Fatale Entgrenzung

Fatale Entgrenzung

Ein Erklärungsversuch für die Entgleisungen linker Kulturkämpfer
Kundgebung Palaestina Demonstration in Frankfurt am Main | © Faust-Kultur Bernd Kammerer

Lukas Meschiks Essay über die Entgleisungen linker Kulturkämpfer entstand unter dem noch frischen Eindruck des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober 2023. Am Befund hat sich nichts geändert, im Gegenteil hat sich die Lage nur verschärft, sind die Bruchlinien noch offensichtlicher geworden – an liberalen amerikanischen Universitäten stehen die Zeichen auf Eskalation. Die radikalisierte Identitätspolitik erreicht ihren logischen Endzustand, was wir auch am Ausgang kommender Wahlen sehen werden. Der brodelnde Kulturkampf scheint sich in einen begeistert geführten Kulturkrieg zu verwandeln. Wo die Ereignisse den Text überholt haben, wird er zum prägnanten Zeitdokument.

Was wir sehen, ist der Endzustand der radikalen Identitätspolitik. Ihre Vertreter denken ausschließlich in Opferhierarchien, leugnen also die Komplexität von Konflikten. Empathielosigkeit gegenüber Terroropfern ist nur die letzte Eskalationsstufe einer Entwicklung, die schon länger zu beobachten war. Es wundert mich, wie sehr sich alle wundern.

Terror

Am 7. Oktober 2023 fand in Israel ein Terrorangriff der radikalislamischen Hamas statt, bei dem etwa eineinhalbtausend Menschen ums Leben kamen, viele davon junge Erwachsene. Berichtet wird von Verstümmelungen, Folter und Vergewaltigung. Zusätzlich wurden etwa zweihundertfünfzig Geiseln genommen und in den Gazastreifen verschleppt. (Randnotiz: Laut Deutscher Welle sind 54 davon thailändische Gastarbeiter, die in landwirtschaftlichen Betrieben der Grenzregion beschäftigt waren; die diplomatischen Bemühungen Thailands um eine Herausgabe seiner Staatsbürger ist auffallend diskret. Später wird die Zahl auf 22 korrigiert.) Was der österreichische Bundeskanzler zum Beginn der großen Pandemie panikeinflößend ankündigte, ist hier schmerzhafte Wirklichkeit geworden, denn für die betroffenen israelischen Familien gilt tatsächlich: Jeder kennt jemanden, der jemanden kennt. Der Schrecken über das Geschehene übersteigt unseren Verstand. Man braucht dazu zunächst gar nichts zu sagen, außer dass man mit den Angehörigen mitfühlt und Beistand leistet. Das Leid an sich entzieht sich jeder Kontextualisierung. Es war sehr leicht, die richtigen Worte zu finden oder, wenn sie einem fehlten, gar nichts zu sagen. Es wäre jedenfalls sehr leicht gewesen, und viele haben es trotzdem nicht geschafft. Erschreckend viele.

Der Terror der Hamas und die perfide Massenentführung hat eine mit Paradoxien angereicherte Pattsituation geschaffen, in der sich ein Staat kaum mehr für eine richtige Verhaltensweise entscheiden kann – höchstens für die am wenigsten falsche. Kein vernünftiger Mensch ist einverstanden mit der Kriegsrhetorik eines Benjamin Netanjahu und seiner Minister, wie sie im Dreiergespann in schwarzer Einheitsmontur in einem flaggenbewährten Medienraum markige Pressekonferenzen abhalten. Kein denkender Mensch ist glücklich über die Notstandsregierung aus teilweise extremen Kräften, die sich über Nacht gebildet hat. Nicht umsonst waren monatelang zigtausende Menschen gegen diese Politik auf der Straße – es sind die freiheitsliebenden, friedfertigen, mündigen Bürger Israels, ohne die jede Demokratie verhungern würde. Und keinem fühlenden Menschen entgeht das Leid der im Gazastreifen festsitzenden Zivilisten, viele davon Kinder. Die Hälfte der Bevölkerung ist unter achtzehn Jahre alt.

Wir müssen uns die Medienlogik eingestehen, dass wir israelische Opfer deutlicher als Einzelmenschen wahrnehmen, alle haben sie Social Media-Auftritte und als Interviewpartner zur Verfügung stehende Angehörige. Aus den Schuttkratern Gazas erreichen uns viel weniger Bilder, weil es immer aussichtsloser wird, im Kriegsgeschehen menschliches Leid in seinen unaushaltbaren Details zu dokumentieren. Niemals dürfen wir uns zur Entmenschlichung hinreißen lassen, gesichtslose und namenlose Opfer deshalb als entindividualisierte Masse wahrzunehmen.

Wir müssen uns denken: Jedes einzelne in Bombentrümmer hineingestorbene Kind ist ein verlorener Einstein, eine verlorene Marie Curie, ein verlorener Steve Jobs. Jedes einzelne gestorbene Kind unabhängig von seiner ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit muss uns schmerzen als wacher Geist, den man der Welt vorenthält. Umgekehrt betreiben die Unterstützer der Hamas eine zynische Entmenschlichung, wenn sie Getötete vollständig als „enemy combatant“ einstufen. Was für ein kranker Kopf, der Minderjährige oder sogar Säuglinge einfach nur durch ihre schiere Gegenwart auf einem Flecken Erde als feindliche Gegenüber einstuft, und damit sich selbst die Absolution erteilt, diese unschädlich machen zu dürfen. Der Irrsinn des Terrors.

Druckkessel im Druckkessel

Jeder bei Sinnen weiß: Das Recht auf Selbstverteidigung besteht, aber es muss maßvoll und von Vernunft geleitet angewandt werden, es schließt keine Kollektivstrafen ein, das Leben Unschuldiger muss um jeden Preis geschützt werden. Neben militärischen Strategien müssen auch Feuerpausen, humanitäre Korridore und Hilfslieferungen mitgedacht sein. Es entstehen Fragen, auf die es keine Antwort gibt, nur Meinungen, die sich im besten Fall aus Erfahrungswerten und validen Prognosen zusammensetzen. (Ein gemeinsames Ziel von Geiselangehörigen und israelischer Regierung ist die schnellstmögliche Herausgabe der Gefangenen, Erstere bestehen auf einem sofortigen Waffenstillstand, Letztere schwört auf militärische Mittel, um auf die Geiselnehmer Druck auszuüben. Gibt es eine korrekte Handlungsweise? Nein, es gibt keine Lösungen, nur Entscheidungen, die getroffen werden.) Dass die Verbündeten Israels die Ersten sind, auch wohlmeinend abwägenden Einwand anzubringen, versteht sich von selbst. Kein Staat, kein Volk und keine Religion sind unfehlbar oder sakrosankt. Wer jemanden unterstützt, findet darin auch ernste Worte der Kritik und Aufrufe zur Mäßigung. All das ist Teil des mitfühlenden, reflektierten Umgangs mit Schrecknissen. Es ging aber blitzschnell, da wurde der Spieß auch schon umgedreht, man brauche sich ja nicht zu wundern, das musste ja früher oder später passieren, verzweifelte Menschen würden eben zu verweifelten Mitteln greifen. Dass dieser Ausbruch von Gewalt gegen Wehrlose auch noch als Beweis der Wehrhaftigkeit einer diskriminierten Minderheit gefeiert wurde, ist an Geschmacklosigkeit nicht zu überbieten.

Jeder, der nicht hinterm Mond lebt, war von dem Verbrechen zwar geschockt, aber streng genommen nicht „überrascht“, denn dass der Gazastreifen ein Druckkessel innerhalb des Druckkessels Israel samt Umgebung im brodelnden Vulkan des Nahen Ostens ist, das hat jeder verstanden. Nicht umsonst gibt es regelmäßig Eruptionen, Anschläge, Ausschreitungen. Zu beobachten war aber nicht nur eine resignierte Unüberraschtheit, sondern ein empathieloses Verherrlichen der Gewalt als legitimer Akt von Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker. Und das kann doch wohl nicht wahr sein.

Die, von denen es viele am wenigsten erwarteten, waren rasch zur Stelle mit Begriffen wie Kolonialmacht, Apartheitsregime und Freiheitskampf, aber es geht noch heftiger und deftiger, da ist von Genozid und ethnischer Säuberung die Rede. Wer so spricht, meint damit, dass im Kampf gegen das Böse alles gerechtfertigt ist, nicht nur das Gute. Nach dem Motto: Selbst schuld. Viele wundern sich, zu welchen grotesken Entgleisungen prominente Kulturkämpfer oder junge Linke sich haben hinreißen lassen. Mich wundert das überhaupt nicht.

Die Ära der Wokisten

Wir leben nicht nur in der Ära des Trumpismus und des aufbrandenden Rechtspopulismus, wir erleben parallel dazu das Erstarken einer Kaste radikaler Verfechter der Identitätspolitik, nennen wir sie gern Wokisten. (Wokisten klingt so angenehm bedrohlich, es lässt denken an die Leftisten aus dem Manifest des Unabombers Ted Kaczynski. Mit Wokisten sind explizit nicht Menschen gemeint, die sich politisch engagieren oder mit Aktivismus die Welt zu einem besseren Ort machen wollen, sondern nur ihre radikalisierten Vertreter. Die aktivistische Kraft von abschätzig als Weltverbesserern und Gutmenschen verunglimpften Menschen ist überlebenswichtig für eine Gesellschaft, die in Zukunft noch etwas mit sich anfangen will. Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung, für Minderheitenschutz und gegen Fremdenfeindlichkeit muss unser aller Kampf sein. Wokisten aber sind nicht scharfsinnig, sie tragen absichtlich und freiwillig Scheuklappen, die sie blind machen für die Bedürfnisse und Zwänge als minderwertig eingestufter Mitmenschen.)

Was uns hier schmerzhaft verdeutlicht wird, ist der Endzustand der radikalen Identitätspolitik. In den Spatzenhirnen der Wokisten ist nicht genug Platz, Mehrfachleid anzuerkennen. Sie haben abgeranzte Diskettenlaufwerke im Kopf, in das man maximal eine einzige Floppy stecken kann, nur einen Gedanken bearbeiten, nur ein Programm abspulen, nur eine Rechenoperation durchführen: Das Berechnen der Position einer Einzelperson oder Gruppe in der intersektionalen Opferhierarchie, also eine Addition der Opferschaften. Dieser Platz ist dann gesetzt und unverrückbar. Was wir als Menschen der Gegenwart brauchen, sind aber SSD-Festplatten mit ein paar Terrabyte Speicherplatz, inklusive externer Festplatten als ausgelagertes Gedächtnis.

Kurz gesagt: Die linken Entgleisungen passieren, weil hier Menschen, die sich von der Komplexität des Weltgeschehens (aus verständlichen Gründen) überfordert fühlen, in den bequemen Safe Space des Identitätsdiskurses flüchten. Das Denken wird outgesourced, selbst muss man es nicht mehr erledigen. Die Vertreter der radikalen Identitätspolitik denken ausschließlich in Opferhierarchien: Wer schwächer ist, hat recht. Fertig, aus, Problem gelöst.

Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass ein Volk, das seit jeher mit seiner Auslöschung bedroht war, von dem allein sechs Millionen der Tötungsmaschinerie des Dritten Reiches zum Opfer fielen, das dieses Volk jetzt als die „stärkere“ Partei identifiziert wird (was bei militärischer Stärke durchaus zutreffen mag), also automatisch in jeder Hinsicht Täter ist – und auch an dem Schuld tragen soll, was ihm selbst widerfährt. (Und nein, kein denkender Mensch behauptet, dass die Tatsache von sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden den israelischen Staat dagegen immunisiert, für fehlgeleitete Siedlungspolitik Kritik einstecken zu müssen.) Diese simple Schablone erfüllt in unserer Lebenswirklichkeit keinen Zweck, der über den reinen Selbstzweck als Selbstvergewisserungsinstrument und Distinktionswerkzeug für wärmende Gruppenzugehörigkeit hinausgeht.

Das, genau das kommt dabei heraus, wenn man verlernt hat, Menschen nach dem zu beurteilen, was sie „tun“, und sie nur noch danach bewertet, wer sie „sind“. Herkunft, Hautfarbe und biologisches Geschlecht lassen sich gemeinhin nicht ändern, höchstens umdeuten (das gefühlte, gelesene und gelebte Geschlecht sehrwohl). Und genau dieses Unveränderliche sind die Parameter, mit denen die Wokisten ihre Rechenspiele durchführen. Wir müssen diese binäre Denkweise verstehen, weil sie kein Randphänomen mehr ist, sondern in linken Kreisen Schule macht: Für Wokisten ist ein Bewohner des Gazastreifens automatisch im Recht, jedes Handeln scheint erlaubt, selbst barbarische Gewaltakte, allein durch seine Zugehörigkeit zu jener Gruppe, die als die schwächere, die unterdrückte identifiziert wurde. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist absolut und in den Köpfen eingerastet.

Kaum etwas ist so schändlich, wie einer Person oder Gruppe erlittenes Leid abzusprechen. Radikale Identitätspolitik ist seit jeher eine Sackgasse, in die sich denkfaule Rechthaber verirren, und in den Nachwehen des 7. Oktober ist sie endgültig krachend gegen die Wand gedonnert. Diesen Aufschlag hat nun wirklich jeder gehört, es scheppert von New York über London bis Berlin. Seit Jahren reden ich und andere sich dazu privat wie beruflich den Mund fusslig, seit Jahren schreiben wir uns dazu die Finger wund, und mein Entsetzen über die gezeigte Niedertracht wird nur gemindert von der Erleichterung, dass endlich eine markante Selbstentlarvung stattgefunden hat. Die Vertreter der radikalen Identitätspolitik zeigen nach der Ermordung und Verschleppung von Unschuldigen endlich ihr wahres Gesicht. Es ist eine Fratze, aus der jeder Anflug von Menschlichkeit verschwunden ist.

Geistige Pubertät

Für die Kulturkämpfer scheint eine kleine Nachdenkhilfe angebracht. Was Hamas und Konsorten getan haben: Gezielt unschuldige Menschen misshandelt, umgebracht und gefangengenommen. Was die Kämpfer der Hamas, die Mittäter aus anderen radikalislamischen Gruppierungen oder irgendwelche Mitläufer nicht getan haben: Ausschließlich militärische Ziele angegriffen. Als legitimer „Freiheitskampf“ ließe sich die Aktion womöglich besser schönreden, wenn hier bewaffnete Menschen aus dem Gazastreifen auf bewaffnete Menschen in Israel gefeuert hätten, also Soldat gegen Soldat, das wäre eine Art Kriegsgeschehen. Jetzt aber noch einmal so deutlich, dass es auch wirklich alle Gretas dieser Welt verstehen: Die Kämpfer der Hamas haben gezielt Zivilisten massakriert und als Faustpfand für Erpressungen entführt. Deshalb muss man den Angriff als Terrorakt einstufen und spätestens jetzt die Hamas als terroristische Vereinigung. (Huhu, BBC, alles senkrecht?) Wie die Reaktion Israels aussieht und inwiefern es sich dabei um eine Überreaktion handelt, ist eine andere Frage, die in einem zweiten Denkschritt gestellt werden muss. Auch eine historische Einordnung ist wichtig. So oder so können einem gleichzeitig die Opfer des Hamas-Terrors und die zivilen Opfer leidtun, die bei Bombardements und Bodenoffensive ums Leben kommen.

Die Bewohner des Gazastreifens leben seit jeher unter unzumutbaren Bedingungen – nicht zuletzt unter der Fuchtel einer terroristischen Vereinigung. Einfuhrverbote von lebenswichtigen Ressourcen und Produkten, Kontrolle der Küstengewässer, eine Ummauerung wie ein militärisches Sperrgebiet – ein unwürdiger Zustand. Aus Wasserrohren lassen sich Raketen bauen, nicht nur theoretisch, sondern praktisch, es geschieht. Sind deshalb alle Wasserrohre Raketen? Nein. Willkommen in der Komplexität des Planeten Erde. Es ist die Erwachsenenwelt. Die Vertreter der radikalen Identitätspolitik sind allesamt pubertär, selbst wenn sie dreißig, vierzig oder fünfzig Jahre alt sind. Es ist die mentale, intellektuelle Pubertät, in der sie verharren.

Eine als Klimaschutzheilige verehrte verzogene Göre, die sich in ihrem gefährlich vereinfachenden Weltbild verrannt hat und dabei öffentlich hofiert wird, erliegt einem antisemitischen Schuldzuweisungsreflex und bringt dabei eine international agierende Protestbewegung in Erklärungsnot – und das wundert euch? Dann habt ihr der die Doppelzopfigkeit einer Pippi Langstrumpf mit dem Stantepede-Aktionismus eines Rumpelstielzchen in schwedischer Eleganz vereinenden Schulschwänzerin bis jetzt nicht richtig zugehört. How dare you? Der rationale Umgang mit den Folgen des menschengemachten Klimawandels und eine globale Verminderung der Treibhausgasemissionen ist viel zu wichtig, als dass wir diese Dinge narzisstischen Vereinfachern und egozentrischen Selbstdarstellern überlassen sollten. Die Leute können jetzt wieder aufhören, ihre Kinder Greta zu nennen.

Einfach kompliziert

Ich bin kein Historiker. Andere können bei jedem Quadratmeter Wüste herleiten, wer es wann genau wie bevölkert hat, sie können mit dem altehrwürdigen Noam Chomsky darüber streiten, wie sehr sich religiöse Schriften als historische Quelle heranziehen lassen und auf welche Abstammungslinie sich wer berufen darf. Wir können studieren und diskutieren, was Zionismus ist und wo der Übergang von Anti-Zionismus zu Antisemitismus geschieht. Aber man muss kein Historiker sein, um zu wissen, dass Menschen, die mit Maschinengewehren auf unbewaffnete Zivilisten schießen, nicht die Guten sind. Man muss sich die Wahrheit schon sehr arg zurechtbiegen und seinen moralischen Kompass mit dem Magnetsplitter der Identitätspolitik so weit verwirren, sich das schönzureden. Ich bin kein Historiker, nur ein Newsjunkie mit Internet und zu viel Zeit, aber man muss kein Historiker sein, um in wütender Trauer das Leid von Unschuldigen auf jedweder Seite mitzuempfinden, und Abscheu gegenüber Besserwissern, die partout nicht über die Lippen bringen, dass sie den Angriff der Hamas vom 7. Oktober als zwar einordenbaren, aber unentschuldbaren Akt der Barberei verurteilen. Das ist doch wohl das Mindeste.

Es ist eine Intellektuellenkrankheit, sich zu allem und jedem permanent äußern zu müssen. Richard David Precht schreibt durchaus lesenswerte Bücher zu Themen, mit denen er sich intensiv auseinandersetzt, er sagt auch in seinem wöchentlichen Podcast mit Markus Lanz manchmal interessante Sachen, aber bei dem Dauergelaber entschlüpft ihm auch ein Haufen unüberlegter Schwachsinn. Schwitz- und Spuck-Philosoph Slavoj Žižek quasselt sich um Kopf und Kragen, und wahrscheinlich auch um den Verstand. Viele wollen jetzt ganz originell sein, alles mal gegen den Strich bürsten. Manches ist kompliziert, anderes sehr einfach.

Am 7. Oktober 2023 hat die Terrororganisation Hamas einen Terroranschlag in Israel verübt, bei dem etwa eineinhalbtausend Menschen umgebracht worden sind, manche davon auf bestialische Weise. Wir müssen uns zumuten, in Worte zu fassen, was das konkret bedeutet; Journalisten, denen die entsprechenden Aufnahmen gezeigt wurden, berichten von herausgerissenen Augäpfeln und abgeschnittenen Brüsten. Was kompliziert ist: Der Nahostkonflikt. Was einfach ist: Die unmissverständliche Verurteilung von roher, brutaler, zügelloser Gewalt. Die verschwitzte Quasselstrippe Žižek erklärt uns unwissenden Blödianen, dass es für alle Geschehnisse einen Kontext gibt. Oh, danke, heiliger Slavoy, du Gott der Denker, erleuchte uns Unwissende, erhelle uns mit deinem die Welt verstehenden Superverstand. Hat echt keiner gewusst. Der Kontext einer solchen Gewalttat ist in seiner Relevanz nachgereiht, vor allem dann, wenn er als Rechtfertigung herangezogen wird.

Von Verharmlosern des Terrorangriffs vom 7. Oktober wird gern betont, das alles sei nicht in einem Vakuum passiert. Aber wer behauptet das? Niemand, der bei Sinnen ist, denkt oder sagt so etwas. Natürlich geschah es nicht in einem Vakuum, genauso wenig wie irgendetwas in einem Vakuum passiert. Wenn ein Mann seine Frau umbringt, wird es sehr wichtig und als Präventionsmaßnahme für die Zukunft notwendig sein, den Fall zu analysieren und Ursachenforschung zu betreiben. Wie sah die Psyche des Täters aus, in welchem Umfeld bewegte er sich? Erkenntnisse werden zutage gefördert. Aber undenkbar wäre, dass jemand sofort nach Bekanntwerden des Mordes kontert: Naja, kein Wunder, der wurde ja immer so schnippisch angefaucht, richtig erniedrigt, da braucht die sich nicht wundern, dass er einmal austickt und den Hammer nimmt. Das Analysieren und Verstehenwollen eines Terrorakts ist ein zweiter Schritt, aber nicht der erste. Der erste Schritt nach einem Terrorakt ist Mitgefühl und ernstgemeintes Trauern über schändliche Taten, die durch nichts zu rechtfertigen sind.

Eintausend Breiviks

Manchmal helfen Vergleiche, auch wenn es sinnlos und vielleicht sogar geschmacklos ist, Verbrechen und Eruptionen von Gewalt miteinander zu vergleichen. In den Wochen nach dem 7. Oktober, nach den zig Stunden des Medienkonsums, des Artikellesens und des Reportagenschauens, nach den hundert Vorträgen und Interviews mit Auskennern, nach den paar kurzgehaltenen Gesprächen mit Nahestehenden dringt mir immer wieder eine Phrase ins Bewusstsein, die mir hilft, mir das Geschehene zu veranschaulichen, die ich immer wieder gedanklich vor mir her sage: Eintausend Breiviks. Vergegenwärtigen wir uns, dass eintausend Breiviks schwer bewaffnet in Wohnsiedlungen eingedrungen sind und um sich geschossen haben. Um Menschen aus Schutzräumen zu locken, zwang man mit vorgehaltener Waffe Bewohner, ihre Nachbarn herauszurufen, andere wurden als Geiseln genommen. Eine Schreckenstat, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Und jetzt passiert etwas, das den endgültigen Zivilisationsbruch darstellt, jetzt nimmt das Geschehen eine Abzweigung, die den Unterschied zwischen einem zivilisierten Land und einem Unrechtsstaat darstellt: Die eintausend Breiviks können in ihr Gebiet zurückkehren, nicht nur unbehelligt, sondern angefeuert von Verbündeten. Gaza ist in seinem derzeitigen Zustand ein rechtsfreier Raum, und zwar nicht durch äußeren Einfluss, sondern aus sich selbst heraus. Breivik hat sich nach seinem Amoklauf auf der Insel Utøya ergeben und sich den norwegischen Behörden gestellt. Viel zu lange brauchte die Spezialeinheit, endlich die Lage korrekt einzuordnen, endlich ein funktionierendes Boot aufzutreiben, endlich das Grauen zu beenden. Stellen wir uns vor, dass Breivik wahllos Dutzende von Kindern und Jugendlichen niederschießt, sich anschließend in einen Pickup setzt, eines seiner Opfer halbnackt gefesselt auf der Ladefläche, dann ein paar Kilometer weiter fährt und in Sicherheit ist, weil hier seine Anfeuerer warten, die ihn zu seinem Erfolg beglückwünschen. Die Bilder einer jubelnden Menge, die mit erhobenen Fäusten eine Bande von Terroristen als vermeintliche Freiheitskämpfer empfängt, sollte sich uns ebenfalls als Bild der Verrohung und der Gewalt einbrennen. Bei den ersten Wortmeldungen israelischer Politiker dachte ich noch, der Vergleich mit dem sogenannten Islamischen Staat sei übertrieben, aber mittlerweile muss man nüchtern feststellen, dass die medial transportierten Inhalte sich ähneln.

Mit den Ereignissen vom 7. Oktober gibt es eine unleugenbare Tatsache: Der Gazastreifen ist ein Rückzugsort für Terroristen. Nach ihren Greueltaten kehrten sie unbehelligt, sogar bejubelt dorthin zurück. Sie mussten sich nicht vor den Strafverfolgungsbehörden verstecken, weil sie keine Sanktionen zu befürchten hatten. (Die von der Hamas eingesetzte „Polizei“ legt meines Wissens nach einen Schwur auf die Vernichtung des Staates Israel und die Auslöschung des jüdischen Volkes ab.) Ich weiß nicht, welche Staaten dieser Erde den Gazastreifen als was genau anerkennen, er ist ein Konstrukt, dessen Gebiet auf Internetkarten mit gestrichelter Linie eingezeichnet ist, so wie das Westjordanland. Ich glaube nur, dass ein solches Konstrukt, das einen Rückzugsort für tausende Terroristen bietet, auf dessen Territorium in unterirdischen Tunneln mehrere hundert Geiseln festgehalten werden können, sein Recht auf Staatlichkeit verwirkt hat – jedenfalls in diesem Zustand. Wenn sich ein Großteil der Bevölkerung des Gazastreifens nicht zur Hamas bekennt, dann ist es am allermeisten im Interesse dieser Bevölkerung, von der Organisation befreit zu werden. Der Gazastreifen und seine vielgeprüften Bewohner haben etwas Besseres verdient als Hamas und Konsorten.

Ein weiterer Vergleich, der gezogen wurde, ist jener mit dem 11. September. Die Rechenspiele, bei denen die Zahl der Opfer ins Verhältnis zur Bevölkerung gesetzt wird, wirken morbide, und ob es jetzt in Relation gesehen ein zehnfacher 11. September war, spielt keine Rolle. Der Historiker Yuval Harari hat richtig bemerkt, dass der Vergleich mit dem Anschlag auf das World Trade Center einen kleinen Haken hat. Man müsse sich vorstellen, dass die Terroristen, die in Manhattan ein paar tausend Menschen getötet haben, in New Jersey wohnen, also nebenan. Ein Bild, das sitzt. Harari hat auch gesagt, er glaube, der Schmerz und die Trauer säßen beim israelischen Volk so tief, dass sie womöglich blind sein könnten für das richtige Maß der Entgegnung – mahnende Stimmen müsse es von außen geben, das sei die Rolle der Amerikaner und Europäer. Es scheint durchaus zu passieren. Ein Biden fand richtige Worte, als er warnte, Israel dürfe nicht ähnliche Fehler machen wie die Amerikaner nach den Anschlägen des 11. September, ein Blinken ebenfalls. Und wir sollten uns erinnern: Selbstkritisch sind Medien gern erst im Nachhinein. Unvergessen das Gebaren einer New York Times, die erst begeistert und patriotisch die Regierung flankierte, später zerknirscht in einem Leitartikel die eigene Berichterstattung vor und während des Irak-Krieges offen hinterfragte.

Das Versagen der Linken

Ich kenne keinen ernstzunehmenden Menschen, der sich heutzutage freimütig und selbstbewusst als links bezeichnen würde. Was früher links war, ist heute als Geisteshaltung unter zivilisierten Menschen einfach normal: Weltoffenheit, Toleranz, Verteilungsgerechtigkeit. Normal ist, einander vorurteilsfrei zu begegnen, Freiheiten zu gewährleisten und Schwächergestellte zu unterstützen. Ausgrenzung und Ausbeutung sind abnormal – oder sollten es jedenfalls sein.

Es gibt bereits ein paar gute Beiträge zum Versagen der (selbsternannten) Linken angesichts des Terrors der Hamas und des tatgewordenen Antisemitismus. Sie fassen sehr gut zusammen, welche verbalen Entgleisungen stattgefunden haben und welcher Schauer einem dabei über den Rücken läuft. Sie legen den Finger in die Wunde, dringen meines Erachtens nach aber noch nicht in den Kern der Sache vor. Mein absurd langer Essay entsteht nicht zuletzt als Entgegnung auf den Vorwurf, dass Teile des Literaturbetriebs derzeit verdächtig schweigsam sind. Gedanken brauchen Raum, sich entfalten zu können, das Politische muss mit dem Privaten verschränkt werden. Unredliche Verkürzung ist fatal.

Prägnantes Beispiel: Ein Geschichtsprofessor an der Cornell University stellte sich bei einer propalästinensischen Veranstaltung vor einer Menschenmenge auf die Bühne und nannte die Gewalttaten der Hamas „exhilarating“ und „energizing“, niemand im studentisch wirkenden Publikum erhob Einspruch. Dieser superhippe „historian of the Black radical tradition“ nimmt jetzt mal bis Ende des Semesters einen kleinen „leave of absence“. Er hat es ja anders gemeint, sagt er, nämlich allein das Ausbrechen aus dem Freiluftgefängnis Gaza war exhilarating, eh nicht der Massenmord an Unschuldigen. Und ganz wichtig ist ihm die Message: „He unequivocally opposes and denounces racism, anti-Semitism, Islamophobia, militarism, fundamentalism, and all systems that dehumanize, divide, and oppress people.“ Cool, dann soll er mal schön gegen sich selbst opponieren.

Zusammenhänge

An der (ehemals) renommierten Harvard Univerity fanden es 34 (in Worten: vierunddreißig) Studierendenorganisationen angemessen, als direkte Antwort auf den Terrorangriff der Hamas ein Statement zu veröffentlichen, in dem es erschreckend unmissverständlich heißt: „We, the undersigned student organizations, hold the Israeli regime entirely responsible for all unfolding violence.“ Das ist in seiner unmenschlichen Letztklassigkeit so unfassbar, dass einem die Spucke wegbleibt. In Israel, der einzigen funktionierenden Demokratie der Region, ist also ein „Regime“ an der Macht? Und die eintausendfünfhundert abgeschlachteten Menchen sind quasi selbst schuld. Diese ungefragte Ferndiagnose ist wohlgemerkt kein Fundstück vom Social Media-Auftritt eines radikalisierten Spinners, der verwahrlost im Keller seiner Mutter haust, sondern wurde konzertiert gefeuert aus allen Kanälen der offensichtlich von ausreichend radikalen Spinnern unterwanderten Harvard University. (Dass sich ein paar der unterzeichnenden Organisationen nach einem Backlash distanzieren, wirft ein paar Fragen auf, nämlich ob deren Vertreter zu faul waren, einen halbseitigen Text zu lesen, ob sie nicht sinnerfassend lesen können, ob sie öfters Dinge unterschreiben ohne sie vorher zu lesen oder ob sie sich der Tragweite einer Positionierung beim wahrscheinlich heikelsten Konfliktherd der Erde bewusst sind. So oder so kein Ruhmesblatt für diese Bildungseinrichtung.) Die Marke Harvard ist irreversibel beschädigt, und das ist wahrscheinlich gut so.

Im „2024 Free Speech Ranking“ der Foundation for Individual Rights and Expression (FIRE), bei dem Studierende nach ihren Einschätzungen zu Redefreiheit und Debattenkultur befragt werden, erreichte die Havard University von 248 Universitäten den letzten Platz. Das allein ist schon eine aberwitzige Niederlage. Aber es kommt noch besser bzw. schlechter. Zitat: „Harvard University came in dead last with the lowest score possible, 0.00, more than four standard deviations below the mean.“ Bumm. (Das erinnert mich an meine Jugend. Es war wohl in der sechsten Klasse Gymnasium, irgendwann gegen Ende eines an Niederlagen nicht armen Semesters, aus dem Schulbetrieb hatte ich mich geistig längst ausgeklingt, im nächsten Jahr würde ich endgültig hinschmeißen. Unsere verbitterte rotgrau gelockte Mathematiklehrerin betrat resigniert den Raum mit frisch verbesserten Schularbeitsheften. Diese Schularbeit sei sehr leicht gewesen, wie uns ja allen aufgefallen sei, sagte sie. Dann sprach sie mich direkt an, denn ich hätte etwas Bemerkenswertes geschafft. Meine Miene hellte sich auf. Habe ich versehentlich einen Einser geschrieben, überlegte ich, gar die beste Arbeit der Klasse abgeliefert? Blindes Huhn und so. Die Lehrerin konfrontierte mich seufzend mit der harten Realität: Ich hätte es geschafft, bei dieser kinderleichten Schularbeit einen Mordstrumfetzen abzuliefern, und auch noch den einzigen der Klasse, nicht einmal einen Vierer hatte jemand fabriziert. Die Hälfte bekam einen Einser, der Rest Zweier und Dreier, dann lange nichts, und dann als Bonus mein Fünfer. Als hätte ich es bewusst darauf angelagt. Meine Ambitionen, ein weltberühmter Topmathematiker zu werden, waren plötzlich dahin. Die Klasse lachte unsicher, aber nicht über mich, sondern mit mir, dann lachte ich auch, und alles lachte befreit auf. Mir war es wurscht. Ich hatte nichts mehr zu verlieren, und das, was ich durch verbissenen Einsatz um schulische Leistungen hätte gewinnen können, also bessere Noten, interessierte mich nicht die Bohne, denn das Leben hatte anderes mit mir vor. Aber kehren wir zurück nach Harvard.) Lassen wir uns das einmal auf der Zunge zergehen wie ein orangenes TicTac: The. Lowest. Score. Possible. Wenn es in der Bewertungsskala möglich gewesen wäre, dann hätte die Harvard University wohl einen Negativwert erhalten, so wie ich damals in Mathematik eigentlich die Notenskala sprengte und statt einem Fünfer einen Sechser oder Siebener hätte kriegen sollen.

Kein Zufall

Es ist genau das eingetreten, wovor einige seit zehn, fünfzehn Jahren warnen. Die meisten davon werden als rechtsradikal oder mindestens als rechtskonservativ abgetan, und bei einigen stimmt es auch. Tatsache ist, dass Studierende an liberalen Universitäten in den Vereinigten Staaten von Amerika sehr viel Zeit und Energie darauf verwenden, unliebsame Speaker mit von ihrem Weltbild abweichenden Ansichten von Vorträgen abzuhalten und verhasste Lehrende herauszuekeln, dass sie Triggerwarnungen für Weltliteratur einfordern oder sich schlichtweg weigern, bestimmte Autoren oder Inhalte zu bearbeiten, weil sie das „retraumatisieren“ könnte. Sie wollen nichts ausgesetzt sein, das sie triggert, verunsichert, schmerzt, also mit nichts konfrontiert sein, das ihrem in Jugendjahren zurechtgezimmerten Weltbild widerspricht. Noch ganz dicht? Ja, dann bleib halt daheim.

Mittlerweile können sie erstaunliche Erfolge verbuchen. Ein Ort wie die Harvard University scheint die perfekte Filterblase geworden zu sein. Die Studierenden dort sind ja grundsätzlich nicht blöd, viele denken sich bestimmt ihren Teil, aber man umlauert sich und erlebt kein Umfeld des offenen Ausdrucks. Harvard hat nicht nur den legendären Gesamtscore von 0.00 ergattert, sondern ist auch die einzige Universität mit einem „Speech climate rating“ das mit dem schönen Begriff „Abysmal“ eingestuft wird. Abysmal kommt von Abyss, sie stehen gesprächsklimatisch also am Abgrund. (Man kann FIRE und das Free Speech Ranking auch nur halbernst nehmen, das Ergebnis ist und bleibt so traurig, dass es schon wieder lustig ist, wenn es nicht so abgrundtief traurig wäre.) Was für ein bedrückender Ort, an dem sich junge Menschen so angstbesetzt und scheu begegnen. Ein Ort jedenfalls, an dem der Schwachsinn blüht. Die Lehre daraus lautet: Einseitige Informationsgewinnung ist irgendwann nicht mehr zu unterscheiden von einem toxischen Zufluss sich selbst bestätigender Propaganda. Jeder wissbegierige, neugierige Geist, müsste davon kotzen, weil das ewige Wiederkäuen des immer schon Gewussten einen schalen Beigeschmack erhält.

Der Kern, in den ich also vordringen möchte, lautet: Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Es ist kein Zufall, dass genau dort, wo man sich auf den identitätspolitischen Abgrund zubewegt, wo man unliebsame Stimmen zum Verstummen bringen will, dass genau dort eine Denkfaulheit beginnt, die sich in Empathielosigkeit fortsetzt und bei der Verherrlichung von Gewalt als legitime Form des Protests endet. Das Desinteresse für Widerrede gipfelt in barbarischer Erkenntnisresistenz.

Bittere Medizin

Jene Studierenden, die sich nicht nur einer einseitigen Parteinahme, sondern eben einer perfiden Täter-Opfer-Umkehr schuldig gemacht haben (und weiterhin verdammt stolz darauf sind), beschweren sich jetzt, dass sie dafür kritisiert oder sogar angefeindet werden. Unternehmen ziehen Jobangebote zurück, angeblich werden Blacklists erstellt. Sapperlott – ist das jetzt diese berühmte Cancel Culture, die es doch eigentlich gar nicht gibt? Es entbehrt nicht einer gewissen finsteren Befriedigung, dass die Wokisten ein paar Tropfen ihrer eigenen bitteren Medizin kosten dürfen, die sie selbst in den letzten Jahren so großzügig anderen verabreicht haben. Wir können uns jetzt dumm stellen und sie mit exakt demselben Jargon der Verharmlosung abspeisen, mit dem sie selbst bei Shitstorms operieren, mit dem sie soziale Ausgrenzung und Ächtung als hinfällig und Beweis einer unwürdigen Wehleidigkeit abtun: Also bitte, ein Arbeitgeber darf sich seine Mitarbeiter doch frei aussuchen, wieso siehst du plötzlich die Free Speech in Gefahr, du „darfst“ ja eh alles sagen, nur musst du dann halt mit den Konsequenzen leben, dann ist dein Traumjob bei dieser renommierten Law Firm eben weg, du wirst sicher etwas anderes finden. Vielleicht geht jetzt manchen ein Licht auf, die sich bisher nicht eingestehen wollten, dass sie mit dem Einfordern von Meinungsfreiheit immer nur die eigene meinten. Es ist ja auch sehr praktisch, Verhaltensregeln zu definieren bei gleichzeitiger Kontrolle darüber, wo genau sich überhaupt das Spielfeld befindet – außerhalb davon sind diese Regeln obsolet. (Das ein Meinungsspektrum spätestens dort endet, wo strafrechtliche Relevanz beginnt, sei als gegeben vorausgesetzt.)

Die Vertreter der radikalen Identitätspolitik haben sich, wie es so schön heißt, bis zur Kenntlichkeit entstellt. Spätestens jetzt sollte der letzte Dorftrottel verstehen, wo wir landen, wenn wir Menschen nicht danach beurteilen, wie sie handeln, sondern ausschließlich danach wer sie (unserer Peer Group nach) sind. Im Nahostkonflikt finden sie ihren perfekten Spielplatz, jetzt können sie sich als Befreier aufspielen und gegen eine vermeintliche Kolonialmacht wettern, die Einteilung in Unterdrückte und Unterdrücker ist dabei so abwegig leicht, dass es wehtut. Ein komplexer Sachverhalt wird heruntergebrochen auf einfache Antworten, wird so eingedampft und reduziert, dass er in die geschrumpften Spatzenhirne der Wokisten passt. Gedankenlose Meinung war schon immer dumm, und Dummheit war schon immer gefährlich, manchmal auch herzlos. Wo Unmündigkeit selbstverschuldet ist, dort gibt es, nach Kant, für den Menschen immerhin einen Ausgang namens Aufklärung.

Rhizom

Wir existieren in mannigfaltigen Verflechtungen, mal sichtbar, mal unsichtbar. So wie sich der Antisemitismus – der oft ein lächerlicher Euphemismus für blanken, von Ressentiments getriebenen Judenhass ist – als Krebsgeschwür ausbreitet und immer wieder aufs Neue bestrahlt und zurückgestutzt werden muss, so ist der Gazastreifen kilometerlang untertunnelt. Hier lauern die Terroristen der Hamas, hier bewachen sie ihre Geiseln, hier horten sie Waffen und Munition. Wie ein krankes Rhizom hat sich die Tunnelwelt in die Erde gefressen. Und, auch diese Wahrheit besteht: Diese unterirdischen Gänge sind Lebensadern, über die Schmuggelware aus Ägypten herangeschafft werden kann. Wenn es jetzt heißt, der Gazastreifen sei die Hölle auf Erden, dann muss man es glauben, auch wenn wir nicht in der Lage sind, es uns vorzustellen.

Eine makabre Anekdote. Wenige Tage vor dem 7. Oktober 2023 war ich bei meiner Lebenskomplizin in Berlin. Wir räumten gerade so an Kleiderkartons herum, als ich wie nebenbei einstreute, ich wisse gerade alles, gerade könne man mich alles fragen, egal was, ich fände bestimmt eine Lösung. Meine Lebenskomplizin nannte ohne zu zögern den wahrscheinlich verworrendsten Konflikt der Menschheitsgeschichte, das unlösbarste Problem ever, den Nahostkonflikt. Quasi den Endboss der Diplomatie. Meine vollmundige Ankündigung musste ich natürlich einlösen, also gab ich wie aus der Pistole geschossen eine Antwort. Der Nahostkonflikt lasse sich – wie jeder ähnlich gelagerte Konflikt zwischen strikt verfeindeten Parteien – ganz einfach lösen: Man müsse in beiden Konfliktparteien jene Kräfte identifizieren, die Frieden mehr möchten, als alles andere sonst, diese Gruppen müsse man so sehr stärken, dass sie sich zusammenfügen können und gemeinsam mehr Macht haben als die jeweiligen anderen Gruppen. Meine Lebenskomplizin hob mitleidig die Braue, aber ich war nicht mehr zu bremsen.

Wer um jeden Preis Frieden schaffen will, weiß eines ganz genau: Es wird keine Gerechtigkeit geben. Auf beiden Seiten sind Dinge geschehen, die nicht mehr rückgängig gemacht und die nicht mehr gutgemacht werden können. Wer Frieden will, muss akzeptieren, dass ihm Unrecht geschehen ist, und damit leben. Wer Frieden will, muss alles hinunterschlucken, den verursachten Schmerz, das ertragene Leid, die Erinnerung an misshandelte und verstorbene Angehörige, die Wut über erfahrenes Unrecht, die Verzweiflung über das unerbittliche Schicksal, die Anfeindung der Gleichgesinnten. Man soll ruhig pessimistisch sein: Frieden ist oft auch einfach nur die Abwesenheit von Krieg. Damit muss man sich abspeisen lassen. Ich redete mich in Rage, das war doch alles so einfach, wieso waren alle so blöd, das nicht zu verstehen. Meine Lebenskomplizin lachte. Ich war wieder einmal ein lieber Trottel. Keiner wusste, dass wir an diesem gemütlichen Abend in Berlin den Nahostkonflikt gelöst haben. Wir sortierten weiter Blusen.

Was wir nicht wissen

Es gibt einen Punkt, an dem Konfliktparteien so erschöpft sind von der Gewalt, so leergeweint und hohlgefressen von Schmerz, dass sie allein schon aus Erschöpfung Frieden schließen, weil sie nicht mehr können. Sie können keine Verluste mehr verkraften, keinen Einschlag mehr ertragen, keine Demütigung mehr verdauen. Lässt sich der Nahostkonflikt lösen? Selbstverständlich nicht. Es gibt keine Lösungen, schon gar nicht dort, wo man sich nicht einmal darauf einigen kann, was eigentlich das Problem ist. Der Nahostkonflikt wird eines Tages verschwunden sein, auf welche Weise auch immer. Kein Zustand ist immerwährend. Unabänderliches Ziel muss es sein, dass es bei dem Wechsel von einem Zustand in den anderen so wenige Tote und Verletzte wie möglich gibt. Ob Sonderverwaltungszone, Einstaatenlösung oder Zweistaatenlösung oder etwas ganz anderes, von dem wir noch gar nicht wissen, wie es heißt: Eines Tages wird es einen sogenannten Nahostkonflikt nicht mehr geben. Es wird wohl noch sehr lange dauern, bis es dann endlich wieder nicht vorbei ist.

Es gibt Hoffnung, ob wir wollen oder nicht. Sie ist die Trotzreaktion des Sein gegen das Nichts. Die Hoffnung zeigt sich in konkreten Schnipseln der Wirklichkeit. Ein israelischer Mann, Mitglied der Freiwilligengruppe, die sich um das Bergen der Leichen aus einem Kibbuz kümmert und mit eigenen Augen das nackte Grauen gesehen hat, wird von einem britischen Journalisten gefragt, ob er mitfühlen könne mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die jetzt unter den Bombardierungen leide. Ohne groß nachzudenken, sagt er, dass ihn sehr schmerze, was die Leute dort ertragen müssten, und er würde sofort betroffene Familien und ihre Kinder in seinem Haus wohnen lassen.

Eine freigelassene Fünfundsiebzigjährige gibt ihrem Geiselnehmer bei der Übergabe an der ägyptischen Grenze die Hand. Stockholmsyndrom? Wohl eher eine Geste unter Menschen in einer von Krieg zersetzten Gegenwart. In offenen Briefen und auf Kundgebungen verbinden sich Menschen aus unterschiedlichen politischen und religiösen Lagern zu vehementem Einsatz gegen jedwede Gewalt. Naiv? Unentbehrlich. Religionsvertreter verschiedener Glaubensrichtungen verbrüdern sich zu lauten Stimmen für den Frieden. Aussichtslos? Immerhin etwas. Wer kann, muss sich irgendwie dafür einsetzen, die Spirale der sinnlosen Gewalt zu verlassen. Was wir wissen, gibt keinen Grund für Optimismus. Vielleicht müssen wir uns voller Hoffnung auf all das besinnen, was wir nicht wissen.

Letzte Änderung: 07.05.2024  |  Erstellt am: 01.05.2024

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