Das Sichtbarwerden der Schwarzen Zivilisationen
Cornelia Wilß sprach im Rahmen einer vom Berliner Verein „FuturAfrik“ organisierten Reise zur Dak’Art 13 unter Leitung von Dr. Ibou Coulibaly Diop mit Professor Maguèye Kassé über das afrikanische Erbe, neue Denkräume, nachhaltige Gesellschaftsentwürfe und warum er skeptisch ist, was die viel diskutierte Rückgabe gestohlener Kulturgüter angeht.
Cornelia Wilß: Herr Professor Kassé, Sie beschäftigen sich auf vielfältige Weise mit Politik und Kultur im Senegal. Neben vielen anderen Aufgaben arbeiten Sie aktuell mit im Kuratorium des „Musée des Civilisations Noires“ (MCN) in Dakar. Was bedeutet „schwarz“ in diesem Zusammenhang?
Maguèye Kassé: „Schwarz“ ist hier nicht als Farbe zu verstehen. Es geht also wörtlich nicht um das Museum der Schwarzen, sondern um das Sichtbarwerden der Schwarzen Zivilisationen in den Epochen der Weltgeschichte. Das Konzept für das „Musée des Civilisations Noires“ ist aus einem essentiellen afrikanischen Blickwinkel erdacht worden und geht unmittelbar auf Léopold Sédar Senghors Projekt der Négritude aus den 1950er Jahren zurück.
Die Thesen des senegalesischen Dichterpräsidenten Senghor (* 9. Oktober 1906 in Joal, Senegal; † 20. Dezember 2001 in Verson, Frankreich) waren unter afrikanischen Intellektuellen zu seinen Lebzeiten umstritten. Seine Ideen hingegen für ein starkes afrikanisches Selbstbewusstsein und seine Vorstellungen vom Panafrikanismus, der die Diaspora einschließt, sind nicht vergessen. Senghor hat zudem die Kultur- und Bildungspolitik unseres Landes als Staatspräsident auf ganz praktische Weise geformt. Ihm ging es darum, dass das antikoloniale Aufbegehren seinen Widerhall im konkreten Handeln fand. In der Erinnerung vieler Senegalesen ist das berühmte „Festival mondial des arts nègres“ heute noch sehr lebendig. Dakar war 1966 die Bühne für ein großartiges Fest der Künste von Afrikanern und Afrikanerinnen aus der ganzen Welt, das Generationen von uns geprägt hat.
Seine Vision eines Museums der Schwarzen Künste und Kulturen hingegen blieb zu seinen Lebzeiten nur eine ideelle Vorstellung. Erst vor einigen Jahren hat die Regierung Senegals chinesischen Partnern und Investoren den Zuschlag gegeben. Sie ließ das Museum nach von Senghor und seinen Gefährten der Negritude-Bewegung gezeichneten Entwürfen bauen. Unter den Ideengebern war auch Alioune Diop (1910-1980), Herausgeber der panafrikanischen Kultur-, Politik- und Literaturzeitschrift Présence Africaine, die 1947 in Paris gegründet und später zu dem berühmten Verlag wurde. Das monumentale Gebäude steht nun bereit und muss belebt werden. Es gab im Frühjahr 2018 einen Workshop mit den Kuratoren und einigen Fachleuten, zu dem der Generaldirektor des Museums eingeladen hatte, um ein Konzept für die zukünftige Nutzung zu entwickeln. Am 6. Dezember 2018 wird das Haus fürs Publikum mit einer großen Ausstellung eröffnet werden. Ich bin gespannt auf die Resonanz!
Welche Überlegungen liegen dem Konzept zugrunde?
Maguèye Kassé: Das Museum muss in jeder Hinsicht etwas Einmaliges, etwas Besonderes sein! Das MIC wird sich nicht als Klon eines europäischen Museums präsentieren. Wir diskutieren intensiv mit Fachleuten auch aus Übersee darüber, welche theoretischen Grundlagen und praktischen Verfahren, Methoden, Techniken und Hilfsmittel wir zugrunde legen, die von afrikanischen Werten und Traditionen inspiriert ist.
Wichtig ist, dass sich Afrikaner und Afrikanerinnen angesprochen fühlen. Das ist für die Kuratoren und Kuratorinnen eine riesige Herausforderung. Wissen Sie, der Bezug zu Museen in Afrika gänzlich anders ist als in Europa. Afrikaner und Afrikanerinnen sind nicht gewohnt, in ein Museum zu gehen. Das ist kein Ort, den sie gewöhnlich aufsuchen. Wir müssen etwas ganz Neues schaffen.
Was meinen Sie damit konkret?
Die Konzeption sollte nicht ethnographisch sein, denn ethnographische Ausstellungen sind oft Avatare kolonialer Ausstellungen, in denen unsere Vorfahren als Nicht-Zivilisierte dargestellt wurden. Ethnographische Objekte können als Bezugspunkte einer Erzählung dienen, doch sie sollten keinesfalls das Herzstück sein, zumindest nicht im weitesten Sinne. Das Museum soll auch nicht anthropologisch ausgerichtet sein. Die Anthropologie hat lange Zeit angeblich die Begründung dafür geliefert, die Menschheit in Rassen zu unterteilen und “Untermenschlichkeit” zu definieren und dadurch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie den Sklavenhandel und die Kolonisation, die als zivilisatorische Missionen dargestellt wurden, legitimiert.
Was hat die schwarze Welt der restlichen Welt gebracht? Wir wünschen uns, dass das „Museum des Civilisations Noires“ eine Wirkungsstätte des Studiums, der Erforschung und der Produktion von Wissen über die Schwarze Welt in der zeitgenössischen Welt sein wird. Kein musealer Ort zur Aufbewahrung von Kunstobjekten, sondern ein lebendiges, dynamisches Labor, in dem junge Leute experimentieren und Zukunftskonzepte entwickeln können. Das Museum soll ein Denk-Raum sein, der innerafrikanische Diskurse und Standpunkte anstößt.
Europa und Afrika diskutieren aktuell über die Rückgabe während der Kolonialzeit gestohlener Kunstobjekte. Frankreich hat zum ersten Mal öffentlich zugestanden, dass der koloniale Raub Unrecht war. Sie haben sich skeptisch über die Rückgabe geäußert. Warum?
Für mich ist die Rückgabe im Kern eine politische Frage. Wie alle Welt bewerte ich positiv, dass nach so vielen Jahren der vergeblichen Forderung nach Rückgabe der uns Afrikanern gestohlenen Objekte ein öffentlicher Diskurs darüber geführt wird. Auch befürworte ich natürlich die Forderung nach Rückgabe von menschlichen Schädeln und Gegenständen von bestimmter religiöser und ritueller Bedeutung, die uns in der Kolonialzeit geraubt wurden.
Ich persönlich bin sehr aber skeptisch aus vielerlei Gründen. Wir werden nie die Objekte, die für uns wichtig waren, finden. Niemals. Viele sind heute im Privatbesitz. Der Raub war zu gewaltig und hat zu lange gedauert, um das heute noch rekonstruieren zu können. Wir müssen uns aber doch fragen: Was fangen wir mit den rituellen Objekten an, die eine Rolle in verschiedenen afrikanischen Gesellschaften gespielt haben? Welches Erbe treten wir an? Wer sind die Erben? Die Geistigkeit, mit der unsere Ahnen mit solchen Objekten umgegangen sind, ist lange verwischt im Bewusstsein der Nachkommen jener, denen diese Objekte einst gestohlen wurden. Wir können doch nicht so tun, als seien die Kulturen stehen geblieben. Inzwischen hat sich die Hybridität der kulturellen Beziehungen so etabliert, dass wir die Bezüge zu diesen Objekten auch in Afrika verloren haben. Der kolonisierte Afrikaner hat in der Schule französischen Formats unter Missachtung afrikanischer Sprachen und Kulturen nicht erfahren, wo er herkommt, wo er steht und wohin er geht. Solange diese Assimilation nicht überwunden ist, ist es Unsinn, sich mit Europa darüber auszutauschen.
Geht es nicht auch um einen Akt der Wiederaneignung des kulturellen Erbes Afrikas. Das könnte doch eine gewisse Wirkung entfalten…
Für wen, frage ich Sie, wird das Spiel gespielt? Geht es um das Erbe Afrikas oder geht es um das schlechte Gewissen Europas? Diese Gegenstände, die jetzt in den Kellern europäischer Museen so wie im Musée Jacque Chirac Quai Branly in Paris gelagert werden, gehören zu bestimmten Orten. Es sind kultische Objekte. Sie sind tief in der Geistigkeit der Afrikaner verhaftet. Das sind keinesfalls Objekte, die man zur Schau stellt. Nirgendwo. Es kommen handfeste praktische Überlegungen hinzu. Was machen wir mit diesen Objekten, wenn sie wieder zurück in Afrika sind? Wo sollen diese aufbewahrt werden? Haben wir die Infrastruktur dafür? Nein! Die Zeit ist noch nicht reif, um positiv auf diese Fragen zu antworten. Die aktuelle Diskussion darf keinesfalls dazu führen, dass sich die Europäer von kolonialer Schuld reinwaschen. Ich fürchte, dass die Rückgabe vor allem eine politische Parole ist, die vor allem der Profilierung Emmanuel Macrons nutzt. Afrikaner und Afrikanerinnen sollten sich daran nicht beteiligen. Finde ich.
Sie engagieren sich für Kultur- und Gesellschaftsfragen. Wie geht das zusammen?
Zu allererst müssen wir Kulturschaffende verstehen, dass Menschen im Senegal zurzeit aufgrund der wirtschaftlichen Lage vor allem anderen mit Überlebensfragen beschäftigt sind. Das Wirtschaftssystem steckt in einer tiefen Krise. Der Wettbewerb unter den Bedingungen der Globalisierung ist hart und unfair. Da bleibt nicht viel Zeit für Kultur und Kunst. Viele ziehen vom Land in die Städte, um Jobs zu finden oder weiter zu migrieren. Jeder Einzelne ist stark mit den Risiken der Moderne konfrontiert, Lebensstile und unsere soziale Ordnung verändern sich rasant. Traditionelle Werte, die in unserer Gesellschaft tief verwurzelt waren, wie Solidarität im Umgang mit den Nachbarn, mit den Brüdern und Schwestern, in der Familie, mit den Alten. Auf diese Entfremdungsprozesse müssen wir als Gesellschaften reagieren. Diese betreffen ja nicht nur die Umbrüche in afrikanischen Ländern. Ich bin oft in Deutschland und Frankreich und anderen Ländern unterwegs und tausche mich mit Künstlerinnen und Künstlern, Denkerinnen und Denkern, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus. Meine Erfahrung ist, dass sich uns allen, wenn man sieht und versteht, was der Nachbar macht, neue Denkhorizonte eröffnen. Davon sollten wir Gebrauch machen, wann immer es geht!
Sie haben die erfolgreiche Ausstellung „Quelle humanité pour demain?“ des senegalesischen Künstlers Abdoulaye Diallo während der diesjährigen Biennale kuratiert. Das Menschsein in der Welt von morgen – das ist nun wiederum eine recht weit gefasste Fragestellung?
Ja, aber es ist notwendig, diese Frage so zu stellen. Wir müssen uns doch auf globaler und auf lokaler Ebene den Herausforderungen stellen, die sich in Afrika aktuell verschärft zeigen. Was heißt heute Menschsein? Menschsein in einer Epoche, in der die Umwelt zerstört ist, in der die Wissenschaft missbraucht wird, in der die Rechte bestimmter Gruppen missachtet werden, in der die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer wird. Wir leben in einer Welt, in der unsere berechtigten Forderungen im Nichts verhallen. Woran glaubt man heute? Die Konfrontation mit diesen augenscheinlichen Problemen spielt in der zeitgenössischen Kunst Afrikas eine Rolle. Mich fasziniert deshalb das futuristische Werk von Abdoulaye Diallo. Ich möchte ihn hier nennen, weil sich in seiner Ästhetik die Komplexität der globalen Risiken Technologie, künstliche Intelligenz, Globalisierung und Klimawandel zeigt. Er konfrontiert diese Fragen, die die ganze Welt angehen, mit der Spiritualität der Afrikaner. Die Ausstellung wurde bewusst an einem öffentlichen Raum in der Bibliothek der Université Cheikh Anta Diop gezeigt. Und sie war mit über 4.000 Besuchern und Besucherinnen aus dem In- und Ausland sehr gut besucht. Darunter waren auch viele junge Leute. Ich glaube, sie haben beim Betrachten der Bilder gespürt, dass sein Werk zeichenhaft dafür stehen kann, dass wir Afrikaner*innen unser Selbst bewusst aus unserem afrikanischen Erbe heraus Entwürfe für eine nachhaltige Zukunft entwerfen müssen. Ja, darum geht es!
Das Gespräch führte Cornelia Wilß
Letzte Änderung: 30.08.2021
Zur Person
Prof. Dr. Maguèye Kassé ist emeritierter Professor für Germanistik an der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Université Cheikh Anta Diop (UCAD) in Dakar. Der ausgewiesene Spezialist für Theater, Jazz und Afrika, afrikanische Filmproduktion und deren Rezeption weltweit war 2008 Hauptkurator der Biennale Dak’Art. Kassé ist im Senegal und in Westafrika eine weithin bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Derzeit lehrt er an der Universität Ouagadougou( Burkina Faso) und am Technolab in Mali und ist Direktor für Qualitätssicherung an der Universität Dakar Bourguiba (Senegal).
Kassé kuratierte bei der diesjährigen Biennale in Dakar in der Universitätsbibliothek der Uni Cheikh Anta Diop die Ausstellung „Quelle humanité pour demain?“ des Künstlers Abdoulaye Diallo, der im Senegal als „le Berger de l’île de Ngor“, der Hirte der Insel Ngor, bekannt ist.
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