31 Prozent wütender Protest
Umfragen geben Stimmungsbilder wieder, sind aber keine Vorhersagen. Gerade in Frankreich, wo in der Vergangenheit auch die Vorwahlen eine strategische Ausrichtung aufwiesen, ein erheblicher Teil der Wählerschaft also von einem Extrem ins andere wechselte, ist der Demoskopie mit skeptischer Gelassenheit zu begegnen. Und dennoch: Die wachsende Zustimmung zum rechtsradikalen „Rassemblement National“, die Jutta Roitsch beschreibt, ist besorgniserregend.
11. Oktober: In Hamburg-Blankenese versuchten sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz fröhlich lachend an Fischbrötchen und gelobten sich nach einer zweitägigen gemeinsamen Kabinettssitzung „gegenseitige Faszination“. In der „Süddeutschen Zeitung“ geißelte der Schriftsteller und frühere Verlagsboss des Frankfurter Fischer Verlags, Jörg Bong, „Baerbocks Verachtung“, weil die Goethe-Institute in Bordeaux, Lille und Straßburg geschlossen werden sollen (vier weitere von Paris bis Toulouse bleiben bestehen). Und am selben Tag veröffentlichte die Zeitung „Le Monde“ eine Umfrage unter unseren Nachbarinnen und Nachbarn: Sie bestätigt, dass die Franzosen an der guten Laune bei Fischbrötchen und der angeblichen „katastrophalen Ignoranz“ der deutschen Außenministerin an Goethe-Instituten kein Interesse haben. Das diesjährige Stimmungsbild eines führenden Forschungsinstituts belegt vielmehr eine tiefe Unzufriedenheit der Befragten mit der Demokratie, eine wachsende Wut und eine ebenso wachsende Neigung, die rechtsradikale Marine Le Pen vom „Rassemblement National“ für regierungsfähig zu halten.
Seit zehn Jahren befragen Ipsos-Sopra Steria für „Le Monde“, die Jean Jaurès-Stiftung, das Forschungszentrum von Sciences Po (Cevipof) und das Institut Montaigne 1500 repräsentative Personen ab 18 Jahren über französische Brüche oder Verwerfungen (fractures francaises). Die dramatischen Veränderungen in diesem Herbst spiegeln die monatelangen, harten Auseinandersetzungen über die Rentenreform Macrons wider, die er letztlich nur über eine Ausnahmeregelung am Parlament vorbei durchsetzen konnte. Spuren hinterließ aber auch der gewalttätige Aufruhr im gesamten Land nach der Erschießung des 17jährigen Nahel durch einen Polizisten und das Video, das diese Tat bewies.
Innerhalb von zwei Jahren ist die Stimmung im Land gekippt. „Wütenden Protest“ äußerten 2021 31 Prozent der Befragten, jetzt (September 2023) waren es 45 Prozent. Die Zahl der allgemein Unzufriedenen lag bei 51 Prozent. Die Preise, die Inflation und niedrige Löhne treiben die Französinnen und Franzosen um: Für 46 Prozent ist daher die Kaufkraft (pouvoir d’achat) die größte Sorge. Der Krieg in der Ukraine, die Arbeitslosigkeit, die terroristische Bedrohung, die Migration oder die Zukunft des Schulsystems interessieren fünf bis sieben Prozent der Befragten, obwohl die Schulen seit Wochen in den Schlagzeilen sind und Präsident Macron sie nach den gewalttätigen Krawallen, an denen sich viele sehr junge Kids aus den Vorstädten beteiligten, zur Chefsache erklärt hat.
An dem Stimmungsbild fällt auf, dass sich die unzufriedenen und schlecht gelaunten Nachbarn mit der Gegenwart und drängenden Problemen wie dem Klimawandel eher weniger auseinandersetzen, obwohl die „Klimaangst“ in der Gesellschaft zunimmt. 82 Prozent meinen, dass es mit ihrem Land bergab gehe, 34 halten diese Entwicklung für unumkehrbar, darunter wählt jeder zweite die Rechtsextremen. Zu diesem pessimistischen Blick passt auch der nostalgische Seufzer, dass früher alles besser war: Ihn teilen im übrigen nicht nur die Rentner, sondern auch die unter 35jährigen. Zu den „Werten der Vergangenheit“ gesellt sich in diesem Herbst der überwältigende Wunsch der Französinnen und Franzosen nach „einem echten Chef zur Wiederherstellung der Ordnung“: 82 Prozent der Befragten wünschen sich eine autoritäre Führung. Wo sie herkommen soll, bleibt im Ungefähren, denn den politischen Parteien und den gewählten Abgeordneten im Parlament misstrauen die Befragten. Das Vertrauen in Emmanuel Macron liegt in diesem Herbst bei 34 Prozent.
Ausgezahlt hat sich dagegen das sittsame und staatstragende Verhalten der Rechtsradikalen unter Marine Le Pen während der teilweise grobschlächtigen Rentenauseinandersetzung im Parlament. Ihre Partei, den Rassemblement National, halten inzwischen 44 Prozent der Franzosen für fähig, das Land zu regieren (2019 waren es 33 Prozent), nicht zuletzt weil diese Partei nahe an den eigenen Sorgen sei: So sagen es heute 40 Prozent, vor drei Jahren waren es nur 29 Prozent. Welch ein Erfolg für Marine Le Pen, die seit einem Jahr mit allen Mitteln der Propaganda das Bild der nationalen Kümmerin pflegt. So stellen auch die Meinungsforscher Schritt für Schritt und Jahr für Jahr eine Veränderung fest. Zwar seien nach wie vor Zweidrittel der Franzosen überzeugt, dass die Partei Le Pens rechtsradikal sei, aber es wird ihr zunehmend eine Regierungskompetenz zugetraut.
Das gilt für die andere Seite im politischen Parteienspektrum nicht. Die „Unbeugsamen“ des linksextremen Volkstribuns Jean-Luc Mélenchons gelten 57 Prozent der Befragten als eine Gefahr für die Demokratie, die die Gewalt schürten (60 Prozent werfen dies der Partei vor). Auch die jüngsten Inszenierungen der „Insoumis“ in der Nationalversammlung lehnen die Franzosen ab. Mit ihren Tumulten und ihrem Boykottverhalten während der Rentenauseinandersetzungen hätten die „Unbeugsamen“ ein schlechtes Bild abgegeben (die rechten Republikaner schneiden dabei nicht viel besser ab). Für jeden zweiten Franzosen spielen die Mélenchonisten im Parlament eine zu radikale Rolle.
Vertrauen genießen im Augenblick in unserem Nachbarland nur noch wenige Institutionen: Mit 43 Prozent liegt die EU an der Spitze. Ein historisch einmaliges Ergebnis, das aber in der Umfrage angesichts der Europaskepsis von Le Pen bis Mélenchon widersprüchlich bleibt. Gestärkt sind auch die Gewerkschaften aus den Demonstrationen gegen die Rentenreform hervorgegangen: 40 Prozent der Befragten vertrauen ihnen, vor vier Jahren waren dies 12 Prozent weniger. Mit 33 Prozent erhalten die Medien einen Vertrauensvorschuss vor den sogenannten sozialen Medien.
Der Blick zurück auf Zeiten, in denen angeblich alles besser war, blockiert den Blick nach vorn, auf den Klimawandel und die ökologischen wie sozialen Herausforderungen? Diese Fragen lassen sich die Französinnen und Franzosen stellen, schieben aber die Verantwortung gerne auf die Wirtschaft und den Staat: 36 Prozent meinen, dass die Unternehmen ihre Produktion umstellen müssten. Veränderungen in der eigenen Lebensgestaltung halten immerhin 29 Prozent für wichtig. Doch die schlechte Laune und die Neigung zu wütendem Protest überwiegen noch.
13. Oktober: Zwei Tage nach dem nüchternen Blick auf die Stimmung im Land er-schütterte die Gesellschaft der brutale Mord an dem 57jährigen Lehrer Dominique Bernard. Mitten in der Schulzeit und unter den Augen der Schüler stach der 20jährige Mohammed Mogouchov, seit Wochen als „islamistischer Gefährder“ unter polizeilicher Beobachtung, seinen ehemaligen Lehrer für Französisch, Dominique Bernard, auf dem Hof des Schulzentrums Gambetta in Arras mit einem Messer nieder. Er stürmte weiter in die Schule, suchte den Schulleiter und brüllte nach „einem Geschichtslehrer“. Einen Sportlehrer, der den jungen Mann mit einem Stuhl zu verdrängen versuchte, verletzte Mogouchov schwer. Der Attentäter, geboren in der russischen Kaukasusrepublik Inguschetien, lebt seit 2008 mit Mutter und Geschwistern in Frankreich. Der Mord in der nordfranzösischen Stadt geschah wenige Tage vor dem dritten Todestag des Geschichtslehrers Samuel Paty, den der Tscheschene Abdullak Anzorov auf offener Straße enthauptet hatte. Die beiden jungen Männer aus dem Kaukasus und mit russischen Pässen bekannten sich zum Islamischen Staat und dem heiligen Krieg des Dschihad. Ihr erklärtes Ziel: Die republikanische und laizistischen Schule und ihre Lehrer. Sie hätten ihn Demokratie lehren wollen und das sei „die Hölle“, postete Mogouchov im Internet wenige Minuten vor seiner blutigen Tat.
21. Oktober: Nach dem Mord an dem Lehrer, nach der Trauerfeier für Dominique Bernard und nach dem öffentlichen Gedenken an Samuel Paty häuften sich Bombendrohungen gegen Schulen und Hassbotschaften an Lehrer. Erziehungsminister Gabriel Attal und Innenminister Gérald Darmanin berichteten von rund 500 aus den Schulen gemeldeten Vorfällen: Mit dem 7. Oktober und dem grausamen Terror der Hamas in Israel hätten sie kaum zu tun. Der Innenminister sprach vielmehr von „mehr als Tausend Minderjährigen mit einer islamistischen Akte“. In der Lehrerschaft und ihren Gewerkschaften wachsen die Angst und die Unruhe: „Das hätte auch bei uns passieren können“, sagen sie. Der Präsident, die Minister versprachen mehr Schutz und härteres Durchgreifen gegenüber radikalisierten Schülerinnen und Schülern. Ob dieses Versprechen in dieser zutiefst verunsicherten Gesellschaft hilft?
Letzte Änderung: 25.10.2023 | Erstellt am: 25.10.2023