„Sie werden überall einen historie-gesättigten Boden finden, überall eine kultivierte Natur, die sich mit stolzer Anmut dem menschlichen Willen gefügt hat; über all humane Landschaften, mit Vernunft begabt ...“, schrieb Joseph Roth an einen imaginären Freund in der Frankfurter Zeitung am 4.4.1926. Was er beschreibt, ist Paris. Volker Breidecker lässt uns wissen, warum sich für Roth mit dieser Metropole und dem ganzen Frankreich, seinem Süden vor allem, eine europäische Idee verband.
„Ich träume einen Fastnachtstraum und der heißt: Deutschland“
Das Friedensprojekt einer europäischen Föderation wurde nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern bereits als Lehre aus der Ersten Weltkriegskatastrophe geboren. Während die Sonntagsreden der Politiker noch immer dieselben wie vor bald einem Jahrhundert sind, ist das Projekt der Vereinigten Staaten von Europa in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kaum vorangekommen. Unter dem Druck alter wie neuer Nationalismen häufen sich nicht erst heute, sondern schon seit den Balkankriegen der neunziger Jahre die Rückschläge.
Nüchterner in Anbetracht der europäischen Verhältnisse war zu seiner Zeit keiner: In seinem als Bericht aus dem Jahr 1926 fingierten Roman „Die Flucht ohne Ende“ lässt Joseph Roth eine Reihe von Politikern, Diplomaten und Wirtschaftsführern – allesamt engagiert in der „deutsch-französischen Verständigung“, dem Kern des europäischen Friedensprojekts – „in weihevollen Stunden von einer Gemeinsamkeit der europäischen Kultur“ parlieren. Roths erzähltes Alter ego, der sich aus sibirischer Kriegsgefangenschaft durch Mittelosteuropa und durch Deutschland bis nach Paris durchschlagende ehemalige österreichische Oberleutnant Franz Tunda, widerlegt das falsche Pathos solcher Rede mit einem trockenen Einwand, der heute noch so gültig ist wie vor hundert Jahren: „’Sie wollen’, sagte Tunda, „eine europäische Gemeinschaft erhalten, aber Sie müssen sie erst herstellen. Denn die Gemeinschaft ist ja nicht vorhanden, sonst würde sie sich selbst zu erhalten wissen.“
Roths geschärfter und skeptischer Blick auf Europa war gesättigt von traumatischen Fronterlebnissen in den galizischen Ebenen und Sümpfen, wo nicht weniger grausam gestorben wurde als in Verdun, an den Ufern der Somme oder des Isonzo. Dazu kam der schmerzliche Verlust seiner Heimatstadt, des kriegszerstörten und entvölkerten Städtchens Brody, dem vormaligen Handels- und Verkehrsknotenpunkt an der äußersten Peripherie des untergegangenen Habsburgerreichs. Nach der Zerschlagung dieses letzten europäischen Vielvölkerstaats rührte sich in dem neuen, in Roths Augen „verrückten Europa der National-Staaten und der Nationalismen“ ein vielerorts bereits mörderischer Antisemitismus, oder er war im Werden: Zuvorderst im östlichen Europa mit Pogromen, die vom flachen Land aus, wo sie schon länger wüteten, jetzt auch auf traditionell multiethnische und multireligiöse Städte wie die galizische Metropole Lemberg übergriffen und neue Auswanderungsschübe zur Folge hatten. Als anfangs Wiener, dann Berliner Journalist begleitete Roth den Exodus der osteuropäischen Juden und anderer Flüchtlinge – schon damals auch aus dem Mittelmeerraum – mit fortlaufenden Reportagen und Berichten unter Überschriften wie „Die Asyle der Heimatlosen“ (1922) oder „Das Schiff der Auswanderer“ (1923).
Zwischen den Zeilen verschränken sich dabei journalistischer Bericht mit Roths persönlichen geographischen Bewegungen, die ihn ebenfalls von Europas Osten nach Europas Westen führten und doch auch immer wieder zurückblicken, genauer gesagt: zurückreisen ließen, wenn auch nur noch als temporären Beobachter und Zeitungskorrespondenten – nach Galizien und Polen (1924) in die Ukraine und nach Russland (1926) oder auf den Balkan, nach Albanien und Sarajewo (1927), dahin, „Wo der Weltkrieg begann“, wie Roth titelte. Dem Bewegungsmodus von Ost nach West unter erinnerungsgesättigten Rückspiegelungen in der Gegenrichtung folgen auch die meisten Protagonisten seiner Romane und Erzählungen, so wie der aus dem Krieg heimkehrende Ich-Erzähler von „Hotel Savoy“ (1924): „Zum ersten Mal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas.“ Oder wie Franz Tunda, dessen Fluchtpunkt Paris ist, während es den „Hiob“ des gleichnamigen Romans (1930) über den Atlantik zieht, genauso wie die von Roth schon 1923 im Hamburger Hafen an Bord des Auswandererschiffs „Pittsburgh“ aufgesuchten jüdischen Flüchtlinge aus Mittelosteuropa: „Seit Jahrhunderten“, heißt es da „wandert dieses Volk westwärts, Heimat verlassend, Heimat suchend (…) durch den sterbenden, traurigen Westen Europas (…) nach Amerika (…) Europa entronnen, dem Festland der Pogrome.“
Die andere kritische Zone aber ist Deutschland, dessen vorhandene und kommende Abgründe kein zweiter Beobachter so frühzeitig, präzise und schonungslos im Blick hatte wie Joseph Roth. Der Hass auf die Republik, die politischen Morde, das Wüten der „Schwarzen Reichswehr“ waren längst im Bunde mit einem fanatischen Judenhass, der erste eliminatorische Züge trug, wie Roth es ins seinem Debütroman „Das Spinnennetz“ thematisierte: Seit Anfang Oktober 1923 als Fortsetzungsroman in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ erschienen, war der letzte Teil dieses prophetischen Werks am 6. November 1923 zu lesen – dem Vorabend des Münchner Hitler-Putsch.
Im darauffolgenden Februar, mitten in der Faschingszeit, berichtete Roth unter der Überschrift „Geträumter Wochenbericht“ direkt aus dem Gerichtssaal, wo der Hauptangeklagte Adolf Hitler lang und breit davon erzählte, „wie er sich aus einem ‚Weltbürger’, der er noch im heimatlichen Braunau gewesen, zu einem ‚Antisemiten’ entwickelt“ habe. Vor Roths innerem Auge verwandelte sich die gespenstische Szenerie vor Gericht in einen makabren Totentanz, wie er ein Jahrzehnt darauf schon bittere Wirklichkeit werden sollte: „Ich träume einen Fastnachtstraum und der heißt: Deutschland“.
Schloss die Reportage vom Schiff der Auswanderer des Jahres 1924 noch mit dem resignierten Abgesang „Europa zum letzten Mal“, so wandelte sich im Zuge von Roths Abwendung von Deutschland sein skeptisches Europabild doch nochmal ins Positive. Diese persönliche Wende, die Roths produktivste Jahre einleitete, war an den Grenzübertritt nach Frankreich gebunden: nach einer von Kindheit an erträumten Welt, „hinter dem Zaun“ gelegen, der Deutschland und Frankreich in Roths Augen trennte – dahinter lag für ihn Paris, Freiheit, Republik, Europäischer Humanismus, Aufklärung, Revolution, Religion, Schönheit, Geschmack, Eros, Midi und Mittelmeer.
Die Aussicht auf den Pariser Korrespondentenposten der „Frankfurter Zeitung“ – neben der deutschen Sprache und Literatur betrachtete Roth das Feuilleton des liberalen Blatts als seine letzte geistige Heimat –, bot Roth den Weg aus der geistigen Enge Deutschlands, wie ihn andere – Heine, Börne, Marx – schon vor ihm gegangen waren. Es war dies aber auch schon die Vorwegnahme einer Situation, wie sie sich für viele deutsche Juden – Schriftsteller und Intellektuelle vorweg – am Morgen nach dem Reichstagsbrand vom Februar 1933 dringlicher noch stellte: „In der Nacht der ersten Hindenburgwahl – im Jahre 1925 –, als die Sturmtrupps in den Straßen zu singen begannen: ‚Siegreich wollen wir Frankreich schlagen’, sagte er: ‚Servus!’, winkte mit dem Stock einem Taxi, fuhr ins Hotel, hinterließ dem Hotelboy Schuhe und Anzüge, dann zum Bahnhof und verließ Deutschland für immer. Er lebte ohne Gepäck, er starb ohne Gepäck“, schrieb Roths österreichischer Landsmann, der Journalist Hans Natonek, im Nachruf auf den im Mai 1939 in Paris verstorbenen Freund.
Freilich gleichen Roths Wege durch Europa eher Ellipsen, als habe er unter Umgehung Deutschlands einen weiten Bogen von seiner verlorenen galizischen Heimat nach Paris und weiter in den Midi, bis hinunter nach Marseille und seinem Mittelmeerhafen geschlagen, von wo alle Wege – wenn nicht nach Westen zum Atlantik – nach Süden und nach Osten führen sollten, nämlich dahin, wo die Städte weißer noch als die „Weissen Städte“ der Provence sind. Über sie hatte Roth im Anschluss an seine erste französische Korrespondentenreise ein Buch mit märchenhaft funkelnden Essays – wahren Prosadichtungen – geschrieben: „Blicke auf die letzten Reste Europas“ warf dieses Buch, dessen Ich-Erzähler sich auf eine an Prousts „Recherche“ erinnernde Suche begab nach der „Kindheit Europas“, deren gleisnerisch leuchtende Orte schon die sehnsüchtigen Träume eines galizisch-jüdischen Knaben erfüllt hatten. Doch aufgrund von Roths ostentativem Bekenntnis zu Frankreich, zu den römisch-katholisch geprägten Traditionen des europäischen Humanismus, zum jüdisch-christlichen Universalismus und zur Mischreligion des Mittelmeeres wollte damals offenbar kein deutscher Verlag dieses Buch drucken, oder es fehlte ihnen der Mut.
„Einmal träumte ich von einem großen Hafen (…) Manchmal träumte ich von einer großen Stadt“, heißt es in der anmutigen kleinen Erzählung „April. Die Geschichte einer Liebe“, ebenfalls aus dem für Roth so schicksalhaften wie hochproduktiven Jahr 1925, in dem sich für ihn alles wendete oder zu wenden schien. Am Traum von der großen Stadt hafteten Jugenderinnerungen, die Roth beim Wiedersehen im Jahr 1924 eine Hymne auf die kosmopolitische, multireligiöse, vielsprachige Stadt Lemberg, dem heute ukrainischen Lviv, anstimmen ließ: ein Klein-Wien weniger noch als ein unausgesprochenes Klein-Paris: „Die Stadt demokratisiert, vereinfacht, vermenschlicht (…) Alle Trennungsstriche sind mit schwacher, kaum sichtbarer Kreide gezogen. Es ist die Stadt der verwischten Grenzen.“ Die Galizienreise des Jahres 1924 wird zum Anstoß für Roths neuen, auf Frankreich bezogenen Europadiskurs, ausgelöst von der Frage: „Hat hier Europa aufgehört? – Nein, es hat nicht aufgehört. Die Beziehung zwischen Europa und diesem gleichsam verbannten Land ist beständig und lebhaft. In den Buchhandlungen sah ich die letzten literarischen Neuerscheinungen Englands und Frankreichs (..,) Der Kontakt mit Frankreich ist der stärkste. Über Deutschland, das im toten Raum zu liegen scheint, sprühen Funken herüber und zurück.“
Funken sprühen auch in den Feuilletons, die Roth ab dem Frühjahr 1925 aus Frankreich schreiben wird, während er Bernard von Brentano, seinem jungen Nachfolger im Berliner Redaktionsbüro der „Frankfurter Zeitung“ den kollegialen Rat erteilt: „Lesen Sie französische Feuilletons, Heine noch einmal.“ Zu erlernen sei dort die Kunst der „natürlichen Übergänge“ im Nebeneinander der flüchtigen Eindrücke, Bilder und Gedanken. Roth selbst war ein Meister solcher Übergänge, einer, vor dessen Bewegungen keine Grenzzäune Bestand hatten, weder im Poetischen noch im Politisch-Geographischen. Seinem Feuilletonchef Benno Reifenberg gegenüber bekennt er sich, nachdem ihm der Pariser Korrespondentenposten ausgerechnet durch den künftigen Nazi-Propagandisten Friedrich Sieburg weggenommen wurde, als „Franzose aus dem Osten“, der in Paris bleiben werde, von wo er Reifenberg bereits am Tage seiner Ankunft geschrieben hatte:
„Es drängt mich, Ihnen ‚persönlich’ zu sagen, daß Paris die Hauptstadt der Welt ist und daß Sie hierher kommen müssen. Wer nicht hier war, ist nur ein halber Mensch und überhaupt kein Europäer. Er ist frei, geistig im edelsten Sinn und ironisch im herrlichsten Pathos. Jeder Chauffeur ist geistreicher, als unsere Schriftsteller. Wir sind wirklich ein unglückliches Volk. Hier lächelt mich jeder an, alle Frauen, auch die Ältesten liebe ich bis zum Antrag, ich könnte weinen, wenn ich über die Seine-Brücken gehe (…) Es ist hier ein Fest (…) die ganze Stadt ist ein Protest gegen Hindenburg, Preußen, Stiefel, Knopf. (…) Aber die Deutschen hier, Norddeutsche, meine ich, sind voller Hass gegen die Stadt, sehen nichts, fühlen nichts. (…) Es geht von ihnen eine unerträgliche Steifheit aus, sie atmen nicht Luft aus, sondern Zäune und Mauern. (…) Paris ist katholisch im weltlichsten Sinn dieser Religion, zugleich europäischer Ausdruck des allseitigen Judentums.
Letzter Zeitenwechsel: Angesichts des deutschen Menetekels von 1933 beantwortete Roth die Einladung seines Freundes Stefan Zweig, nach Wien zu kommen, mit der Absage, er „lebe seit 10 Jahren, jedes Jahr 6-8 Monate in Frankreich“. Es waren dies freilich allesamt Hoteljahre. Und selbst wenn er sporadisch für Redaktionsarbeiten den Frankfurter Sitz seiner Zeitung aufsuchte, deren Mitarbeiter er bis Anfang 1933 blieb, stieg er, direkt gegenüber dem größten Bahnhof Mitteleuropas, demonstrativ im Hotel mit dem Feindesnamen „Englischer Hof“ ab. Als Roth im Juni 1938 – das nächste Menetekel nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich – aus seinem geliebten Pariser Hotel Foyot beim Jardin du Luxembourg delogiert wurde, weil die schon von Rilke geschätzte Herberge abgerissen wurde, führte er Buch über die letz-ten sechzehn Jahre seines Lebens, die nunmehr ebenso zerschmettert vor ihm lägen wie das „Hotel, in dem ich sechszehn Jahre gewohnt habe – die Zeit meiner Reisen ausgenommen“, in denen Roth dennoch in wechselnden oder auch häufiger aufgesuchten Hotels gelebt hatte, allen voran im Beauvais im Alten Hafen von Marseille, Teil eines universalen Hotels Europa. Mit Mittelmeeranschluss – nach den Weissen Städten am diesseitigen wie denen am jenseitigen Horizont, von welchen letzteren „ein Sturm unser Gefährt in die Weite blies“ – nach dem Land der Vorväter, auch wenn Roth sich nie zum Zionismus bekannt hatte, den er als rettende Option aber auch nicht verworfen hatte. Am besten charakterisieren diesen meeressehnsüchtigen europäischen Wanderer vielleicht die Kernsätze aus einem der schönsten Mittelmeerromane des vorigen Jahrhunderts – „Das Hundeleben der Juanita Narboni“ aus der Feder des in Tanger geborenen Ángel Vázquez: „Gott sei Dank“, sagt da die auf einen italienischen Namen getaufte uneheliche Tochter einer andalusischen Mutter mit auf Gibraltar ausgestelltem britischen Pass, „Gott sei Dank sind wir in einer Stadt geboren, in der wir weder ganz Christen noch ganz Juden sind und auch nicht ganz Araber. Wir sind das, was der Wind will. Eine Mischung.“
Der Beitrag erschien zuerst im Europa-Heft des „5plus“-Magazins
Letzte Änderung: 07.02.2022 | Erstellt am: 06.02.2022
Joseph Roth Rot und Weiß
Wanderer zwischen Städten
334 S., geb.
ISBN-13: 9783847704461
AB Die Andere Bibliothek, Berlin 2022