Mit Thränen scharf

Mit Thränen scharf

Walter Engel, ein Deutscher aus dem Lenau-Banat
Walter Engel

Der Literaturwissenschaftler und Publizist und Walter Engel, der vor 80 Jahren im Banat geboren wurde, arbeitete mitte der 80er-Jahre bei der Forschungsstelle „Bibliographie der deutschsprachigen Literaturzeitschriften des 19. Jahrhunderts“ an der Universitätsbibliothek, dann im Amt für Wissenschaft und Kunst der Stadt Frankfurt. 1988 wurde Direktor der Stiftung „Haus des Deutschen Ostens“, die später in „Gerhart-Hauptmann-Haus. Deutsch-Osteuropäisches Forum“ umbenannt wurde. Matthias Buth porträtiert Walter Engel aus eigener Anschauung.

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus … Wer diese Zeilen hört, summt sogleich die betörende Melodie von Franz Schubert. Und mancher hält die „Winterreise“ für seine persönliche Weltmelodie.

Das Fremdsein ist uns allen nah, stets wollen wir ankommen, dazugehören zu einem Land, zu einer Region, also zu Deutschland und einer Landschaft wie dem Rheinland, wollen Status und Anerkennung haben in einem Beruf und erst recht bei einem anderen Menschen. Und selten gelingt es. Und wenn, nur kurz: in Phasen des Glücks oder auch in den Momenten des Ausblendens von Erinnerungen und so all der Dinge, welche die Seele beschweren. Die Suche nach dem innersten Selbst ist ein Vorgang lebenslänglicher Sehnsucht, ein Hoffen, das sich nicht stillen lässt. Geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei, gibt uns Paul Celan in seinem Gedicht „Engführung“ auf. Aber wem gelingt es? Und ist nicht das Ich zuweilen eher ein Verlies denn ein Freiheitsraum?

Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause. Das ist der Leitsatz, den Friedrich von Hardenberg, der romantische Dichter Novalis, für sein Leben gefunden hat. Aber gilt er nicht für jeden Menschen und erst recht für den großen Menschen- und Bücherfreund Walter Engel?

Die Gedichte der Winterreise, die so innig und volksliednah, so brillant einfach gefasst sind, schrieb Wilhelm Müller. Wäre es möglich gewesen, dass Nikolaus Lenau sie geschrieben hätte? Na klar, das ist eine Spekulation, aber ich riskiere sie und sage: Ja. Müllers und Lenaus Dichten waren verwandt.

Am 13. August 1802 wurde Lenau im damals ungarischen Csatád geboren. Am 13. November 1942 kam Walter Engel zur Welt im rumänischen Deutschsanktmichael, er ging in Hatzfeld zur Schule und studierte von 1960 bis 1965 an der West-Universität Temeswar / Timişoara Germanistik und Rumänistik. Das Banat umarmt beide, den Dichter und den Wissenschaftler. Mehrfach war ich im Banat, in der pannonischen Tiefebene, und vermute, dieses Landschaftsbild prägt einen Menschen, prägte Nikolaus Lenau und Walter Engel. Der Tristesse dieser Horizont-Landschaft kann man sich nicht entziehen. Und sie zieht mit im Unterbewussten. In Lenauheim, am Ort, wo der Dichter geboren wurde, war ich 1998. Das Dorf, das seinen Namen auch in Ceausescu-Zeiten behalten durfte, ist gescheitelt von zwei rechtwinklig aufeinander zulaufenden Straßen, Ergebnis einer Habsburger-Theresianischen Kolonisten-Geometrie. Die Sonne, die im Westen ihre Endposition erreicht hat, kann hier ihren flachsten Winkel anlegen, kein Meter Hügel setzt Interpunktion in diese ausgebreitete Leere von Feldern, Wiesen und Büschen. Die barocke Bauernkirche am oberen Viertel der Kreuzung scheint unverändert, seitdem Nikolaus Franz dort getauft wurde. Prachtvolle Einfalt – wenn es so etwas gibt – der Innenraum enthielte diesen Begriff. Auf der Orgelbank liegen Gesangbücher aus Vorkriegszeiten, vor 1940, vor 1914. Aus ihnen klingen immer noch Lieder in der Muttersprache Lenaus, „des Schlafes Bruder“ aus einem Banat hinter den Lidern.

Den von Temeswar nur 16 Kilometer entfernten Geburtsort von Walter Engel umspannt eine ähnliche Wehmut, die aus der Kargheit der Häuser und Straßen erwächst. Ich war noch nicht dort, sehe mir Videos und Bilder im Netz an und fühle mich angesprochen, oder müsste ich sagen, angeklungen vom Ernst dieser Lenau-Landschaft. Der Ort ist urkundlich erstmals 1333 erwähnt als Silas, ein Name, der später ab 1768 zu Zylas wurde, dann 1808 den Namen Rauthendorf durch Johannes Nepomuk Graf von Rauth bekam. Es setzte sich aber der ungarische Name Németh-Szent-Mihály durch, aus dem dann Deutschsanktmichael wurde. Ungarische, serbische, rumänische und deutsche Lebensspuren sind typisch für das Banat.

Als Walter Engel geboren wurde, hatte Deutschland die Welt bereits mit Krieg überzogen. Die Nationalsozialisten hatten mit Blick auf das „Unternehmen Barbarossa“, den Krieg gegen die Sowjetunion, sehr auf Rumänien gesetzt, auf die Korn- und vor allem Ölvorkommen.

In Engels Geburtsjahr 1942 erschien „Athene Palace“, ein brillantes und literarisch ambitioniertes Buch von Rosie Gräfin Waldeck in den USA, das die Bemächtigung Rumäniens durch die NS-Eliten vor Augen führt. Ein Zeitzeugnis ersten Ranges, geschrieben von einer Deutschen aus Mannheim (dort wurde sie als Rosa Goldschmidt 1898 geboren und starb 1982 in den USA), das zwei Monate nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg herauskam und erst 2018, übersetzt von Dagmar Dusil und Gerlinde Roth, im Pop Verlag, Ludwigsburg auf Deutsch veröffentlicht wurde. Am 12. Mai 1943 hatte die Antonescu-Regierung mit dem Deutschen Reich vereinbart, dass in Rumänien alle wehrpflichtigen Männer der deutschen Minderheit (der „Deutsch-Rumänen“ sagten die Nazis) zur Wehrmacht eingezogen wurden. Das traf auch die Familie Engel. Und schon zwei Jahre später, im Januar 1945, erfolgten die Deportationen aller volksdeutschen Frauen zwischen 18 und 30 und Männer zwischen 16 und 45 Jahren zur „Aufbauarbeit in die Sowjetunion“. Das sind Daten zu den ersten Lebensjahren Walter Engel. Inwieweit seine Familie unter den diktatorischen Regimen Antonescus und der Kommunisten gelitten hat, weiß ich nicht. Aber die Repression und der politische Druck auf die Deutschen erfassten auch seine Kinderseele, erst recht die Zeit des Heranwachsens in der Schule und dann in der nahen Universität. Dazu zählen wohl auch die Verschleppungen von „politisch unzuverlässigen Elementen“ durch die Kommunisten in Bukarest in die rumänische Steppe von Baragan. Auch wer nicht betroffen war, spürte das Ausgeliefertsein der staatlichen Willkür.

Walter Engel setzte auf die Sprache, die Familiensprache, das Deutsche und die Mehrheitssprache, das Rumänische, wissend, dass die Territorien der Dichtung eigene Dimensionen haben, die einen inneren Freiheitsraum erschließen, in den der Staat nicht eindringen kann. Und insofern war und ist er Lenau verwandt. Dieser setzte auf die Dichterexistenz mit einer Absolutheit, die erschreckt und anzieht zugleich. Er versuchte stets, anderswo – in der Natur, im geliebten Gegenüber und in der sozialen Utopie – Halt zu finden und fand sich doch immer wieder im engen, rätselhaften Ich-Verlies. „Es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich“, dichtete Lenau-nah später Gottfried Benn. Wenn Lenau auch die Erscheinungen der Natur, die er ja auch wissenschaftlich ergründet hat, in seiner Lyrik einfängt, so fehlt seiner Poesie das transzendentale Verströmen, was der Romantik nahekäme. Sein Dichten ist vielmehr eine ständige Engführung auf den existentiellen Grundbefund: das von keiner Hoffnung gestützte Dasein:

Ich will nicht länger thöricht haschen
Nach trüber Fluten hellen Schaum
Hab aus den Augen gewaschen
Mit Thränen scharf den letzten Traum

Wer diese Lenau-Verse hört, kann vielleicht mit mir vermuten, dass Franz Schubert diese übersehen hat, sind sie doch so ganz der bitteren Klangwelt des Wieners verwandt. Schubert hat Lenau nicht vertont, ganz anders als eben viele andere Komponisten, zuvörderst Robert Schumann, der zehn Gedichte in seine Musik gehoben hat.

Walter Engel war zwei Jahre Lehrer im Gymnasium in Heltau und sodann Kulturredakteur der „Hermannstädter Zeitung“, die seit einigen Jahren klug und umsichtig von Beatrice Ungar geleitet wird.

Welches innere Rumänienbild die Deutschen aus Bundesrepublik und DDR zeichneten und ob die deutsche Minderheit in Rumänien vor 50, 60 Jahren zwischen den Schriftstellern aus der Bundesrepublik und jenen aus der DDR unterschied, die ja ins damalige kommunistische „Bruderland“ kommen durften (wie Peter Huchel und Reiner Kunze, auch der junge Wulf Kirsten), vermag ich nicht klar zu umreißen. Die Elf-Länder-Republik des Grundgesetzes hatte wohl größere Anziehung und war ein Magnet der Freiheit. Aber wer ging, musste Abschied nehmen, von der Heimat der Kinder- und Jugendjahre, vom Haus der Familie, den Gräbern der Anverwandten und vom einnehmenden Landschaftsbild, vom Klang der Glocken sowie vom Duft und der Gemächlichkeit des dörflichen Lebens – all das musste aufgegeben werden.

Walter Engel ging mit 38 Jahren. Und viel blieb doch zurück: Mit Thränen scharf den letzten Traum. Er ging 1980 nach Heidelberg, wo er nicht nur literaturwissenschaftlich über das Banat promovierte, sondern sich auch zum Höheren Archivdienst ausbilden ließ. Dem folgten die Frankfurter Jahre an der Stadt- und Universitätsbibliothek und als Abteilungsleiter im Kulturamt der Stadt am Main. Seine berufliche Erfüllung fand er ab 1988 am Rhein, in der Landhauptstadt Düsseldorf im „Haus der Deutschen Ostens“, das sich seit 1992 „Gerhart Hauptmann Haus“ nennt mit dem schönen Untertitel „Deutsch osteuropäisches Forum“. Bis 2006 prägte er es. Und nicht nur diese NRW-Stiftung, sondern in manchem auch mich.

Walter Engel ist als Banater Schwabe keiner, der in der Blase der verlorenen Heimat verweilt und einer Gruppe ein weinerliches Lamento hinterherschreibt. Das Banat wie auch andere Regionen Rumäniens, wo Deutsch geschrieben und gesprochen wurde und da und dort noch wird, ist keine Kulturlandschaft, die sich auf die Autoren der „Aktionsgruppe Banat“ beschränkt, auch kein „Land am Nebentisch“. Solche Zu-schreibungen folgen eher jener in den 80er Jahre des letzten Jahrhunderts profilierten Idee der „Regionalliteraturen“, wie sie Nobert Mecklenburg entworfen hat. Auch Selbstverzwergungen, wie sie im Begriff „Regionalliga“ (Peter Motzan) zum Ausdruck kommen, übersehen, dass deutsche Literatur zwar aus dem Kompetenzfeld einer Autorin oder eines Autors erwächst, aber doch stets in die nach oben offene Richterskala der Kunst und Ästhetik eingemessen werden sollte. Esther Kinsky, Iris Wolff oder Dana Grigorcea stehen dafür und erst recht das imposante Werk von Richard Wagner und Eginald Schlattner, wozu wohl auch Hans Bergel gehört. Auch die Prosawerke von Herta Müller nobilitieren die deutsche Literatur als Kunst und nicht primär Banat, Siebenbürgen und andere deutsche Sprachinseln.

Und dennoch ist manches gesetzlich wie politisch anders angelegt. Die Förderung des Gerhart-Hauptmann-Hauses durch das Land Nordrhein-Westfalen stützt sich auf den gesetzlichen Auftrag an Bund und Länder „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslands“ zu erhalten und durch entsprechende „Maßnahmen in Archiven Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten und Einrichtungen des Kulturschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern.“ Dieser Kulturparagraf des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes aus dem Jahre 1953, der so durch den Einigungsvertrag in die Rechtswirklichkeit des Einheits-Deutschlands gehoben wurde, ist ein Anachronismus. Denn er bezweckt die Eingliederung und künstlerische Wertschätzung der zwölf Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge nach Zweiten Weltkrieg. Und deshalb waren stets die Innenminister beim Bund und bei den Ländern neben den Innenressorts auch die Sozialministerien zuständig. Und heute fast 80 Jahre nach dem Kriege? Eingliederung von wem? Die ursprüngliche ratio legis hat sich gewandelt, denn nunmehr geht es um das kulturelle Gedächtnis der ehemals deutschen (oder auch deutschen) östlichen Kulturlandschaften, es zu erhalten und in eine europäische Gegenwart, an der alle mitwirken sollten, weiterzuentwickeln. Interferenzen: Das ist der Begriff, der zur historischen Genauigkeit führt.

Ab 1993 war ich im Bundesinnenministerium und ab 1998 bis Mitte 2000 im Kanzleramt, das sich in der Abteilung BKM die bundesgeförderten Institutionen zu einem bestimmten Teil an sich zog, für die so interessante Förderung nach Paragraf 96 zu-ständig. Ich hatte als für Museen, Wissenschaft und Kunst zuständiger Referatsleiter diesen Kulturauftrag mit Leben, Geist und Geld zu (er-)füllen.

Mit Walter Engel war ich einig, dass § 96 BVFG auch europäischen Atem brauchte, sich mithin in die kulturpolitische Idee des 2005 novellierten Deutsche Welle Gesetzes, das den Terminus von „Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation“ normiert, einpassen sollte. Die Vorschrift des § 96 spricht von „Gebieten“ im östlichen Europa, meint also die ehemaligen Provinzen des Deutschen Reiches sowie die Siedlungsräume der Deutschen in Russland, Tschechien, Slowakei, Ukraine, Ungarn, Slowenien, Kroatien, ja auch Kasachstan und eben auch Rumänien. Walter Engel und mich befasste die Frage: Was ist, wenn die Menschen von dort nicht mehr da sind, wer möchte noch etwas davon wissen, wo und wie sie gelebt und was sie hinterlassen haben? Liegen mehrere Jahrhunderte deutscher Kulturgeschichte bald in einem Pompeji des Ver-gessens und der Ignoranz? Also was tun? Wissenschaftliche Projekte unter Einschluss der Fachleute im östlichen Europa, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, um zu aktivieren, nämlich alle, die an Kultur und Geschichte interessiert sind und diese annehmen wie die eigene – das war die Linie. Im Deutschen Bundestag interessierten sich jedoch in der Regel nicht Kultur- sondern Vertriebenenpolitiker für die Lebenspuren der Deutschen im östlichen Europa. Die sich gern europäisch gestimmt gebenden Kulturpolitiker überließen den Fördergarten des § 96 BVFG den Nachkommen der Vertriebenen, machten aber sonst einen Bogen darum, denn die Fragen nach dem Herkommen der Deutschen oder gar die Vorstellung einer deutschen Kulturnation galt, ja gilt manchen immer noch als abseitige Idee. Die Deutsche Akademie für Dichtung in Darmstadt meinte bei der Novellierung des Gesetzes zum deutschen Auslandsrundfunk, der Begriff der deutschen Kulturnation sei aus dem Vokabular der Nationalsozialisten und deren sogenannter Kulturträgerideologie. Das ist unzutreffend und grotesk, nicht nur für Historiker von Range Karl Schlögels. Auch der Deutsche Bundestag bekannte sich formal dazu, allerdings ohne sich näher damit zu befassen. Bis heute.

Ein imperialer Anspruch, ein Beweisen-wollen von Zugehörigkeiten, war und ist damit nicht verbunden. Aber das ging nicht jedem ein. Ich erinnere mich gut oder besser: eher schlecht daran, als man mich im Ministerium politisch ermahnte und mir bedeutete, zu viel Europa schade nur, „die Vertriebenenverbände“ wollten das so nicht.

Erst später wurde mir klar, dass meinem kulturellen Elan Grenzen gesetzt waren, auch schon vor 1998. Bundeskanzler Helmut Kohl musste die deutschen Ostgrenzen anerkennen durch den 2 plus 4-Vertrag und die Grenz- und Nachbarschaftsverträge. Das war der Preis der Einheit. Und es waren so die völkerrechtlichen Anerkennungen der Gebiets-Annexionen. Die Landsmannschaften sollten politisch ruhig gestellt wer-den mit Planstellen und mit Geld für ihre Kulturarbeit. Den Vertriebenen war ja Jahrzehnte lang vorgegaukelt worden, in einem Friedensvertrag würden die Dinge, d.h. Grenzen und Eigentum im Sinne der zwölf Millionen aus „dem Osten“ geregelt. Noch bis ins Jahr 1990 wurden sie hingehalten. Als Persönlicher Referent des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Ottfried Hennig, der zugleich Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen war, hörte ich immer die Formel: „Es geht nicht um Grenzen, es geht um Europa.“ Tja: beides war richtig. Und die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war politisch unverzichtbar. Aber dennoch ist es ein Verlust, ja eine Tragödie, ein Viertel des deutschen Staatsgebietes aufgeben zu müssen, mithin eine bittere Folge des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges mit 50 Millionen Toten. Dass der Bundestag in Bonn am 21. Juni 1990 die Bundestagsentschließung („Die Grenze Polens zu Deutschland so wie sie heute verläuft, ist endgültig.“) mit Klatschen und Jubel begleitete, ist für mich auch als Nicht-Vertriebener ein geschichtsloses Schauerstück. Im Grenzvertrag vom 14. November 1990 wurde dann in Warschau der völkerrechtliche Vertrag zwischen beiden Staaten geschlossen, der endgültig die alten deutschen Ostprovinzen an Polen abtrat, eine Tatsache, die Warschau bei seinen Reparationsforderungen in diesem Jahr in Höhe von 1,3 Billionen Euro bisher weder politisch noch volkswirtschaftlich gewichtet.

Die Förderung von Kulturmaßnahmen und Museen im östlichen Europa umgab immer ein bestimmter haut goût. Es klang nach „Schlesien ist unser“ und „was machen die Polen mit unserer Kultur“. Nach 1998 waren die Haushaltstitel des § 96 BVFG im SPD-geführten Kanzleramt geradezu stigmatisiert: Als Geld für das Günter-Grass-Haus in Lübeck gesucht wurde, wollte der damalige Amtschef von Staatsminister Michael Naumann, Knut Nevermann, diese Umschichtungen nicht vollziehen, denn das sei Herrn Grass (aus Danzig!) nicht zuzumuten. 96er-Geld für Grass? Unmöglich. Pecunia olet?

Walter Engel und ich haben uns oft unterhalten über projektgeförderte Maßnahmen: Er musste seinem Haus des Deutschen Ostens (eine programmatische Bezeichnung), das sich erst spät (1992) in Gerhart- Hauptmann-Haus wandelte, gerecht werden, hatte aber in Konrad Grundmann einen souveränen Chef, mit dem zu sprechen auch für mich immer von Gewinn war. Ich hatte meinen Job zu machen und freute mich, wenn das GHH und vor allem die Esslinger Künstlergilde gute Veranstaltungen organisierten in Polen, Tschechien, Slowakei und auch in Rumänien. Besonders die vom Bund (bis zum Jahre 2000) dotierten Preise – wie Gryphius-, Lenau-, Corinth-, Stamitz und Dehio-Preise – hatten Relevanz und gute Aufnahme in Düsseldorf und darüber hinaus auch in den Herkunftsregionen der Namensgeber der Preise. Das lockerte in Stimmung in den Nachbarländern, erwärmte sie sogar und machte die kulturpolitische Wirkung des 96-er-Förderung erkennbar. Als am 5. Juli 1996 auf der Prager Burg in Anwesenheit von Václav Havel dem tschechischen Botschafter und Dichter Jiří Gruša sowie Ruth Klüger, Olly Komeanda-Soentgerath und Johannes Weidenheim der Andreas Gryphius Preis nebst Ehrengaben aus der Hand des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker überreicht wurde, hatte das für das deutsch-tschechische Verhältnis eminente Bedeutung.

Mit dem Paragrafen 96 konnte man also was machen. Trotz aller Widerstände. Und auch Walter Engel machte was draus. Seine Bilanz als Institutsdirektor ist fabelhaft. Trotz aller Erfolge umgab ihn – wie mir scheint – stets eine leise Wehmut, blieb ihm das Banat immer ein Bezugspunkt und so konnte er im Rheinland zwar ein neues Zuhause finden, aber doch nicht recht heimisch werden.
Er ist in der Dichtung zu Hause. Fremd eingezogen, aber mit dem mitziehenden Vaterland der Literatur, das ihm Zuflucht gibt, stets auf festem Grund in seiner „allereigensten Enge“.
Es ist ein Glück, Walter Engel zu kennen. Ein Deutscher aus dem rumänischen Banat und ein Europäer aus den besten Gefilden der Kunst in all ihren Disziplinen.

Romania und dort das Banat sind keine fernen Länder, sie siedeln hinter den Lidern.

Letzte Änderung: 04.03.2023  |  Erstellt am: 04.03.2023

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Wer "mit der Zukunft schwanger geht" (Leibniz, 1998: 23) und fähig ist, den objektiven Konflikt eines modernen Gemeinwesens in sich selbst austragen zu können, dem wird noch immer die nötige Hilfe versagt. Exemplarisch steht dafür der so genannte Hitler-Stalin-Pakt, dessen geheimes Zusatzprotokoll erklärtermaßen die multiethnische Bevölkerung im einstigen Bessarabien preisgegeben hat. Soll also der über die Generationen hinweg von Abkömmlingen früherer Kolonisten ererbte "Pioniergeist" (Schmidt, 2008: 17) nicht der "Furie des Verschwindens" (Hegel, 2018: 417) anheim fallen, müssten in der Tat endlich Anstalten unternommen werden, gemäß § 96 BVFG solch ein politisch alles entscheidendes Kulturgut zu bewahren und zu fördern. Ansonsten steht zu befürchten, dass gesellschaftlich die Verhältnisse unerbittlich zurückschlagen und die in der vergleichsweise noch jungen Bundesrepublik Deutschland inzwischen errichteten Institutionen mehr über kurz als lang "nicht mehr die Garanten der kommenden Freiheit" sind, wie Horkheimer/Adorno bereits im Mai 1944 formulieren.

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