»Da hilft kein Glaube«

»Da hilft kein Glaube«

Cinzia Sciutos Manifest wider den Multikulturalismus und für eine strikte Laizität in Europa
Cinzia Sciuto

Die Philosophin Cinzia Sciuto greift mit ihrer Streitschrift „Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft“ eine – gemessen an unseren ethischen Maßstäben – unredliche Haltung an, die einer Politik der Ungleichheit und der Sonderrechte in die Hände spielt. Jutta Roitsch stellt das Buch vor.

Was verbindet die viel beschworene französische Laizität mit dem deutschen Multikulturalismus und dem italienischen Machismo aus katholischer Tradition? Die italienische Philosophin, Bloggerin und Autorin Cinzia Sciuto verweist alle drei Themen in den Bereich des Glaubens und räumt mit starken Thesen linke Gewissheiten vom Tisch, in denen Themen wie Identität, Religion oder radikaler Islamismus gern als „rechtslastig“ gelten und ausgeklammert werden. In ihrem schmalen Buch, das vor zwei Jahren in Italien bei Feltrinelli als „Manifest“ mit dem frei übersetzten Titel „Da hilft kein Glaube“ erschienen ist und jetzt in Deutsch nur „Die Fallen des Multikulturalismus“ heißt, scheut sie keinen Konflikt: Weder mit den französischen Intellektuellen und Vereinigungen, die seit Jahren als wortmächtige Lobby vor einer „Islamophobie“ warnen, noch mit Verfechtern eines Multikulturalismus mit Schutz-und Sonderrechten für „Kulturen“, in dem sie aber nur Reaktionäres feststellen kann. „In der öffentlichen Diskussion ist nichts heilig.“ Das ist so einer ihrer Sätze in ihrem Manifest, das sich im Deutschen eher wie eine angriffslustige, allerdings klug begründete Streitschrift liest.

Sciuto stößt in Deutschland eine Diskussion an, die fundiert noch nicht begonnen hat, aber in Frankreich nach dem bestialischen Mord an dem Geschichtslehrer Samuel Paty und den Reden Emmanuel Macrons gegen den radikalen Islam und den islamistischen Separatismus voll entbrannt ist. Für Europa, so lautet Cinzia Sciutos Grundthese, ist der religiöse Fundamentalismus die größte Herausforderung für ein „ziviles Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft“. In diese Herausforderung bezieht sie Teile der katholischen Kirche oder deren reaktionäre Glaubensorganisationen in Italien oder Polen ein. Ihr Hauptanliegen aber kreist um die Frage, was ethnisch, kulturell und religiös gemischte Gesellschaften, die sich in Europa durch Kriege, Flucht, Vertreibung, Einwanderung oder das Ende der Kolonialherrschaft entwickelt haben, zusammenhalten könnte. Sie sucht in der Auseinandersetzung mit dem französischen Modell der Trennung von Staat und (katholischer) Kirche oder den deutschen Modellen eines Multikulturalismus nach dem „Kern gemeinsamer substanzieller Werte“. Dieser Kern könne ruhig klein sein, müsse aber stabil sein: sie findet diesen Kern in der „strikten Laizität“ und den Menschenrechten.

Der Stolperstein für die Franzosen liegt in dem Wort „strikt“, bei den Deutschen in der Laizität schlechthin. Sie lässt sich weder übersetzen, noch in das gegenwärtige Grundgesetz integrieren, das den christlichen Kirchen und jüdischen, zunehmend auch muslimischen Gemeinden Privilegien und Sonderrechte einräumt wie den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen. An diesem Punkt könnte die Bereitschaft der Deutschen schon beendet sein, sich die Argumente der Italienerin überhaupt anzusehen.

Die von Sciuto geforderte „strikte“ Laizität rührt unmittelbar an die gegenwärtige Auseinandersetzung in Frankreich, die in aller Härte auf der intellektuellen, politischen und juristischen Ebene geführt wird. Mit ihrem Vorhaben gegen den islamistischen Separatismus, der sich mit eigenen Regeln, unkontrollierten Koranschulen (ausgegeben als Homeschooling) und eigener Gerichtsbarkeit in Gemeinden oder Banlieues eingerichtet hat, versucht die französische Regierung die Kontrolle über Vereine und religiöse Organisationen zurückzugewinnen, die sie mit den viel zitierten Gesetzen aus den Jahren 1901 (große Freiheit für Vereine) und 1905 (Entmachtung der katholischen Kirche bei gleichzeitiger Glaubensfreiheit) abgegeben hatte. Präsident Macron versucht (wie vor ihm bereits ansatzweise Nicolas Sarkozy), die Laizität nicht zu einer republikanischen Religion zu erheben oder erstarren zu lassen, sondern mit ihr verbindliche demokratische Spielregeln aufzustellen und durchzusetzen.

Eine Selbstverständlichkeit ist vor allem das Letztere keineswegs, wie die Erschütterungen in den Schulen nach der Ermordung Patys gezeigt haben: Gegen die republikanischen Stätten der Erziehung und Bildung mobilisieren die islamistischen „Brüder“ in den Klassenzimmern und im Viertel zum Beispiel gegen die öffentlichen Bibliotheken. Die Lehrer und vor allem Lehrerinnen wehren sich ohne große Unterstützung „von oben“ (Schulleitung oder Aufsichtsbehörde) gegen islamistische Zumutungen, zum Beispiel im Literaturunterricht auf eine Lektüre wie Madame Bovary wegen ihres unsittlichen Lebenswandels zu verzichten. Der Einfluss der Eltern und der aus Marokko, Algerien oder der Türkei eingeflogenen Imame auf das, was im Unterricht stattzufinden hat oder nicht, ist groß. Nach und nach beginnen die Pädagogen darüber zu reden, doch handfeste Forschung scheitert bisher an der Laizität französischer Lesart: danach darf kein Lehrer nach der Religiosität oder der Herkunft der Eltern fragen. Franzosen mit Migrationshintergrund gibt es offiziell nicht.

Dagegen hält Cinzia Sciuto: Ein „strikt“ laizistischer Staat hinterfragt genau, „was im Inneren religiöser Gemeinschaften passiert, um die Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten“. Gemessen werden die religiösen Gemeinschaften an den allgemeinen Menschenrechten, der Gleichheit von Mann und Frau, den Chancen für ein selbstbestimmtes Leben. Für die Erziehung und die öffentliche Schule im strikt laizistischen Staat bedeute dies, Kinder mit dem Handwerkszeug der eigenen Emanzipation auszustatten, fordert Sciuto. „Was wir allen Kindern, allen, ohne Ausnahme, gewährleisten müssen, ist eine Erziehung und Ausbildung, die so laizistisch und kritisch wie nur irgend möglich gestaltet ist.“ Auch diese These klingt in Frankreich so selbstverständlich, erst recht nach den Anschlägen auf scharfe Religionskritiker (bei Charlie Hebdo), jüdische Erzieher oder Rabbiner und dem Mord an Samuel Paty, der als Lehrer für Ethik und Werte seine Schülerinnen und Schüler zur Kritikfähigkeit erziehen wollte. Und gleichzeitig schleichen sich die Zweifel ein, wie weit die Regierung Macron mit ihrem Kampf gegen den islamistischen Separatismus kommen wird. Das Gesetzesvorhaben soll jetzt nur noch „zur Stärkung des Respekts vor den republikanischen Prinzipien“ dienen. Respekt vor Prinzipien kann man haben und sie dann doch unterlaufen.

Diesen schillernden Begriff greift auch Cinzia Sciuto im zweiten gewichtigen Teil ihrer Streitschrift auf, in dem sie mit scharfem Verstand den Multikulturalismus auseinandernimmt.

Hier geht es für den deutschen Leser oder die Leserin, die Sciuto irgendwo auf der Linken wähnt, hart zur Sache. Sie verpackt ihre Angriffe auf den Multikulturalismus in viele Zitate führender intellektueller Köpfe (von Charles Taylor bis Kenen Malik, Amin Maalouf , Amartya Sen oder Seyla Benhabib), ihr Literaturverzeichnis enthält ein Fülle von Hinweisen, was um Aufklärung bemühte Menschen schon hätten wissen können.

Ihre These gegen die staatlich geförderte Bewahrung von „Minderheitskulturen“, in denen menschenrechtswidrige Praktiken toleriert werden, liest sich einleuchtend. Es wäre gefährlich, meint sie, wenn man aus Pluralität von Bräuchen, Sitten, Traditionen, Sprachen und Glaubensrichtungen eine „Pluralität von Rechten“ ableite. Eine Pluralität von Rechten, folgert sie, führe zu einer Pluralität von Rechtssystemen oder als Vorstufe zu Gruppenrechten, mit denen „Kulturen“ geschützt werden sollten. „Was genau ist jedoch damit gemeint, wenn man sagt, man wolle eine Kultur ‚bewahren‘ ?“, fragt Sciuto. Und rangiere der Wert der Pluralität kultureller Lebensformen „vor Freiheit, Gerechtigkeit und Würde“ (Zitat Seyla Benhabib). Der multikulturalistische Ansatz sei im Kern reaktionär und rassistisch, denn er befördere radikale und fundamentalistische „Kulturen“ und schwäche die Integration der Einwanderer. „Normalerweise setzen sich innerhalb einer Gruppe die Forderungen der militantesten Ableger durch, häufig sind das auch die am stärksten fundamentalistischen und am wenigsten liberalen Ableger“, schreibt sie.

Eine Politik des Multikulturalismus ist für Cinzia Sciuto eine Politik, die einer konsequenten Politik der Einwanderung ausweicht und sich nicht als eine offene Gesellschaft versteht, die Einwanderer von wo auch immer als gleichwertige Bürgerinnen und Bürger willkommen heißt und ihnen einen echten Status sowie die Staatsangehörigkeit verleiht. Damit greift sie tief in die seit Jahrzehnten schwelende, lange verleugnete und immer wieder halbherzig geführte Diskussion über die deutsche Einwanderungsgesellschaft ein. Und gibt ihr gleichzeitig eine große, neue Dimension, wenn sie für die demokratischen Staaten in Europa, die von Italien über Frankreich, England, die Niederlande oder eben Deutschland alle moderne, komplexe Einwanderungsgesellschaften geworden seien, eine „Bürgersolidarität“ einfordert. „Je weiter die Komplexität zunimmt, desto schärfer müssen Bürgerschaft und ethnisch-religiöse Zugehörigkeit unterschieden werden. Es muss ein Grundstock von Werten ausgemacht werden, die den Kern der Bürgerschaft ausmachen.“ Die italienische Philosophin hat ihren Kern genannt und begründet: strikte Laizität und Menschenrechte. Wer nimmt ihre Herausforderung an?

Letzte Änderung: 15.08.2021

Cinzia Sciuto Die Fallen des Multikulturalismus

Cinzia Sciuto Die Fallen des Multikulturalismus - Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft

Gebunden, 208 Seiten
ISBN: 978-3-85869-886-5
Rotpunktverlag, Zürich, 2020

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