Kalt ist der Abendhauch

Kalt ist der Abendhauch

Matthias Claudius’ Abendlied
Matthias Claudius

Mit „Der Mond ist aufgegangen“ beginnt das „Abendlied“, das, samt seinen Parodien, zu unserem Sprachschatz gehört, ob wir’s wissen oder nicht. Sein Verfasser, der Dichter und Journalist Matthias Claudius, kam aus einem Pfarrhaus und arbeitete nach dem Studium als Redakteur für verschiedene Zeitungen, unter anderem für den „Wandsbecker Bothen“, in dessen „gelehrtem“ Teil auch das „Abendlied" erschien. Matthias Buth erzählt von der Bedeutung des Gedichts für die Deutschen.

Deutschlands eigentliche Nationalhymne

Es gibt Zeilen, die ziehen sich vom Mund in die Augen. Nicht nur vom Abend spricht der Vers. Es ist ein menschliches Wesen, es haucht, haucht sich aus. Und die Kühle, die Kälte, die ihm entströmt, macht deutlich: der Tod atmet aus. Schon dieser Vers ist der ganze Matthias Claudius, der dem Deutschen das Abendlied, seinen Abendgesang geschenkt hat.
Claudius lebte im Lied und in der Schrift, der Bibel und in dem, was er schrieb. Ein ständiger Bote seiner inneren Empfindung, ein Journalist und Herausgeber des Wandsbecker Bothen, einer Vier-Blatt-Zeitung, die drei Mal pro Woche herauskam. Und immer war er nah am Tod, dem er mit seiner sanften Glaubenszuversicht den Stachel nahm.
Der Tod als Liebender? Geht das, ohne in Schwulst und raunendem Pathos zu versinken? Ja, Matthias Claudius dichtet nicht bloß, er lässt die Worte musizieren und setzt das Gedicht in einen Dialog, der kurz ist und doch alles zu enthalten scheint, was dem Tod den Schrecken nimmt, ihn als die andere Seite des Lebens gegenüberstellt.
Im Göttinger Musenalmanach veröffentlichte er 1774 das Gedicht Der Tod und das Mädchen, grazil mit der Kunstgattung des Werbens des Todes (Claudius spricht oft von Freund Hein) mit dem geliebten Leben sowie mit der Geliebten Leben spielend. Schon im 15. Jahrhundert wurde Leben und Tod so gegenübergestellt. Claudius macht aus spröder Gedankenlyrik ein wunderbares Stück Poesie, das die Lesenden sogleich anfliegt.

Das Mädchen:


Vorüber! ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.



Der Tod:


Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei guten Muts! Ich bin nicht wild.
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!

Dass diese wie eine Pavane schreitenden Verse Franz Schubert 1817 in Töne gesetzt hat und dessen betörende Melodie im späteren Streichquartett Nr. 14 d-Moll aufgreift, ist Ausdruck von Seelenverwandtschaft. Schubert war ein literarischer Kenner, der in diesem Lied im Vorspiel und dann in den nachklingenden Wendungen des Klaviers weiterdichtet, nämlich die Todergebenheit des Mädchens nahelegt, indem sich das d-Moll in ein D-Dur wandelt, was indes bei dem Wiener – wie oft – traurig und nicht bejahend klingt: ein Erdulden des Unvermeidlichen.

Das Grundgesetz spricht gleich zu Beginn von der Menschenwürde, die anzutasten niemandem erlaubt sei. Im schönen Wort liebenswürdig schimmert davon etwas hindurch. Und mache ich mich zum Leben eines der größten deutschen Dichter (Karl Kraus) auf, kommt mir dieses Wort in den Sinn. Blicke ich auf sein Leben in Familie, Journalismus und Gedichteschreiben, ist das eine vom anderen nicht zu trennen und umfasst durch das Adjektiv, welches Liebe und Würde verbindet. Claudius’ Texte greifen nicht an, sie greifen auf, was ihm seine Empfindungen und die Begebenheiten des Alltags erzählen.
1968, als das Wort „Hinterfragen“ seine Karriere begann und an den Universitäten, Schulen und Medien nach dem Herkommen der Deutschen gefragt wurde, nach Krieg, Vernichtung und Verdrängung der Terrorzeit, stand Claudius nicht im Kurs, galt er eher als Seelchen aus ferner Empfindungszeit. Umso überraschender damals, auf einer Wand mit Bleistift finden:

Die Liebe hemmet nichts,
sie kennt nicht Tor noch Riegel
Und dringt durch alles sich,
Sie ist ohn’ Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
Und schlägt sie ewiglich.

Der kleine jambisch beschwingter Text hat überlebt, wird durch den Korintherbrief (1, Kor. 13) grundiert und greift darüber hinaus, ein Preislied, dem Hohe Lied nahe. Claudius gab sich das Pseudonym Asmus und firmierte auch so in Druckwerken. In Asmus VI veröffentlichte er das Gedicht 1798. Aber die Platzierung dort zeigt einmal mehr das Dialogische seiner literarischen Texte, denn unmittelbar vor diesem flügelleichten Gedicht steht der Text Der Tod.

Ach, es ist so dunkel in der Todes Kammer
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt

Im Trochäus schreiten diese 26 Worte daher und man meint, sie immer schon gekannt zu haben. Das Ach seufzt sich hinein in den Gang, den kein Lieben aufhalten kann. Die Abendglocke gibt es noch, nicht nur in ländlichen Gebieten, sie schlägt um 19 Uhr, bis am Morgen das 7 Uhr-Läuten von der Nacht erlöst. Wie im Liebespreis personifiziert Claudius, sind ihm Liebe und Tod stets nahe, so wie es Verwandte und Freunde sein können. Beide Asmus-Gedichte sind durch Grazie und sinnlicher Genauigkeit miteinander verbunden. Der Mut zur Hoffnung ist dem Dichter wichtiger als die Todesverlassenheit, deshalb hat er in dieser Reihenfolge die kleinen Texte drucken lassen, die große Dichtung sind, im Einfachen ausgependelt und so geglückt.

Eckart Klessmann hat 1995 in seiner Studie „Der Dinge wunderbarer Lauf“ festgestellt, dass für Matthias Claudius das Leben, sein Leben und das seiner Familie viel höher stand als die literarische Hinterlassenschaft, eine Zuschreibung, die sich plausibel vermittelt durch die Schriften und Lebenszeugnisse des Dichters.

Als Bundeskanzler Helmut Schmidt 2015 zu Grabe getragen wurde, wollte er sich mit Claudius’ Abendlied verabschieden. Er hatte testamentarisch verfügt, dass dieses Lied gesungen werden sollte. Eine noble hanseatische und anrührende Geste, sah sich der Politiker doch der Musik nahe (er spielte wie Claudius Orgel und Klavier), um sich mit der Poesie zu verbinden, mit diesem so innigen Lied, das lange schon ein Volkslied ist und die Dichtung adelt.

Gräber vermitteln Nähe, auf ihnen liegen Glanz und Wehmut, Abschied und Dankbarkeit. Sie laden zur Zwiesprache ein – mit dem Toten und so auch mit Gott, wenn man meint, dort sei des Toten Geist wohl behütet. Also mache ich mich auf nach Hamburg und dort zum Stadtteil Wandsbek (das einmal das Dorf Wandsbeck war und noch ein „c“ im Namen hatte). Ist der Geist des Dichters Claudius zu erkennen? Heißt die U-Bahnhaltestelle nach dem Dichter? Empfängt mich eine imposante Statue? Nein. Vorstadtverkehr in einem Häusermeer, das auch in Bochum oder Wuppertal liegen könnte. Nachkriegsarchitektur, denn die Gomorra-Luftangriffe vom 24. Juli bis zum 3. August 1943 legten alles in Schutt und Asche.

Das Schloss von Heinrich Rantzau (die Wandesburg), der das Gut Wandsbeck 1564 erwarb, ging durch mehrere Hände, wurde 1762 vom Kaufmann Heinrich Carl von Schimmelmann, der Matthias Claudius förderte, erworben, neu errichtet, von seinen Nachfahren veräußert und dann 1861 abgebrochen. Kein Stein erinnert mehr an das Barockschloss. Doch die Wandsbeker können von Claudius nicht lassen. An der Kreuzung, die zur Backsteinkirche, der Christuskirche, führt, lassen sie die Sternlein funkeln. Auf einer Metallplatte goldene Sterne, der halbe Mond und das ganze Lied, das sein bekanntestes Gedicht ist. Das Abendlied. 2015 anlässlich des zweihundertsten Todesjahres wurde das Denkmal aufgestellt. Und der Dichter (recht steif im Halbrelief) geht auf im Grau oder besser: geht über die dunkle Metallplatte, wie ein Sämann, als wolle er die Sterne aussäen, die er besingt. Von dort sind es wenige Schritte Richtung Christus-Kirche, des vierten Kirchenbaus an dieser Stelle. Die britischen Bomber hatten nur die Strebepfeiler und Sockel stehen lassen, sie wurden integriert. Der neue 70 Meter-Turm stand erst 1965. Von 1623 bis 1850 fanden Verstorbene im Alten Friedhof ihre letzte Ruhe, ein Gebiet, der einst zum Schlosspark gehörte. Dort suchen mein Sohn und ich das Grab des menschenfreundlichen Dichters Matthias Claudius. Und endlich haben meine Augen die beiden schmiedeeisernen Kreuze gefunden von Matthias und seiner überaus geliebten Ehefrau und Gefährtin Rebecca. Ernst und doch ganz leicht treten sie mir entgegen.
Das Kreuz ist mit hellen, golden scheinenden Buchstaben beschriftet:

Matthias Claudius
Joh. 3, 1, 16
Geboren zu Reinfeld den 15 ten August 1740
Gestorben zu Hamburg den 21 ten Januar 1815


Also so sehr hat Gott
die Welt geliebt,
dass Er Seinen
eingeborenen Sohn gab,
auf daß Alle, die
an ihn glauben,
nicht verloren
werden, sondern
das ewige Leben
haben.

Die Schrift folgt der Enge des Kreuzstammes und so dem Leben des Dichters. Den Kopf des Kreuzes umschwingen drei Bögen, auch die rechte und linke Seite. Inmitten der drei angedeuteten Wolken je drei Sterne, die aus dem nahen Abendlied herübergeflogen scheinen. Das Grabkreuz von Anna Rebecca Claudius, geb. Behn, geboren den 26ten Oktober 1754 zu Barmbeck, gestorben den 26ten Juli 1832 zu Wandsbeck, ist völlig gleich gestalten, nur das Bibelzitat ist anders und auch anders platziert, nämlich über den Lebensdaten. Ich bin die / Auferstehung / und das Leben. / Wer an mich / glaubt, der wird /leben, ob er gleich / stürbe. – Diese Verheißung überschreibt ihr Leben und das ihres Mannes. Beide Zitate aus dem Neuen Testament sind dem Johannes-Evangelium entnommen. Nicht von ungefähr, denn es beginnt mit jenen Sätzen, welche die christliche Botschaft zu einem weltumspannenden Gedicht machen. Und deshalb beginnt die Weihnachtsliturgie immer mit den Worten: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. Am Reformationstag gab mir ein Mitglied vom Gideon-Bund (Wetzlar) am Hamburger Hafen eine handgroße Lutherbibel, aus der das Zitat stammt. Und Claudius war ein Dichter, der wie Martin Luther auf die Schrift setzte und auf den Gesang.
Vor Jahren stand ich auf dem Jerusalem-Friedhof in heute polnischen Neisse (Nysa) vor dem Grab von Joseph von Eichendorff und seiner Frau Louise, geb. von Larisch. Dessen von Robert Schumann 1840 so genial vertontes Gedicht Mondnacht (geschrieben 1835 und 1837 veröffentlicht) ist wie das Abendlied ein Text, der leuchtet und tröstet. Eichendorff dichtet hier ebenso empfindungsbeseelt und gedankenklar wie Claudius. Die Worte schweben singend.

Wer heute durch Wandsbek geht, erhofft sich ein wenig mehr Gegenwart vom Dichter als dass diese durch das Grab vermittelt werden kann, auch im Herbst, wenn der Nachmittag sich kühl über die Dächer legt, um bald in den Abendhauch zu münden. Das in der Böhme Straße 20 liegende Heimatmuseum, untergebracht im einstöckigen Haus des Morewood-Stifts, nennt stolz aus Eigentümer den Bürgerverein Wandsbek von 1848 e.V. Joseph Morewood (1757-1841), ein vermögender Kaufmann aus Manchester, ließ sich Hamburg und dann in Wandsbeck nieder, wo er 1941 starb und begraben ist. Seine Frau und Tochter gründeten die heute noch bestehende Stiftung, die kleine Häuser an ärmere Bürgerinnen für 99 Jahre verpachtete, ein Verfahren, das an den sozialen Wohnungsbau erinnert. In einem solchen Haus, das als Altenwohnstift diente, geht die Stiege hinauf ins Heimatmuseum (geöffnet nur dienstags zwischen 16 und 18 Uhr). Das Museum ist winzig, aber voll von Herz und Zuneigung; drei kleine Räume, mit Vitrinen und Alltagsgegenständen bestückt und davon abgeteilt die Herzkammer: das Räumchen für Matthias Claudius. Das Sofa unter einem schönen Ölbildnis des Dichters lädt ein zu verweilen beim Wandsbeker Bothen, der in dem Ruf steht, mit seinem Journal den Journalismus in Deutschland begründet zu haben, und das, obwohl das alte Wandsbeck zu Lebzeiten von Claudius zu Dänemark gehörte und er dänischer Bürger oder besser: Untertan war. Die vom Bothen veröffentlichten Texte changieren zwischen politischen Kommentaren, Feuilletons und eingestreuten Gedichten für das aufstrebende Bürgertum, all das war nicht gegen die politischen Verhältnisse agierend, eher da und dort ironisch, verschmitzt und oft auf Harmonie gestimmt. Ein Revolutionär? Mitnichten. Das entsprach nicht seinem Lutherischen Weltbild. Claudius machte einen Bogen, die Französische Revolution von 1789 war seine Sache nicht. Aber ein flotter Reimer war er in Reaktion auf Goethes Brief-Roman Die Leiden des jungen Werthers von 1774. Werthers Suizid widersprach dem Pastorensohn und Journal-Redakteur, er schlüpfte in die Rolle eines „Fritze“ und haute die Zeilen raus: Nun mag ich auch nicht länger leben, / Verhasst ist mir des Tages Licht; / Denn sie hat Franze Kuchen gegeben / Mir aber nicht. Respektlos und auf den Punkt gebracht. Ob das Heinrich Heine gelesen hat?

Der Journalismus kann nur wenige gut ernähren und wer damit anfängt und diesen geradezu begründet, erst recht nicht. Also ging Claudius den Weg der entschlossenen Hungerleider (Hannah Arendt). Aber er war so klug, ein Netzwerk aufzuspannen zu Persönlichkeiten von Geist und Geld. Der später zum Adel aufgestiegene Kaufmann Heinrich Carl v. Schimmelmann, der sich die Schlösser in Ahrensburg und Wandsbeck kaufte, gehörte ebenso dazu wie der bekannte Oden-Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) und der in Mohrungen geborene und u.a. in Bückeburg als Hofprediger wirkende Kultur-Philosoph Johann Gottfried Herder (1744-1803), der später zum Viergestirn der Weimarer Klassik (neben Wieland, Schiller, Goethe) gehörte. Auch Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737-1823), sein literarisches Vorbild und (Jura-) Kommilitone in Jena, aus dem Göttinger Hainbund Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776), der am Hamburger Nationaltheater wirkende Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und der Verleger sowie „Illias”-Übersetzer Johann Heinrich Voß (1751-1826) waren Freunde. Der Claudius-Kreis verzweigte sich allerdings noch weiter. Von 1770 bis 1775 war Claudius der Macher und einzige Redakteur der von Schimmelmann herausgegeben kleinen Zeitung mit einer Auflage von 400 Exemplaren, aber wegen seiner literarischen Feuilletons und derjenigen fast aller Geistesgrößen seiner Zeit sowie wegen der Besprechungen von deren Werken war die Zeitung stilbildend, bis er nach fünf Jahren aufgeben musste. Er kündigte Schimmelmann, als man sich über die Struktur des Bothen nicht einig blieb. Claudius stand vor dem Ruin, Not stand ihm und seiner vielköpfigen Familie ins Haus, denn die Zeitung war die einzige Erwerbsquelle. Seine Freundschaft zu Herder trug aber Früchte und so vermittelte der Philosoph dem Redakteur eine Stelle in Darmstadt. Dort sollte er aus der Hessendarmstädtischen Landeszeitung einen zweiten Wandsbecker Bothen machen, betitelt mit „Oderlandesökonomierat“. Aber er blieb bei seiner Weltsicht, es krachte mit dem Direktor der Oberlandeskammer, der Redakteur wurde (zudem oder deswegen?) krank, so dass er nach wenigen Monaten im Mai 1777 wieder ins heimische Wandsbeck aufbrach.
Manche halten Claudius für einen pietistischen Dichter (so Wolfang Koeppen), aber das erfasst nicht seine souveräne Gelassenheit. Das Gedicht nach der Darmstädter Episode endet so:

Und ich genas! Wie sollt ich Gott nicht loben!
Die Erde ist doch schön, ist herrlich doch wie seine Himmel oben,
Und lustig drauf zu gehen
Will mich denn freuen noch, wenn auch Lebensmühe meiner wartet,
Will mich freu’n! Und wenn du wiederkommst, spät oder frühe,
So lächle wieder, Hain!

So singt und dichtet ein in sich gefasster Geist, das sind keine Erbauungsverse, sondern Zeilen, die dem Tod mit gelassenem Gemüt entweichen, um ihm – beizeiten – heiter entgegengehen. Das ist Dichtung, die anspricht.

Wir nagen am Büchel. Das schrieb Claudius seinem Freund Herder, als dieser nach seinen Einkünften fragte. Und diese waren nunmehr nicht die aus dem Journalismus, sondern die Erträge aus seinen schriftstellerischen und dichterischen Werken. Spärlich. Übersetzungen solle er machen, riet ihm Voß. Irgendwie ging es, auch wenn Schmalhans Küchenmeister war und dann wollte Claudius auch noch 1782 ein Haus kaufen, zu dem ein Gartenland gehörte. Rebecca war entsetzt. Doch das Geld kam von Schimmelmann, geliehen oder verdeckt geschenkt. Zudem überließ Julia Gräfin von Reventlow eine nahe Wiese, auf der zwei Kühe und eine Ziege Platz fanden. Die Versorgung stabilisierte sich. Als 1784 der Kronprinz von Dänemark – er verehrte den „Asmus”-Dichter – eine Jahresrente von 200 Talern aussetzte, waren die existentiellen Sorgen erst mal verflogen. Der Däne besuchte den Dichter in Wandsbeck und machte ihn dann noch zum ersten Revisor der neuen Schleswig-Holsteinischen Bank zu Altona. Welch eine Karriere, ein Dichter als Banker, entlohnt mit jährlich 800 Talern und genügend Zeit, Gedichte zu schreiben und seine Bücher herauszugeben. Acht waren es schließlich, oft geschmückt mit wertvollen Kupferstichen von Daniel Chodowiecki (1726-1801). Wer so von adeligen Gönnern gefördert wird, ist wenig geneigt, den Idealen der Französischen Revolution zu folgen, auch wenn die Hamburger sie bejubelten. Als Mord und Verfolgung um sich griffen und Napoleon allzu weltlich seine Karriere als Kaiser der Franzosen fortsetzte, kamen Flüchtlingen in die heimische Beschaulichkeit, kamen französische und russische Soldaten. Claudius wich nach Kiel zu seinem Bruder aus, dann nach Lübeck und kam erst im Mai 1814 wieder nach Wandsbeck zurück. Die sogenannten Befreiungskriege entzündeten seinen Dichtergeist noch einmal. Mit Wohlauf Kameraden, vom Pferd, vom Pferd! begrüßte er die Rückkehr der Hanseatischen Legion. Dann ging er am 15. Januar 1815 dorthin, wo alle Poesie beginnt und endet. Der Bothe war angekommen in der Botschaft der Schrift.

Der kleine Gedächtnis-Raum des Heimatmuseums des Bürgervereins vom 1848 umarmt geradezu mit den Bildern und Schriften des Dichters. Hier hätte sich Matthias Claudius wohlgefühlt, im Einfachen zu Hause, bei Menschen, die ihn lieben ohne große Geste, die wissen, dass Gedichte Heimat geben können, das uneinnehmbare Mutter- und Vaterland (Franzosen nehmen immer beide Begriffe auf die Lippen). Und Claudius, dessen Kriegslied jede und jeden erfasst wie alle Dichtung von Rang, hätte sich gefreut über die abgegriffene Schreibmaschinenfassung des bekannten Liedes seines Ur-Enkels Hermann Claudius (1878-1980), von dem nur wenige wissen, dass es ein Claudius-Text ist. Es hängt am Türpfosten.

Wenn wir schreiten Seit` an Seit’
Und die alten Lieder singen
Und die Wälder widerklingen
Fühlen wir, es wird gelingen
/: Mit uns zieht die neue Zeit :/


Eine Woche Hammerschlag,
Eine Woche Häuserquadern
Zittern noch in unseren Adern.
Aber keiner wagt zu hadern.
/: Herrlich lacht der Sonnentag :/

Und so geht es weiter bis zur siebten Strophe. Ein Lied, das 1914 gedichtet wurde, 1920 vom Arbeiterjugendtag nach einer Melodie von Jürgen Englert gesungen, als Weimar-Lied im Deutschen Reich verbreitet, von Katholische Verbänden (mit geänderter Refrain Zeile), dann von der SA und in der DDR von der Freien Deutschen Jugend, in der Bundesrepublik von der SPD seit 1962 auf allen Parteitagen geschmettert, von den Jusos, der Arbeiterwohlfahrt und der IG Metall aus „ihr“ Liedgut betrachtet, dann 2021 von der Geschichtskommission der SPD wegen seiner SA-Verwendung in Ungnade gefallen und aussortiert. Eine deutsche Liedkarriere. Verteidigungsminister Peter Struck ließ es beim Großen Zapfenstreich 2013 seiner Verabschiedung spielen.
Kalt weht der Abendhauch – auch über dieses Lied. Es kann sich nicht wehren. Helmut Schmidt wusste, was er an Matthias Claudius hatte, dessen Abendlied so endet.

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns Gott! mit Strafen
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unseren kranken Nachbarn auch!

1807 nahm Johann Gottfried Herder das Gedicht in seine Volkslieder auf. Von den 70 Vertonungen hat sich nur die Melodie von Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) durchgesetzt.

Es ist Deutschlands eigentliche Nationalhymne.

Letzte Änderung: 08.06.2023  |  Erstellt am: 08.06.2023

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Kommentare

Prof Dr Erich Wolfgang Skwara schreibt
Ein nachhaltig grundlegend wesentlicher und inforrmativer Aufsatz - in angenehmer und beruhigend Stiller Sprache geschrieben, erholsam und troestend in unserer grellen und Lauren Zeit. Aber noch viel mehr: Matthias Claudius wird hier unendlich lebendig und liebenswert vorgestellt, seine Gedicht (die ich immer geliebt habe), NEHMEN hier das Gesicht und Leben ihres Dichters an. Ich lebe seit vielen Jahrzehnten im Ausland, fernab der Deutschen Sprache, obwohl ich selber zeitlebens deutsche Buecher schreibe, und beim Lesen dieser Huldigung hatte ich ploetzlich Traenen in den Augen, und empfand etwas mir zuvor nur sehr selten Widerfahrenes, naemlich Sehnsucht, fast Heimweh nach diesem Wandsbeek, diesem Grab, und innige Naehe zur deutschen Sprache. Ich be danke mich.
Jens Jürgen Korff M. A. schreibt
Ja, einige interessante Hintergründe zu Claudius, aber über das Abendlied habe ich weniger erfahren als über einige andere Lieder und Gedichte. Weder ist mir seine Poetik klarer geworden (die mich übrigens befremdet, seit ich das Lied kenne), noch kann ich nun besser nachvollziehen, warum es so bekannt geworden ist. Bloß weil es Schlaf und Tod miteinander verbindet und uns das angeblich tröstet? Es tröstet mich, wenn ich jede Nacht beim Einschlafen an den Tod denke? Das erschließt sich mir nicht. Das passiert bei mir eher am Morgen, wenn ich dankbar zur Kenntnis nehme, dass ich einen neuen Tag erleben darf. Anscheinend fehlt es mir für den Claudius-Trost an Christentum.

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