. Die regierungsamtlich aktuell verlautbarten Worte von der Solidarität in der gegenwärtig vor allem im Nahen Osten militärisch ausgefochtenen Auseinandersetzung bleiben somit leer. Zwar eröffnete hiesig bereits am 17. Juli 1985 ein Forschungsinstitut mit dem Anspruch, eine gemeinsam von den Naturwissenschaften, der Medizin, den Geisteswissenschaften und den Sozialwissenschaften auszuarbeitende Kategorie zu liefern. Aber das einst in Blaubeuren ansässige Institut ist inzwischen wieder geschlossen worden. Offenbar ist es hoheitlich schlicht nicht erwünscht, insbesondere die eigenen Soldaten davor zu bewahren, für eine falsche Totalität zu sterben.
bo schreibt
Vielen Dank für diesen Beitrag! Meines Erachtens gab es für die Kritik an Israels Siedlungspolitik und für das Engagement für die von allen Seiten als Schachfiguren missbrauchte palästinensische Bevölkerung immer wieder Grund und Anlass. Doch anlässlich der Schlächterei der Hamas am 7.Oktober an pro-palästinensischen Manifestationen teilzunehmen halte ich für eine moralisch verwerfliche und politisch verfehlte Verirrung - egal, ob sie auf dem Campus der Stanford University oder in Neukölln stattfinden.

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