Sterbeverse

Sterbeverse

Marie T. Martin sah ihr Ende poetisch
Marie T. Martin | © Foto privat

Ursprünglich wollte sie Schriftstellerin oder Cowboy werden. Stattdessen wurde sie Hörspiel-Autorin und Theaterpädagogin in Köln, um schließlich wieder zurück ins heimatliche Markgräflerland zu gehen. Als im Januar 2021 im Literaturhaus Köln ihr Gedichtband „Rückruf“ vorgestellt wurde, konnte sie nicht mehr daran teilnehmen. Matthias Buth erinnert an die Lyrikerin Marie T. Martin, die im Alter von 39 Jahren gestorben ist.

Dichter sterben leise, Gedichte sterben voraus. Und sie stellen sich vor das Verwehen, Verbleichen, Versterben. „Wir liegen unten bei den Wurzeln und schlafen nicht ein“: der letzte Satz von Marie T. Martin, deren Namen hineingeflogen kam in die deutsche Dichtung und weiterfliegt. Denn Dichter sterben nicht. Ihr Band „Rückruf“ ist getränkt von Wehmut und Abschied, aber frei von Larmoyanz und Bitternis. Sie wusste, dass der Krebs sie nehmen würde und sie schrieb dagegen an.
Dialogisch sind ihre Gedichte, die oft der Prosa nah sind und ein Ich evozieren, das außerhalb von ihr liegt und zurück will ins innere Gefäß ihrer Person. Wer auf die weiße Pest der Corona-Wellen schaut und jeden Morgen neu erschreckt, sieht, wie sich die Kreise verengen, mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Dann liest man diese suggestiven Verse anders, sie betreffen alle, uns. Corona liebt mit weichen Lippen in uns hinein, bis dem Tod der Tod vergeht und wir uns besternt finden und nie mehr verlassen. Von Corona spricht die Lyrik von Marie nicht, auch nicht vom Krebs, aber beide die Existenz bedrängenden Erscheinungen sind eingewoben in ihre Verse, die naturmagischen Klang haben. Peter Huchel hätte sie gerne gelesen und wohl auch Else Lasker-Schüler.

Martin kam 1982 in Freiburg zur Welt, zwölf Jahre lebte sie als Hörspiel-Autorin und Theaterpädagogin in Köln. Die Prosabände der Elevin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig „Wisperzimmer „und „Luftpost“ sind mit den beiden Lyriksammlungen verschwistert. Der Klang ihrer Texte und das metaphorische Inszenieren von Welt hinter den Worten lassen ein Textgebäude entstehen, das Fremdheit und Unbehaustsein beleuchtet. Ihr romantischer Gestus spricht an, nimmt mit. Diese Lyrik verzweifelt an der Welt mit zarten, aber stolzen Worten. Der rhetorische Impetus verbindet die Verse, die zuweilen das Bizarre streifen und dann fast schon zuckrig wirken. Politischen Zugriff vermeiden die Gedichte, sie wollen noch mehr. Die in fünf Abteilungen gegliederte Sammlung ist eine poetische Rhapsodie, die in „Blau“ ihren Höhepunkt hat und geradezu schubertisch musiziert.

Am Anfang
So war das: Du öffnest den Mund,
tatest den ersten Schrei. Jemand
wickelte dich, legte dich in einen Kasten.

Du warst gewohnt, einen Herzschlag
zu hören, warst gepolt auf Wärme,
den Klang einer Stimme. Noch heute

kann dich die Angst überfallen, dass
alle auf einmal verschwunden sind,
dass du eine Täuschung bist oder ein
seltsamer Traum

Nein, das war Marie Martin nicht, ihre Lyrik ist eine Poesie, die nicht schlafen wird.

Sie kehrte nach den Kölner Jahren nach Freiburg zurück, wo auch die aus Rumänien kommende Iris Wolff lebt, deren luftige Prosa ihren Texten verwandt ist. Und mit der Dreisam-Stadt verbunden ist das herrliche Großmutter-Gedicht „Drhom“, das sich in sechs Abschnitten entfaltet und den zaubernden Rat der alten Dame enthält „immer feste lernen…damit du später / Bücher essen kannst / Häuser alles was du / willst ganze Länder / in Sahnestrudel / wälzen heraus / kommen ganz neu…“. Die Autorin sah sich hinein – aber im Abschied anderer, um so nicht zu unmittelbar von sich selbst sprechen zu müssen. Doch manchmal ein Ich-Durchbruch. Die Trauermusik von Georg Trakl klingt dann an in Versen wie „Blaufeld, die Trauer, seit Jahren fällt sie dich an, ihre /Klauen in dich zu graben, streicht wie ein Zweig mit / nassen Ästen in dein Gesicht, fährt in dein Reden, ist / ständig da wenn du wach liegst. Kannst du ihre Sprache / verstehen….“

Marie T. Martin wollte bleiben und musste gehen. Die sterbensnahe Dichterin bleibt gegenwärtig, weil Trauer und Tod einen unerschöpflichen Quellgrund für Poesie sind und bleiben werden und weil Lyrik von Frauen oft tiefer lotet und uns in die Abgründe hinablesen lässt, denen wir doch gerne ausweichen, die uns aber erreichen werden. „Bekommst du noch Briefe von Toten? Ich schreibe dir / ins Jahr nach deinem Tod, was siehst du ohne Augen?“
Wir sehen die Gedichte von Marie T. Martin, die am 2. November 2021 verstarb und so zu ihren Gedichten ging, wir sehen in ihre Augen und – wir sehen uns.

Letzte Änderung: 04.12.2021  |  Erstellt am: 04.12.2021

Rückruf | © Foto privat

Marie T. Martin Rückruf

Gedichte
96 Seiten, gebunden
ISBN-13: 9783948305086
Poetenladen Literaturverlag, Leipzig 2020

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Kommentare

Reina H. schreibt
Ein bewegender Nachruf. Danke!
Heike Mund schreibt
Danke, dass Ihr uns diese starke Dichterin so nahe gebracht habt! Die Zeilen dieses Nachrufs hallen nach. Und sind tief, wie die lyrischen Zwischen-Räume der Poesie von Marie. Unendlich. Sie wird der Welt fehlen…
Barbara H. schreibt
Danke ! Ein Grund mehr, den Poetenladen in der Nachbarschaft aufzusuchen, eines Tages in 2022. B.H.

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