Axel Vieregg: Finden und gefunden werden

Axel Vieregg: Finden und gefunden werden

Porträt
Axel Vieregg

Peter Huchel und Günter Eich, zwei Dichter mit äußerst unterschiedlichen Erfahrungen in totalitären Gesellschaftssystemen, fanden in Axel Vieregg einen kompetenten Herausgeber ihrer Werke. Vieregg war 30 Jahre lang Professor für Neue Deutsche Literatur an der Massey University in Palmerston North auf Neuseeland, wo er im September 2020 gestorben ist. Matthias Buth erinnert an den Gelehrten.

In mancher Musik spiegelt sich die Seele. Dann meint man, Franz Schubert habe das nur für mich komponiert, das traurige Dur seiner Impromptus und Sonaten, über denen das Streichquintett C-Dur schwebt oder die grübelnden Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Abschiedsklänge in der Alt-Rhapsodie, Schumanns Klavierquintett und auch das Requiem für Mignon. Von all dieser Musik spricht die Lyrik von Peter Huchel nicht und doch meint man, sie klinge an in vielen Versen, die eben nicht nur ins Plastische ausgreifen, um neue Wirklichkeiten über die Erscheinungen der Welt zu legen, sondern Wortmusik erleben lassen in Moll-Färbungen, durchwirkt von Erfahrungen in den Schmerztälern Deutschlands seit 1930 und dann von 1945 bis 1971, als Huchel nach zehnjährigem Ausharren im Realsozialismus der DDR in der Faust-Stadt Staufen eine neue Heimat fand. „Die blauen Schatten / der Füchse lauern / im Hinterhalt. Sie wittern // die weiße / Kehle der Einsamkeit“. Das ist eine Bildsprache, die musiziert. Brahms wäre darauf zugegangen. In a-Moll.

Mir eröffneten sie eine Welt, die sich wie ein warmer Mantel um die Schultern legte, damals, als ich Student der Rechtswissenschaften war in Köln und einen Freund in Freiburg besuchte. Es muss im Sommer 1973 gewesen sein. Beim Schlendern vom Münsterplatz folgte ich irgendwelchen Bächle, welche die Stadt adern und stand plötzlich vor dem Theater Am Wallgraben. Das Schild: „Peter Huchel liest“ rief mich hinein. Aber der Dichter las noch nicht, er saß vor dem Saaleingang auf dem Flur, von seinen Büchern umgeben und signierte. Ich stellte mich in die Reihe der Wartenden und hörte, was Huchel einer Dame in einen seiner Gedichtbände schrieb: „Oft ist die Metapher klüger als ihr Verfasser“. Eine duftige Erkenntnis von Lichtenberg. Und so konnte ich ihn zunächst betrachten, seinen wie geschnitzt wirkenden Kopf, der auch einem Almbauern hätte gehören können und von dem eine Aura an Entschlossenheit, Erdigkeit und Traurigkeit ausging. Dann war ich dran und bat um den Lichtenberg-Satz im zuvor gekauften Band „Die Sternenreuse“. Er fragte, woher ich komme und was ich studiere, und stellte mir dann die überraschende Frage: „Würden Sie denn auch die Baader-Meinhof-Leute vor Gericht verteidigen?“ Von Terroristen, gar von einer kriminellen „Bande“ sprachen damals die wenigsten. Und wer es tat, galt als Reaktionär. Es war die 68er-Zeit, gegen das „Establishment“, gegen Restauration, gegen den Staatsapparat. Und die RAF-Leute hatten doch irgendwie recht, zumindest im Kern: So klang es durch Medien und Meinungen. Ich sah`s aber anders. Was sollte ich nun dem märkischen Dichter antworten? Meine Affinität zum Strafrecht (später mit einer Arbeit zu jenem des SED-Staates vertieft) und zum Rechtsverständnis des Grundgesetzes brachten mich zur raschen Antwort: „Na klar, ich verteidige jeden, auch die Baader-Meinhofs, jeden, der sich mir anvertraut und nach der Strafprozeßordnung ein faires Verfahren bekommen muss.“ Huchel nickte. Ob er ganz zufrieden war, weiß ich nicht, der SED-Machtapparat hatte ihm zwar zugesetzt und aus Berlin (Ost) weggetrieben, im Innersten war er jedoch ein linker Idealist geblieben, dem die Bundesrepublik nicht ganz geheuer war. Anders als Reiner Kunze, der 1977 von der Stasi mit dem Leben bedroht, mit seiner Frau Elisabeth nach Bayern ging, ins schwarze Bayern, was ihm der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (und nicht nur er) als unmögliche „politische“ Geste übelnahm, wie Kunze mir mal erzählte. Und ihm schrieb ich noch als Student von meiner Huchel-Begegnung, waren doch beide Dichter persönliche und poetische Freunde, und ich staunte nicht wenig, dass Kunze die geistreiche Sprachsentenz von Lichtenberg erst durch mich bekannt wurde. Auf diese Weise Huchel und Kunze geradezu poetologisch verbunden zu haben, freute mich und bestimmte mein Jahr für Jahr freundschaftlicher werdendes Verhältnis zum Dichter der Prosaskizzen aus dem SED-Staat „Die wunderbaren Jahre“ (1976 in Stuttgart erschienen).

„Wenn mittags das weiße Feuer / Der Verse über den Urnen tanzt“, zwei Zeilen aus dem Gedicht „Garten des Theophrast“, das 1962 zuerst in der Zeitschrift „Sinn und Form“ erschien, die Huchel solange herausgab, wie die SED-Zensoren ihn ließen, eben bis 1962. Dann das innere Vereisen, dann Staufen. 1971. Huchel kam von Baudelaire, Trakl, Jessenin. Ein Sprachmusikant in Bildern. Seine Verse wirken immer verwundet, hoffen, der Trauer Fassung zu geben. Aber wie ist zu erklären, dass es in seinem dichterischen Werk so gut wie keine Liebeslyrik gibt (auch hierin Georg Trakl verwandt)? Die Germanistik hat diesen Aspekt noch nicht gewürdigt. Zu Schumanns „Dichterliebe“, dem schönsten Liederzyklus der Welt mit Gedichten von Heinrich Heine, gibt es eben auch keine Entsprechung bei Brahms, dem eine Clara fehlte. Brahms hätte Huchel in Töne gesetzt. Die Sehnsucht nach Erfüllung im anderen kann sich in Liebesgedichten äußern und sie mitnehmen zu Gipfeln des Glücks. Dazu findet sich bei Huchel nichts, obwohl ihn viel mit Monica, seiner zweiten Frau verband.

Der 1907 in Köln geborene Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der zunächst Jura studierte und sich von 1935 bis 1945 nach Frankreich retten konnte (von 1965 bis 1973 lehrte er an der TU Hannover), gab 1973 in der edition suhrkamp den Band „Über Peter Huchel“ heraus mit klugen Studien, Preisreden und Materialien zum Dichter: von Herbert Roch, Hellmuth Karasek, Ingo Seiler, Karl Krolow bis Fritz J. Raddatz, insgesamt 27 Autoren sowie mit einem Appendix von Gedichten, die Huchel gewidmet sind, von Wolf Biermann, Reiner Kunze, Marie Luise Kaschnitz bis zu Nelly Sachs, Jan Skácel und Christoph Meckel, 15 Namen der ersten Dichter-Reihe, zu der natürlich auch Günter Eich und Horst Bienek gehörten.

Und bei den Germanisten sprach mich Axel Vieregg besonders an mit dem Essay „Zeichensprache und Privatmythologie im Werk Peter Huchels“, denn auch eine persönlich umrissene Mythologie muss sich gegen die Welt behaupten und sie abbilden. Huchels Dichtung ist keine epikureische grüne Landschafts- oder Naturlyrik, die sich mit Wohlklang und weichen Bildern aus Feld und Flur ausstattet, sondern hat geradezu alttestamentarischen Zugriff. Damit verbindet er Sachverhalte der Geschichte, speziell der deutschen, die zuweilen hinter einer schwer zugänglichen Codierung verschwindet. Diese aufzudecken und in ein Gerüst von Fakten und Gedanken zu stellen, ist der primäre Impetus von Axel Vieregg. Huchels Weltwahrnehmung hat – und hierin eines Sinnes mit seinem Interpreten – seinen Ausgangspunkt in den Verheerungen des 2. Weltkriegs und so auch mit der Teilung Deutschlands in Besatzungszonen. Einigkeit verloren zu haben, das Einssein als Staat und Volk, ist eine politische Katastrophe, sie zu überwinden ein Desiderat, das von Autoren ersten Ranges betrauert, erforscht und ins Wort genommen wird. Vieregg erklärt entlang des Gedichts „Ankunft“ (am 11. Januar 1972 im Sender Freies Berlin, dem SFB, zum ersten Mal vom Autor gelesen) den Schlüssel zu diesem Text im Wort „Ephraim“ und führt den Leser zum Subtext des lyrisches Textes, der im Alten Testament, in Jesaja, Kap. 28, wurzelt, wo in der Luther-Übersetzung vom „Gericht über Ephraim“ berichtet wird, zu der Zeit, als Israel 926 v. Chr. geteilt war in zwei Reiche, nämlich in Israel mit der Hauptstadt Samaria und in Juda mit Jerusalem an der Spitze. Der Stammesname Ephraim überwölbte beide Teilstaaten, die sich bruderfeindlich gegenüberstanden, wie eben nach dem Kriege 1945 Deutschland West und Deutschland Ost. Im Jahre 722 v. Chr. gingen beide jüdischen Staaten durch das Vordringen der Assyrer unter, nur Juda hielt sich einige Zeit als assyrisches Aufmarschgebiet; erst im März 597 v. Chr. fällt Jerusalem. Wenn der Dichter so zeithistorisch und politisch codiert wie Huchel, bedarf es der klugen Offenlegung, um das Sprachgeheimnis zu lüften. Huchel lotet immer tief, nichts ist ihm Ornament. Und oft siedeln seine Verse nah am Unbehaustsein der Menschen, am Verfall. Wenn Personen aus der griechischen Mythologie aufgerufen werden, dienen diese zur Inszenierung eines politischen Zusammenhangs.

In vielen Texten bilden Tod und Untergang die Grundierung. So bewacht den Trupp toter Soldaten („im Tod noch versprengt“) „die nebelgefiederte Krähe“. Das ist ein härteres poetisches Bild als in den meisten Versen von Günter Eich. Huchel schreibt ein Deutschland-Gedicht, das diesen Namen nicht ausspricht und ins vorchristliche Israel ausgreift. Damit liegt er weit ab vom poetischen Kosmos Paul Celans. Huchel nimmt in seiner Lyrik eine deutsche Innensicht auf. Das Deutschland-Thema von bestimmender Wirkkraft, nämlich Holocaust oder Shoah, reflektiert er jedoch nicht. Vieregg geht darauf nicht ein, obwohl in diesem Gedicht schon der Begriff Ephraim für Huchel und so auch für seinen Interpreten ein Anknüpfungspunkt gegeben ist. Auch andere Germanisten erläutern nicht, weshalb diese Menschheitskatastrophe, die immer mit dem Namen Deutschland verbunden ist, nicht Eingang in seine Dichtung gefunden hat. Unlängst wies Markus Bauer in der Frankfurter Allgemeinen am 24.2.2019 auf Heinrich Böll hin, der am Ende des Krieges als Soldat in Transnistrien wohl viele Verbrechen von Soldaten der Wehrmacht und Waffen-SS wahrnahm, diese aber nicht in seinen Erzählungen und Romanen darstellte und reflektierte. Böll, Huchel und auch Eich waren wie viele ihrer deutschen Altersgenossen dem Verschweigen näher als dem Eingeständnis von Schuld und Scham.

Und auch bei vielen die deutsche Nachkriegsliteratur bestimmenden Autoren wie Siegfried Lenz, Günter Grass oder gar Martin Walser (aus dessen schrecklicher Pauls-Kirchen-Rede vom 11.9.1998 zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels immer noch das Diktum von „Auschwitz als Moralkeule“ nachhallt) waren der deutsch-jüdische Lebensbogen sowie der deutsche Völkermord inner- und außerhalb der KZs eher abseitige Themen, die man den jüdischen Opfern wie Nelly Sachs, Paul Celan oder Edgar Hilsenrath überließ. Und die „Todesfuge“, die Celan im Mai 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf vortrug, wurde nicht als paradigmatisch, als das „Vaterunser“ der Dichtung zu allen KZs und zum deutschen Völkermord erkannt, vielleicht nur von Ingeborg Bachmann, seiner Geliebten und Vermittlerin der Einladung in die Gruppe 47. Tief verletzend war die Hans Werner Richter zugeschriebene (und wohl authentische) Äußerung, Celans Diktion beim Vortrag der „Todesfuge“ auf der Frühjahrstagung in jenem Ostseebad erinnere an Goebbels. Das macht immer noch sprachlos, weil der Name Goebbels sprachlos macht, erst recht im Zusammenhang mit Celan. Richter hat sich noch auf der Tagung – auf Bitten der weinenden Ilse Aichinger – entschuldigt, aber die Sprachwunde blieb lange. Zehn Jahre später schrieb Celan dann versöhnlich über Richter.

Ob die Gruppe insgesamt antisemitisch war, wie Klaus Briegleb in seiner Studie „Missachtung und Tabu“ (Berlin/Wien 2003) darlegt, wird von Helmut Böttiger am 21.5.2017 in Deutschlandfunk Kultur zurückgewiesen. Das bemerkenswerte Diktum von Thomas Mann von der „moralischen Gleichwerterei von allem, – wie sie den Deutschen so passt“ im Zusammenhang mit der Installierung des René Schickele-Preises an Hans Werner Richter für dessen Roman (eher eine Folge von 95 Kurzgeschichten) „Sie fielen aus Gottes Hand“ könnte indes Ausgangspunkt für eine differenzierte Analyse der deutschen Mentalitäten der Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit sein und so auch die geringe Befassung oder gar Nichtbefassung mit den sechs Millionen in Asche und Rauch Aufgegangen in den Büchern der 47er Autoren sowie jener von z.B. Jelinek, Sebald oder Heißenbüttel. In Axel Dunkers Habil.-Schrift „Die anwesende Abwesenheit“ (Berlin 2003) werden Namen und Fakten diskutiert, aber was folgte dem? Die durch Kultur und Geschichte gewachsenen Mentalitäten der Deutschen im 20. Jahrhundert prägten auch die Schriftsteller. Einen höheren Standard an Erkenntnis und Humanität beanspruchten jedoch manche vehement, so Günter Grass, bis sein polit-moralisches Kartenhaus zusammenfiel, als seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannt wurde.

Denn wer schrieb über die Menschenvernichtung? Gewiss, die 1930 in Wien geborene und 2020 verstorbene Ruth Klüger setzte in „weiter leben. Eine Jugend“ (Göttingen 1992) ein Zeichen, ja einen Akkord, der immer noch nachklingt. Sie, die als 15-Jährige Österreicherin jüdischen Glaubens, welche die KZs in Theresienstadt, Auschwitz und Groß-Rosen überlebte, ist indes die Ausnahme. Und wer hat je über den Völkermord an den Sinti und Roma geschrieben, wer kannte die Auschwitz-Überlebende Philomena Franz aus Bergisch Gladbach („Zwischen Liebe und Hass“ / Ein Zigeunerleben, Freiburg 1984), die hundertjährig 2022 verstarb, zwei Jahre jünger als Paul Celan? Die 500.000 Toten dieser Mitbürger waren bei der Gruppe 47 ebenfalls kein Thema. Verstand und Gefühl tief bewegend und das jüdische Schicksal exemplarisch erfassend ist die meisterhafte Erzählung von Erich Hackl „Abschied von Sidonie“, die aber erst 1989 erschien. Der Autor wurde 1954 in Steyr (Österreich) geboren, weit weg von der Gruppe 47, die sich eine eigene Welt baute.

Wahrgenommen wurden auch Primo Levi und Imre Kertész: sie schrieben über die Shoa, als Nicht-Deutsche. In der Gruppe 47 erzählte man lieber von Soldaten- und Flüchtlingsschicksalen im großen Kosmos des 2. Weltkriegs. Der Roman von Heinrich Böll „Wo warst Du, Adam“ aus dem Jahre 1951 steht dafür. Andere schwiegen. Huchel schwieg nicht vollends: das Gedicht „Der Ammoniter“ lässt es erkennen und versucht, Schuld und Sühne von Auschwitz zu benennen. Und auch als Herausgeber von „Sinn und Form“ sowie als Verantwortlicher der „Autorenstunde“ im Berliner Rundfunk der DDR gab er Autoren wie Nelly Sachs, Paul Celan oder Getrud Kolmar ein Forum. Reichte das? Und wie tief wirkte das Auftreten von Celan, der einem Dichter wie Johannes Bobrowski strikt verbot, über den Holocaust zu schreiben, eine Widmung verweigerte und Bobrowski dann die Freundschaft entzog? Eine frühe Form von cancel culture? Ist Auschwitz nicht so etwas wie die eine raison d’etre der deutschen Literatur?

Vieregg skizziert genau die Sprachinszenierungen in Huchels Dichtung, seine Chiffrierungen und so seine Vision vom endgültigen Untergang Deutschland in einem (dann doch ausgebliebenen) weiteren Krieg. Das berührt und bedrängt durch zwingende Sprachbilder sowie einem tiefen Moll der Worte. Ähnlich wie von der Lyrik Trakls geht von Huchels Versen Suggestion, ja, sirenenhafte Anziehung aus, die immer noch anhält. Peter Huchel fühlte sich von seinem Interpreten Axel Vieregg, dem Herausgeber der Gesammelten Werke in zwei Bänden (Frankfurt am Main 1984) tief verstanden. „Er hat mich durchschaut, er hat mich durchschaut!“ rief Huchel durchs Haus in Staufen, als er den Essay im Materialienband in die Hand nahm. Ein schönes Kompliment, das Huchels Sohn Stephan Axel Vieregg verriet, als man sich in der Faust-Stadt traf.

Dieses Erkennen kommt nicht von ungefähr. Es gibt biographische und emotionale Gründe. Vieregg ist, war Berliner. Dort wurde er am 4. August 1938 geboren. Am 8. Mai 1945 war er noch nicht sieben Jahre alt. Die Sprachverrohung der Nationalsozialisten konnte den Knaben und Jugendlichen nicht mehr verheeren, aber es wirkte nach im zerstörten Nachkriegs-Berlin und in ganz Deutschland. Seine Schulzeit begann aber im thüringischen Mühlhausen. Dorthin zog Axel Vieregg mit der Mutter wegen der schweren Bombenangriffe auf Berlin im August 1943. Im Herbst 1944 wurde er Schüler der Nicolaischule. Erst 1948 kehrten Mutter und Sohn nach Berlin zurück. Die märkische Mentalität, die Weite von Feldern, Seen und Wälder nahm er auf in seine Seelenlandschaft auf, denn Brandenburgs Seen und Wälder erkundete von Berlin aus als Junge und später als Student immer wieder.
Nach dem Abitur schrieb er sich an der FU, also im Westen der Stadt, ein für die Fächer Anglistik und Romanistik. Dort tauchte er in die Wortlandschaften benachbarter Sprachen ein, in Emily Brontës „Wuthering Heights“, später ins Altfranzösische als Lektor des Pädagogischen Austauschdienstes in Besançon, dann in die Roman-Theorie bei Tobias Smollett, bis er plötzlich gefunden wurde, sich finden ließ, was ihn im Untergrund immer schon aderte: von der deutschen Barocklyrik, dessen existentieller Duktus ihn mitriss, so Gryphius, Fleming, Angelus Silesius; auch Paul Gerhards Volksliedton trug ihn lange. Von dort war es ihm nicht weit zu Peter Huchel, dem Brandenburger Nachbar in Weltsicht und Beharrlichkeit.

Er begegnete dieser Dichtung 1966, die er wie die Alpen durchwanderte, lesend und bewundernd. Das weckte den Wunsch, diesem Dichter näher zu kommen. Aber zunächst nicht in Deutschland, sondern in Neuseeland, einem Ruf als Junior Lecturer for German an der Massey University folgend. Die erste Dissertation zu Peter Huchels Gedichten wurde entwickelt und 1972 abgeschlossen unter dem sprechenden Titel „Die Lyrik Peter Huchels. Zeichensprache und Privatmythologie“, den er im Sammelband von Hans Mayer wieder aufgriff. Huchel hatte sie im Manuskript gelesen und fand: „Endlich ein Interpret, der den richtigen Schlüssel besaß, um die verborgenden Türen zu öffnen.“ Und mit diesem Satz verwies er zugleich seine Dichtung in die Sphäre des Geheimnisvollen, zu den Besitzungen der Dichtung, deren Zugänge durch Zitate und Anspielungen aus Philosophie und Literatur offengelegt werden müssen, um den Leser mitzunehmen. Vieregg ist ein Meister hermeneutischen Lesens und Erklärens. Lyrik von Rang entwirft sich eine eigene Zeichensprache, eine individuelle Wortwelt, die einen Sound entfacht, der unverwechselbar wird, so wie bei Chopin und Schubert schon nach zwei Takten deren Melodien im Ohr liegen. Und so ist Viereggs Studie in vielem Modell, lyrische Texte zu erfassen. Wenn auch die Landschaften der Mark für Huchel den Resonanzraum für seine poetischen Erkundungen bilden, kann er nicht in die Nachfolge einer – ohnehin nicht existenten – Fontane- oder Lehmann-Schule verwiesen werden. Dass sich gerade Wilhelm Lehmann und auch der immer beschwingte Hans-Jürgen Heise an Huchel rieben, wirft ein erklärendes Bild mehr auf diese lyrischen Konkurrenten denn auf Huchel. Huchels Dichtung schildert nicht bloße Erscheinungen der Natur, sondern lotet über die Szenarien des Gesehenen in die Tiefenebenen der menschlichen Existenz. Und insofern ist er mit Georg Trakl eher verwandt, der wie Huchel erst recht nicht in die Regionalliga der Naturlyriker gehört. Vieregg, geschult am herben Klang der Barocklyrik, erkennt bei Huchel nicht nur die Bezüge zur griechischen Philosophie, sondern auch zum verzweifelten Wortsucher Jakob Böhme aus dem schlesischen Görlitz („Die gantze äussere Welt sichtbare Welt mit all ihrem Wesen, ist eine Bezeichnung oder Figur der inneren geistlichen Welt.“). Und die Sprachmystik von Meister Eckardt nimmt Huchel in seine Lyrik ebenfalls auf. Die Zeichensprache des Dichters konstruiert also nicht primär einen Schutzraum von dem politischen Zugriff der nationalsozialistischen Sprachdiktatur in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, dem dann jene des SED-Staates ab 1949 folgte, sondern sie entspricht seinem Impetus als mitleidender und mitteilender Dichter: Er spannt sich sein eigenes Zelt auf, um sich selbst zu schützen und nicht zu verlieren in den Bedrängnissen, in die er sich gestellt sieht. Auch wenn er nur in frühen Gedichten Gott unmittelbar anspricht (in: „Du Name Gott“ aus dem Jahre 1925) und dies sonst meist vermeidet, ist Huchel ein Gottsucher wie wenige, der die Dimension Gott ins Wort holt; nicht nur in Gedichten, die im Titel darauf hinweisen wie „Psalm“ und „Winterpsalm“ und zu Beginn seines Dichtens in Texten wie „Weihnachtslied“ und „Die Hirtenstrophe“. Er verortet sich auch bei dem denkenden Dichter des Christentums, bei Augustinus. Im 1963 in Frankfurt am Mai erschienenen Band „Chausseen Chausseen“ hat er diesen im Vorblatt zitiert: „… im großen Hof meines Gedächtnisses sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig…“

Wovon ist wohl die Rede, wenn Huchel das Ernst Bloch dedizierte Gedicht „Widmung“ so enden lässt: „Und manches Wort wird Brot und Salz / Er ahnt, was noch die Nacht verschweigt, / Wenn in der großen Drift des Alls / Des Winters Sternbild langsam steigt.“ Dem Nihilismus wird entgegengedichtet. Vieregg entschlüsselt, wie Huchel naturmythische Koordinaten in seine Lyrik setzt, weil ihm Gott doch keine Zuflucht gibt. Um nicht in Verlorenheit zu ertrinken, setzt er die Worte seiner Privatmythologie.

Wenn sich Interpret und Autor in ein so dichtes Gespräch begeben haben, liegt es auf der Hand, dass eine Seelenverwandtschaft besteht und einmal mehr der Satz beglaubigt wird, dass der Leser der zweite Autor wird. So ist es hier.
Die Herausgabe der Gesammelten Werke durch Vieregg war denn auch schlüssig. Wer hätte es besser machen können? Und richtig war, sich im Hörspiel-Werk des Dichters auf vier zu beschränken, denn diese sind mehr lyrische Arbeiten (wie „Die Herbstkantate. Eine Dichtung für den Rundfunk“ aus dem Jahre 1935 bzw. ein langes Gedicht wie „Das Gesetz“ aus dem Jahre 1959). Es gibt eine Vielzahl von Hörspielsendungen, die sich – nolens volens – dem NS-Zeitgeist anschmiegen, literarisch wohl weniger ereignisreich, allenfalls von biographischem Interesse, bei denen man der Frage nachgehen könnte, ob und ggf. wie Huchel sich kompromittiert hat, dem NS-Staat publizistisch zu nahe gekommen ist. Vieregg, der den Nachlass und so die 19 Huchel-Sendungen im Reichssender gesehen hat, verneinte dies immer, auch mir gegenüber im Gespräch.

Anders war die Lage bei Günter Eich. Dessen Gesammelte Werke gab Axel Vieregg zwar nicht heraus – das war 1991 der Kölner Germanist und WDR-Journallist Karl Karst – , jedoch 2006 die „Gesammelten Gedichte“ und drang auf diese Weise tief in das Œuvre dieses bedeutenden deutschen Dichters ein, der heute meist als Lyriker, aber auch als Hörspielautor in Erinnerung ist und gelesen wird.

Susanne Müller-Hanft gab 1970 in der edition suhrkamp den Band „Über Günter Eich“ heraus, der einen Überblick über die publizistische und wissenschaftliche Rezeption des Autors vermittelte. Das Buch ist deutlich schmaler als der Band über Peter Huchel. Einen Essay von Axel Vieregg vermisst man, wurde er doch 1973 zusammen mit Karl Karst Herausgeber der Gesammelten Werke von Günter Eich (in vier Bänden) im selben Verlag, die – nach Kritik u.a. vom Würzburger Ordinarius (und Lyriker im Nebenamt) Peter Horst Neumann – 1991 revidiert noch einmal herauskamen.

Eich war Gründungsmitglied der Gruppe 47, deren Preis er drei Jahre später bekam. Die sechs Jahre als Soldat von 1939 bis 1945 (bis 1946 in britischer Kriegsgefangenschaft) gaben ihm tiefe Erfahrungen in den Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Sie steuerten seinen Blick bei seinem Schreiben. Schriftsteller wollte er schon 1929 werden nach Sendung des ersten Hörspiels „Das Leben und Sterben des Sängers Caruso“, dem 1930 der erste Gedichtband folgte. Susanne Müller-Hanft schreibt im biographischen Abriss in o.g. Materialienband: „1933-39 Arbeit beim Rundfunk. Eich schreibt Auftragsarbeiten, keine Gedichte“. Das ist recht dünn. Auftragsarbeiten also, aber wer gab Eich Aufträge und wozu? Die Laudatio von Walter Höllerer, als Eich 1959 den Georg Büchner-Preis erhielt, geht auch nicht darauf ein, keiner im Sammelband, weder der kundige Wolf Segebrecht noch die Dichter-Kollegen Heinz Piontek, Erich Fried oder Wolfgang Hildesheimer.
Axel Vieregg ist da genauer. In der Studie „Mein Raum und meine Zeit – Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich“ geht er dem nach, was man als Seelenlandschaft des Dichters bezeichnen könnte, grundiert vom Kolonne-Kreis, zu dem er ab 1931 gehörte. Die – vor allem amerikanische – Moderne soll er auf Kosten der empirischen Realität als Gefahr erkannt haben. Dies sei ein „ureigentlich deutsches Thema“ in Anbindung an Hölderlins Maxime „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt“ aus dem „Hyperion“. Vieregg weist anhand von Texten und Briefauszügen nach, dass Eich kulturkonservativen und zivilisations-kritischen Strömungen nahe gestanden habe, die Armin Mohlers „Konservative Revolution“ (zunächst 1950 veröffentlicht, sodann erweitert Darmstadt, 1989) auf den Begriff gebracht hat, was Stefan Breuer vertiefte (in: „Anatomie der Konservativen Revolution“, Darmstadt 1993). „Ich habe die ‚Konservative Revolution’ schon vor längerem gelesen und zwar mit höchstem Interesse, hängen doch an diesem Thema für mich mannigfache Jugenderinnerungen“, wie Günter Eich im November 1950 Armin Mohler schrieb. Er war eben im Gegensatz zu Peter Huchel kein Sozialist, sondern erdnaher Natursucher, fern dem städtischen Leben. Vieregg geht allem mit Umsicht und behutsam nach, ohne auch nur von ferne zu versuchen, den Dichter zu diskreditieren oder gar in die Nähe der Blut und Boden Apologeten zu rücken. Er sieht Eich im großen kulturgeschichtlichen oder poetologischen Bogen, unter dem dieser sich behütet fühlt. Ein Schlüsselwort ist ihm die Zeit. So verweist er auf die Selbstzuschreibung Eichs, als er 1956 im Burgundischen Vézelay öffentlich vortrug: „Nach meiner Vermutung liegt das Unbehagen an der Wirklichkeit in dem, was man Zeit nennt. Dass der Augenblick, wo ich dies sage, sogleich der Vergangenheit angehört, finde ich absurd.“ Er sucht in seinem Schreiben die Innenwelt des Traums, Hölderlin verwandt, sie ist ihm die eigentliche Wirklichkeit. Der Begriff der Wiederkehr tritt hinzu mit der Konsequenz, dass für Eich alle Dichtung „eigentlich prähistorisch“ ist und ihm die Historie „die Widersacherin der Poesie“.

Mit diesen Vorstellungen war Eich eher empfänglich für „Auftragsarbeiten“ seiner NS-getrimmten Vorgesetzten im Deutschlandsender. In der Sendereihe „Deutscher Kalender – Monatsbilder vom königswusterhäuser Landboten“ verantworten Günter Eich und Martin Raschke 75 Sendungen. Eich verfasste zudem über 150 Sendemanuskripte für andere Formate. Dass er zum 1.5.1933 ein Gesuch auf Aufnahme in die NSDAP stellte, scheint erwiesen; dass es nicht angenommen wurde, lag an der damaligen Aufnahmesperre. Eich war eben ansprechbar für den NS-Innerlichkeitswahn, dieser war ein deutsches Phänomen, das bis heute nachwirkt.

Axel Vieregg greift diese Aspekte in einem Essay in der Zeitschrift „Sinn und Form“ im September 2015 noch einmal auf, mit dem er das sogenannte Wolburg-Fragment (1945) vorstellt und veröffentlicht. Es handelt sich um ein kleines Drama von Günter Eich, das nicht vollendet wurde. Der Autor begann damit am 30. Oktober und entwarf eine Handlung in der Mark Brandenburg im Jahre 1923. Vieregg und wohl auch Karst, der Herausgeber der Gesammelten Werke Eichs, hatten es übersehen. Dieses Fragment ist indes für die Wahrnehmung des Eich-Œuvres von Bedeutung, denn durch die im Stück handelnden drei Personen entwirft der Dichter die Situation des eigenen Lebens im NS-Staat. Es geht im Stück um ein großes Geheimnis, um die wahre Identität eines verschollenen Sohnes, der eine Ziegelei übernimmt und dem etwas Unheimliches entgegengehalten wird, was seinem Leben die Grundlage entziehen könnte. Lüge und Schweigen werden zu lebensrettenden Prinzipen.
Ähnlich angelegt ist das Hörstück „Die gekaufte Prüfung“, wo ein Studienrat in der Hochblüte des Schwarzmarkthandels, um seine Familie durchzubringen, einen schwachen Schüler – er besticht ihn mit Schwarzmarktware – durchs Abitur schleust. Schuld- und Schamgefühle, sich kompromittiert zu haben, befallen ihn. Aber er schweigt und verdrängt.
Damit hat Eich auch sein Handeln im NS-Rundfunk umrissen. Er erkannte die völkische Ideologie, hatte aber nicht die Courage zu opponieren. Und peinlich war ihm sicherlich auch das Hörspiel „Rebellion in der Goldstadt“ von 1940, das als antibritisches Propagandastück konzipiert ist. Eich betrauert sich und sein angepasstes Verhalten im NS-Staat, zieht sich in Erzählungen, Gedichte und Traumwelten zurück, anstatt sich und der literarischen Welt Zeugnis abzulegen. Ein wohl doch sehr deutscher Zug im Nachkriegs-Deutschland, viel anders war es nicht bei Huchel. Wer ist auszunehmen? Und: wer werfe den ersten Stein?

Die Wahrnehmung von Günter Eich als Autor, Redakteur, Hörspiel-Verfasser und Dichter hat viele Germanisten von Rang befasst. Und so hat Vieregg 1996 den Sammelband herausgebracht „Unsere Sünden sind Maulwürfe“ / Die Günter Eich-Debatte. Eröffnet wird er durch Vieregg mit dem Essay „Antimodernismus und Idylle beim frühen Güter Eich“. Germanisten wie u.a. Peter-Horst Neumann („Günter Eich und der Hörfunk im Nazi-Staat: Axel Viereggs ‚brisanter Essay’ “), Ulrich Greiner, Harald Hartung, Kurt Oesterle oder Wolfram Wessels breiten Pro und Contra der NS-Verstrickung von Eich aus.

Der niederländische Germanist Hub Niijssen meinte mir gegenüber, die Kritik von Neumann (der so gerne auch als Dichter wahrgenommen werden wollte) habe sich besonders an Viereggs Buch von 1993 „Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945“ entzündet, wo er den radikalen Gesellschaftskritiker Eich erklärt als konsequente Entlarvung des eigenen Versagens und Mitmachens unter den Nazis; Eich habe da schärfer als alle anderen Konsequenzen gezogen, wie er sich nach dem Kriege zu verhalten hatte. Erst dadurch habe Eich zum Vorbilde der 68-er Generation werden können. Und obwohl Vieregg aus überzeugenden Briefstellen Eichs zitiere, seien die Germanistenkollegen über ihn hergefallen.

Tja, das lässt tief blicken. Die Terrorzeit 33-45 bleibt eine offene Wunde. Und Eich ging mit dem Hörspiel „Träume“ im Jahre 1950 darauf zu.

Vieregg geht mit den beiden bedeutenden Dichtern, die ihm nicht nur durch die Herausgaben nahe sind, nobel um, klagt nicht besserwisserisch an, insinuiert nichts. Ja, man darf wohl sagen: er trauert mit Huchel und Eich. Wer das nicht wahrnimmt und meint, hier werde der literarisch kanonisierte Dichter Günter Eich ungerechtfertigt in Misskredit gebracht, was den Universitäts-Professor Axel Vieregg fast außerhalb der Germanistenzunft stelle, hat seine differenzierten Darstellungen nicht gelesen und macht zugleich das Beschweigen der deutscher Unrechtstaten, das Nicht-wahrhaben-Wollen deutlich: eine deutsche Mentalität auch unter Germanisten.

Axel Vieregg war ein Wissenschaftler mit Grandezza und Gespür für das was Deutschland den Namen gibt, das Deutsche, die deutsche Sprache, die sich in der Dichtung ihre besten Quartiere sucht.

Ich bin ihm begegnet, nur einmal, in Berlin im Sommer 2019, als er seinem Sohn nahe sein wollte, der mit ihm in Ilmenau sein Staatsexamen feiern sollte. Er kam von Neuseeland mit seiner Frau Sharon, seine große Stütze auf ferner Insel.
Er war auf mich aufmerksam geworden durch Poesiealbum 344 (wo eine Auswahl meiner Gedichte von Helmut Braun vorgestellt wurde), in jener Reihe, die 1967 von dem brillanten Lyriker Bernd Jentzsch begründet und herausgegeben wurde und nun im Märkischen Verlag Wilhelmshorst (in jenem brandenburgischen Städtchen wohnte Peter Huchel) erscheint. Vieregg hat dort einen Band mit Huchel-Gedichten und mit Lyrik aus Neuseeland herausgegeben.
Zwei Stunden in der Lobby eines Charlottenburger Hotels: Und wir spürten eine Seelenverwandtschaft, die sich zu einer echten Freundschaft aufschwang durch Briefe und Mails zwischen Deutschland und Neuseeland.
Im Frühjahr 2020 brach ihm zwei Mal die Welt entzwei: Sein Sohn verlor in Hamburg seine Lebenspartnerin durch einen betrunkenen PKW-Fahrer, was ihn erschütterte, denn den Sohn leiden zu sehen, erfasst das eigene Sein. Und sein vor 82 Jahren begonnenes Leben geht bald dahin. Die Nacht ist vorgedrungen, dichtete 1937 Jochen Klepper (1902-1942). So ist es nun bei ihm. Er schrieb mir, wie sehr ihn die Musik Schuberts aufnimmt, mehr als alle Dichtung, Klänge des Streichquintetts C-Dur, Opus 956, die eine reine Seele geschaffen haben. Dort ist Zuflucht. Immer. Und sie lässt weiterleben wie alle Werke, die dem Sterben vorausgehen.

Das Sterben war Axel Vieregg ein vertrauter Horizont. Und wer so tief in die Welten der Dichtung eingedrungen war wie er, wußte mehr von sich. „Mach Dir über meinen Gemütszustand keine Gedanken“, schrieb er mir aus Neuseeland. Sein Sohn Andreas musste den Tod des Menschen ertragen, mit dem er Zukunft geplant hatte. Der Vater sah den Sohn leiden. Da ich selbst Vater eines Sohnes bin, habe ich versucht, mich poetisch anzuverwandeln und Axel Vieregg den folgenden Text geschickt. Er erlaubte mir nach Rücksprache mit seinem Sohn, ihn so zu widmen.

Nach dem Unfall für Axel und Andreas Vieregg

Sie lag und lag verborgen von Bienensummen
Der Geräte die ihr weiches Antlitz nun verzeichneten

Sie hörte schon seit Tagen nichts mehr von der Welt
Die um sie bangte und schon Abschied nahm

Sie lag und lag fast nicht mehr schwebte schon
Ins andere Ich das nicht zu ferne sie erlösen sollte

Aus Hamburgs Wasserstraßen aus Brücken und aus
Anderen Zärtlichkeiten die landeten in ihrem Augenbogen

Hinüberwechseln doch nicht sogleich denn
Das Sterben ist ein intensives Lieben all der anderen

Die um sie stehen auch aus dem verzweifelt fernen Neuseeland
Und die nicht erfassen können dass sie nun geht

Und gehen muss und dass noch andere schon warten
In der Hoffnung mit einem Teil von ihr doch noch zu existieren

Wann aber ist der letzte Blick ins schon entflog’ne Auge
Denn gekommen um dann zu warten dass

Die grün digitale Stille in eine Ebene fällt die alles nimmt
Was sie erhält was sie erhält

Am 3. September 2020 starb Axel Vieregg fern von Deutschland, aber im inneren Kreis seiner Familie und inmitten der deutschen Dichtung, in Neuseeland. „Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit, denn ihre Werke folgen ihnen nach“, lesen wir in der Offenbarung des Johannis 14,13. Und mit diesen Worten beendete Johannes Brahms seine Abschiedsmusik „Ein deutsches Requiem“.

Letzte Änderung: 18.08.2023  |  Erstellt am: 22.02.2022

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