Rimfaxe und Skinfaxe

Rimfaxe und Skinfaxe

Europoesie: Dänische Lyrik
Inger Christensen

Die 2009 gestorbene Inger Christensen gilt als die bekannteste Dichterin Dänemarks, Hans Christian Andersen kennt man bei uns nur als Märchenerzähler. In zweisprachigen Lyrikausgaben dänischer Dichtung zu lesen, verspricht nicht nur eine Bereicherung unseres spärlichen Wissens. Bernd Leukert wurde dabei auch aufs Schönste überrascht.

Rimfaxe und Skinfaxe sind zwei mythische Pferde. Rimfaxe durchzieht die Nacht und vergräbt sich im Meer, Skinfaxe trabt in strahlender Lohe/ über das Himmelsgewölbe.

So jedenfalls sind sie in einem langen Gedicht des zweisprachigen Autors Adam Gottlob Oehlenschläger, der von 1779 bis 1850 lebte, beschrieben. Das Gedicht trägt den Titel „Die Goldhörner“. Mit ihm beginnt die Romantik in Dänemark.
„Licht überm Land“ heißt der Band, in dem es zu finden ist. Herausgegeben von Peter Urban-Halle und Henning Vangsgaard, ist er nach dem äußeren Erscheinungsbild und der Gestaltung im Inneren ein Nachfolger der Anthologie „Grand Tour“, die 2019 im selben Verlag von Federico Italiano und Jan Wagner betreut wurde. Und das bedeutet auch, dass dieses Sammelwerk mit einem hohen Anspruch entstanden ist, der sich in der Qualität der Auswahl niederschlägt.

Dem Hörensagen nach gab es Dichtung in Dänemark schon in der Zeit der Wikinger, also vor deren letzter Schlacht 1066. Doch entweder hat man sie nicht aufgeschrieben, oder alle schriftlichen Zeugnisse sind verloren. Die mittelalterlichen Balladen, mit denen das Buch beginnt, entstammen vermutlich der weit zurückreichenden oralen Tradition und bringen Naturgeister wie in „Erlkönigs Tochter“, tribalisch-identitäre Bedrohung, Untreue, Gewalt, Mord und Totschlag ins Spiel. Und auch wenn mit der Reformation und dem Frühbarock die Frömmigkeit in die Verse dringt, bietet die Neuzeit herrlich groteske Liebesgedichte an, die dem Dogma trotzen, oder sich eine heitere Sicht auf die letzten Dinge erlauben, wie in des aufklärenden Pfarrers Ambrosius Stubs (1705-1758) „Grabschrift für eine Jungfrau, die in ihrem 50. Jahr verstarb“: Mein Brautbett wurde nun das Grab,/ statt Hochzeitslied Geläute./ Nun hat der Tod mich flachgelegt,/ weil sonst kein andrer wollte.

Auch sonst finden sich gewitzte Gedichte aus der Zeit der Aufklärung oder gar sozialkritischer Spott über die Obrigkeit, wie in P.A.Heibergs „Klub-Lied am 25. September 1790“ (Schriften, denen er 1800 die Ausweisung aus Dänemark verdankte). Darin heißt es:

Mit Orden behängt man die dümmsten Idioten,/ Stern Kreuz und Band wird dem Adel geschenkt; /Doch von den MALLINGS, den SUHMS und den ROTHEN/ Liest man kein Wort. Darum, Freunde, bedenkt:/ Wer nur Verstand hat/ Und das erkannt hat,/ Hat diesen Tand satt./ … Der Gutsherr will schwelgen, gedenkt nicht der Armen,/ Sieht sie mit Kälte und gleichgültig an./ Wir kleinen Leute empfinden Erbarmen/ Auch mitten im Schwelgen, mit dem elenden Mann.

Oder die „Ode an die Lüge“ von Steen Steensen Blicher (1782-1848) mit der Strophe:

Schenke mir, Holde, von Jesuiten den Firnis/ Als Politur für meine Schmeichellieder!/ Gib mir als Umhang die Frechheit, die niemals/ Rot wird und zittert.

Mit der Detailfreude der expressionistischen Phase, der Ernüchterung und Trauer ab 1943, den Provokationen, den Themen Heimatlosigkeit und Tod in der Epoche, die wir Moderne nennen (in Dänemark: Modernismus) sind Charakteristika zu finden, wie sie in Europa verbreitet waren – bis in die experimentellen 70er Jahre hinein.

Als 1982 Inger Christensen ihren Band „Alfabet“ veröffentlichte, dessen Textgenerierung nach der Fibonacci-Reihe organisiert ist, machte sie das europaweit bekannt. Die ersten Zeilen des Alphabets wurden gerne zitiert:

(1) aprikosenbäume gibt es, aprikosenbäume gibt es// (2) bärlapp gibt es; brombeeren, brombeeren/ brom gibt es; und borwasser, borwasser // (3) chimären gibt es; chrysanthemen, chrom/ und citrusfrüchte gibt es; chimären gibt es;/ chimären, chromosomen, cerebellum …

Auszüge aus diesem ikonischen Werk finden 47 Jahre später ihr Echo im „Christensen Alphabet-Remix“ des 1968 geborenen Literaturkritikers und Poeten Lars Bukdahl:

(1) das aprikosenmus gibt es, das aprikosenmus gibt es/ (2) Villy Breinholst gibt es; und brummbässe, braunbären/ (3) die cigarren gibt es; cigarillos, christian IV./ (4) die dingsbumse gibt es; dösköppe, duckmäuser …

Der Herausgeber der Anthologie, Peter Urban-Halle (der Mitherausgeber Henning Vangsgaard starb 2018), der selbst den Löwenanteil der Sammlung übersetzt hat, schreibt im Nachwort, dass etwa zwei Drittel der Auswahl zum ersten Mal in deutscher Sprache vorliegen. Die große Anzahl der Übersetzer verbietet allgemeine Bemerkungen zur Übersetzung: Für Nicht-Dänen mag vielleicht auch die synoptische Übereinstimmung Triftigkeit vortäuschen; dazu kommt, dass im Dänischen nicht alles so gesprochen wird, wie es geschrieben steht. (Nachzuhören am Beispiel „Skam/Scham“ von Mette Moestrup auf Lyrik-line), die musikalische Seite der Poesie offenbart sich nur dem Ohr. Die inhaltliche ist aber dem, der liest, stets zugänglich, denn „Alle Gedichte, die wir aufgenommen haben, mussten im Wortsinn »ergreifend« sein, denn die guten Gedichte sind jene, die uns weiterhin seelisch und intellektuell beschäftigen, packen, ergreifen.“ (Peter Urban-Halle). „Licht überm Land“ gehört fraglos zu den Büchern, die man ganz und gar zitieren möchte, um ihren Reichtum auszubreiten. Ein letzter Hinweis auf die schon 2020 gestorbene Pia Juul mag stattdessen genügen. Sie, die allein mit dem Gedichttitel „Mir graust vor der Schönheit der Kirschblüten“ gepriesen gehört, beendete ihr Gedicht „Nennst du Eulen Nachtigallen“ mit den Zeilen Die Dinosaurier sind nicht ausgestorben/ sie fliegen draußen/ wir verzehren sie am Heiligen Abend.

Eine gewisse Vorarbeit dazu leistete, angeregt von den Übersetzern Bernd Kretschmer und Peter Urban-Halle, der Band „Hier habt ihr mich. Neue Gedichte aus Dänemark“, der 2017 in der Kölner Parasitenpresse erschien und junge Lyrikerinnen und Lyriker präsentierte, die (bis auf einen) – zum Teil auch mit den gleichen Gedichten, allerdings anderen Übersetzern – auch im „Licht überm Land“ vertreten sind, nämlich Naja Marie Aidt, Rasmus Nikolajsen, Theis Ørntoft, Katrine Marie Guldager, Caspar Eric, Cecilie Lind, Sten Kaalø, Bjørn Rasmussen, Maria Gerhardt und Asta Olivia Nordenhof. Ihre Gedichte waren nicht älter als zehn Jahre, als der Band erschien. Es geht darin also um junge Lyrik und nicht unbedingt um junge Lyrikerinnen und Lyriker. Ein Gedicht von Katrine Marie Guldlager beginnt mit den Zeilen Ich bin es nicht die alt geworden ist./ Es sind meine Dämonen/ die nicht mehr mithalten können./ Manche husten an einer verlassenen Station./ …

Darüber hinaus muss der 1956 geborene Søren Ulrik Thomsen erwähnt werden, der in „Licht überm Land“ als ‚Star’ der Szene rund um den Lyrikboom der Achtziger zitiert wird und als einer der bedeutendsten dänischen zeitgenössischen Dichter gilt. Der Verlag Kleinheinrich, der sich um die nordische Poesie große Verdienste erworben hat, veröffentlichte nicht nur die Werke Inger Christensens, sondern 1993 schon Thomsens Gedichtband „hjemfalden/anheimgefallen“, dann, 2016, „Rystetspejl/Zitterspiegel“ und nun 2021 „Eine hinter der Wandtäfelung eingeklemmte Haarnadel. Notate aus Kopenhagen“ (herrliche, poetische Prosa, kein Gedichtbuch, auch nicht zweisprachig), alles übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke, dem erfahrenen Vermittler skandinavischer Lyrik.

Søren Ulrik Thomsens Lyrik zeichnet eine sehr eigene, erstaunlich leichtfüßige Diktion aus, die die selbstironische Reflexion des eigenen Lebens und Schreibens, melancholische Betrachtung und traumhafte Überhöhung attraktiv in Beziehung setzt. Im „Zitterspiegel“ heißt es:

Hier hätte eigentlich ein Gedicht stehen sollen/ das ich jetzt verworfen habe/ obgleich es eine treffende Bemerkung/ über meine Feinde enthielt/ sowie ein paar richtig lässige Zeilen/ wie sie für meine Lyrik typisch sind/ doch wozu das alles/ jetzt wo der Flieder blüht/ und ich seltsamerweise älter bin/ als mein Großvater je wurde/ also mach ich in seinem aschgrauen Sakko/ einen Spaziergang in der modernen Welt/ deren Unverständlichkeit banal ist/ verglichen mit der Tatsache die Grenze überschreiten zu können/ von der Selbstverständlichkeit dazusein/ zu der Seltsamkeit nicht tot zu sein.

Diese fast nebenbei, wie versehentlich fallengelassene, poetische Differenzierung zwischen Dasein und Leben angesichts der Unverständlichkeit der modernen Welt gehört zu den Pointen, die Thomsens Gedichte kennzeichnen. Mit einfachem Satzbau – was einer adäquaten Übersetzung entgegenkommt – dreht er seine Beschreibungen und Überlegungen in immer andere Dimensionen hinein. So kommt er vom Beschaulichen zum Anspruchsvollen – oder umgekehrt, wie etwa in dem Dreizeiler:
Geliebte, möge unsere Liebe immer sein/ wie Musik aus einem anderen Zimmer./ Im Waldorf-Astoria. Bei Regen.

Wer sich mit dänischer Lyrik beschäftigt, nicht nur sofern sie zweisprachig vorliegt, muss also mit Überraschungen rechnen. Und nicht nur im Falle Søren Ulrik Thomsens ist es oft das Leichte, was so schwer zu machen ist. Möglicherweise ist der Kern der Thomsenschen Kunst – ganz im Sinne der Romantik – das Poetische selbst:
Das Radio fängt einen fernen Sender ein/ wo ein Kinderchor/ in einer Sprache die wie Russisch klingt/ etwas vorliest das wie Lyrik klingt/ und eine Übersetzung sein könnte/ des Gedichts das ich mir immer zu schreiben erträumte.

Letzte Änderung: 26.09.2021  |  Erstellt am: 25.09.2021

Licht überm Land

Henning Vangsgaard, Peter Urban-Halle (Hrsg.) Licht überm Land

Dänische Lyrik vom Mittelalter bis heute
dänisch / deutsch
Gebunden, Lesebändchen
488 Seiten
ISBN-13: 9783446266261
Carl Hanser Verlag, München 2020

Übersetzt von Johann Gottfried Herder, Peter Urban-Halle, Rosa Warrens, Wilhelm Grimm, Ina-Maria Greverus, Henning Vangsgaard, Heinrich Detering, Hanns Grössel, Andreas Øster, Edmund Lobedanz, Alexander Sitzmann, Jens Baggesen, Adam Gottlob Oehlenschläger, Monica We-nusch, Gerd Weinreich, Katharina Kasch, Heinrich Zeise, Adelbert von Chamisso, Bernhard Gli-enke, Rainer Maria Rilke, Stefan George, Erich von Mendelssohn, Heinz Barüske, Irene Forbes-Mosse, Otto Hauser, Gisela Perlet, Dankward Nielsen, Lutz Volke, Hans Magnus Enzensberger, Ursel Bracher, Piet Hein, Florian Voß, Johannes Feil Sohlman, Ursula Schmalbruch, Johann P. Tammen, Klaus-Jürgen Liedtke, Ute Schmidt, Sarah Fengler, Roland Hoffmann, Berit Huntebrin-ker, Moritz Schramm, Raphael Urweider, André Wilkening, Justus Carl, Viktoria Marie Stowasser, Annette Hellmut und Michel Schleh.

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Hier habt ihr mich

Ursel Allenstein, Marlene Hastenplug (Hrsg.) Hier habt ihr mich

Neue Gedichte aus Dänemark
dänisch / deutsch
Gebunden
142 Seiten
Internationale Literatur. Parasitenpresse, Köln 2017

Übersetzt von Phillipp Botte, Justus Carl, Sarah Fengler, Berit Huntebrinker, Rosa-Claire Reinicke, Viktoria Marie Stowasser und André Wilkening.

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Rystet spejl / Zitterspiegel

Søren Ulrik Thomsen Rystet spejl / Zitterspiegel

Digte/Gedichte
dänisch / deutsch
Aus dem Dänischen von Klaus-Jürgen Liedtke
Leinengebunden mit Pergaminumschlag
ISBN 978-3-945237-03-8
Kleinheinrich Verlag 2016
(Dänische Literatur der Moderne, Band 20)

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