Weil Konformität tötet…
Autofiktionale Prosa, in denen sich ein Ich schreibend auf die Suche nach sich selbst begibt, sind aktuell. Das Ich in Paulina Czienskowskis genrebefreitem Text „Sich erinnern man selbst zu sein", tut dies auf einer abstrakten und zugleich persönlichen Ebene. Eindeutige Antworten werden ehrlicherweise nicht geliefert, stattdessen Identitätskorsette hinterfragt und gelockert, meint Riccarda Gleichauf.
Was vom Titel her ein bisschen wie ein einfacher Lebensratgeber klingt, ist in Wahrheit anspruchsvolle, philosophische Lektüre, die in jedem guten Subjekttheorie- oder Phänomenologie-Seminar gelesen werden sollte. Sich erinnern, man selbst zu sein, verhandelt spielerisch die ganz großen Fragen des Lebens. Wer bin ich? Wer sind wir? Wie kann ich mein Ich im Wir behaupten, wenn ich doch immer Teil davon bin, ein Teil davon sein will?
In der Gegenwart anderer, so der Eindruck der Ich-Erzählerin, stellen Menschen Behauptungen über sich auf, und tun so, als seien sie wahr. Die Konsequenz ist, dass das Ich als Ich langsam verschwindet, unsichtbar wird. Schmerzen tut das nur, weil sich ein wie auch immer gearteter Kern meldet, der seine Existenzberechtigung einfordert:
Dieser scheiß Kern da vorne, er ruiniert mein Erscheinen. Wenn das da, diese Mitte, doch so wichtig ist, wieso verlieren sie dann so viele?
Die Antwort ist banal, es geht schlichtweg um die Selbsterhaltung: Das Ich kommt besser durchs Leben, wenn es nicht ständig auf seinen Kern pocht, an seinen Kern denkt, sich über seinen nicht genau festzulegenden Kern Gedanken macht. Doch die Protagonistin möchte sich nicht damit zufriedengeben, sich wie viele andere Mitmenschen damit anzufreunden nur noch unauthentisch durch die Welt zu spazieren. Regelrechte Wutausbrüche gegenüber den Einstellungen der anderen, denen, die es nur gut mit ihr meinen, zeugen im Text von der tatsächlichen Lebendigkeit der Suchenden. Anklagend formuliert sie dies so:
Und viele von euch schaffen es ja, so Larifari und ohne viel Arbeit da durchzukommen, durchs Leben, manövrieren sich über die Wege, die – wenn man ganz genau hinsehen würde – auf einem großen Fake basieren. Dem, niemals genau hingesehen zu haben.
Bleierne Müdigkeit überfällt die Ich-Erzählerin, die zwischenzeitlich von der blanken Natur bedroht wird, weil es keine eindeutigen Antworten auf all ihre Fragen gibt. Wären da nicht die nervigen Stimmen von außen, dem WIR, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, über die sie sich immer wieder ärgert, wäre sie, alleingelassen mit ihrem Kern, im Eis eingebrochen. Und alles wäre gut? Nein! Denn nur Kern zu sein, führt sie auch nicht weiter. Es gut zu haben hieße, lauwarm vor sich hinzuköcheln. An den Kern kann Ich mich nämlich nur erinnern, wenn mir die anderen zurückspiegeln, wer ich nicht bin, aber sein soll(te). Diese gut gemeinten Ratschläge entfachen die Möglichkeit zum Widerstand gegen den Anspruch sich anzupassen, konform mit den anderen zu werden.
Der Versuch, sich selbst im Wir zu behaupten, lässt unterschiedlichste Emotionen in der Suchenden entstehen. Einsamkeit, Angst und Wut führen dazu, dass sie sich am liebsten in eine Grube versenken würde. Wo findet sie Geborgenheit, in dieser eiskalten Welt, in der ein uneindeutiges Ich unterdrückt werden muss, von den anderen nicht akzeptiert und als schwach angesehen wird? Doch genau diese ambivalenten Gefühle machen die Lebendigkeit des Menschen aus. Ohne die „Feinde“ im Kern, wäre er längst tot, hätte sich selbst verloren:
Ja, ja, ich will das doch genau so, alle Gefühle will ich haben, nicht stumm, nicht angepasst sein. Das weiß ich doch. Und alle von diesen Gefühlen sind LAUTER, aufregender als stille, langweilige Formen. Sie alle sollen sich in uns hinein winden und sich über andere stülpen, wenn auch ein kleines bisschen anders. Aber egal, wir wollen doch was hinterlassen, wollen wer sein, nicht irgendwann gehen und niemand erinnert sich. Oder? Schau dich um, überall sieht man sie und schläft ein vor Konformität. Aber das sagtest du ja auch gerade.
Bunte, teilweise schrille Zeichnungen der Künstlerin Malwine Stauss unterstützen das Gefühlschaos der Protagonistin eindrucksvoll. Sie wirken wie Graffitis, die keine erklärenden Textstücke brauchen, weil sie für sich die jeweilige Botschaft transportieren. Zusätzlich unterstreichen sie die Hybridität des Textes, der zwischen Prosa und Drama angelegt ist, sich mutig nicht in einer Genre-Schublade verstauen lässt. Genauso wie das aufbegehrende Ich im Wir, das uns die Autorin präsentiert.
Die Lektüre kann einen ratlos und verzweifelt zurücklassen, weil sie keine Gebrauchsanweisung für ein authentischeres Leben liefert, sondern vielmehr die Komplexität der Kern findung und seiner Behauptung vor Augen führt. Sie kann aber auch beruhigen, indem sie uns in unserem tagtäglichen, oft als irrational abgestempelten Unwohlsein darin bestätigt, dass es normal ist, sich fremd in seiner angepassten „Haut“ zu fühlen. Wir kennen diese Zustände alle, auch wenn sie oft nach außen hin für andere unsichtbar bleiben (sollen), weil wir naturgemäß gute Schauspieler*innen sind.
Wohltuend ist auch, dass sich dieses Ich mit dem Wir auseinandersetzt, obwohl das Stress und Ärger bedeutet. Heutzutage gibt es die Tendenz, sein Ich im Rückzug aus der äußerlichen Welt zu suchen, sich abzukapseln und den streitbaren Raum für Dialoge zu meiden.
Das Ich in Sich erinnern, man selbst zu sein begreift die Suche nach „wahrer“ Kernfindung nur in der Konfrontation mit anderen. Rückzug dient alleine dazu, neue Kraft für die Auseinandersetzung zu schöpfen. Dies ist eine zutiefst politische Haltung, die die Autorin Paulina Czienskowski, deren Texte im Korbinian Verlag verlegt werden, überzeugend beschreibt.
Letzte Änderung: 20.10.2021 | Erstellt am: 18.10.2021
Paulina Czienskowski Sich erinnern, man selbst zu sein
92 Seiten
1. Auflage
Korbinian Verlag
Berlin
2021