Dreifach: Kolja Lessing musiziert

Dreifach: Kolja Lessing musiziert

Porträt
Kolja Lessing

Hans-Klaus Jungheinrich beschrieb Kolja Lessing als einen der findigen Köpfe, die detektivisch Verschollenem nachspüren. Dass der Geiger, Pianist, Komponist und Hochschullehrer Lessing mit dieser musikarchäologischen Arbeit, der sorgfältige Editionen und großartige Einspielungen folgen, durchaus Anerkennung findet, lässt sich an den erhaltenen Preisen ablesen oder aber am Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland, den er 2020 bekam. Matthias Buth hat sich in Lessings Essays, Glossen und Erinnerungen vertieft.

Komponisten und Persönlichkeiten aus Exil, Diktatur und anderen Welten

Kolja Lessing ist ein so deutscher wie europäischer Künstler. Er musiziert sich seit Jahrzehnten in andere Welten, ja, er lebt besonders intensiv in den Gefilden exilierter und verfemter Musik des diktatorischen und NS-verseuchten 20. Jahrhunderts. Aber nicht nur dort, er spannt den weiten Bogen vom Barock bis in die Gegenwart; und das als Geiger und Pianist. Von wem kann man das sonst sagen? Ich kenne keinen anderen Musiker.

Wie nur wenigen ist ihm bewusst, was Deutschland durch die Nationalsozialisten verloren hat, manches holt er zurück. Doch das Wiederentdecken offenbart zugleich das Erschrecken über die Abgründe von Verlust und Nichterklingen.

Lessing spricht immer und immer mit Kompetenz, Eleganz und tiefer Emphase, wenn er spricht, und auch, wenn er den Flügel sprechen lässt und besonders beim Geigenspiel. Das Wort „mitteilen“ erfüllt er vollends. Es ist bei ihm stets ein Lieben und Umwerben der Kompositionen und Künstlerpersönlichkeiten. Seine Doppel-, ja, Dreifachbegabung an Geige, Klavier und sprachlicher Vermittlung ist ein Glück für das Land, das sich zwar gesetzlich zuschreibt, eine „europäisch gewachsene Kulturnation“ (so steht es im Deutsche-Welle-Gesetz) zu sein, die Bundesregierung es jedoch nicht vermag, auf ihren eigenen Begriff zuzugehen. Und der Bundestag auch nicht. Wer aber Kolja Lessing zuhört, erfährt viel davon. Und ein Künstler seines Ranges weiß, dass sich Kunst und besonders Musik eigene Territorien suchen. Doch das Deutsche in Pass und Kunst wird man nicht los.

Wer staatliches Gedenken im Deutschen Bundestag am Bildschirm verfolgt, besonders am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, wer die bewegenden, nein: die herzzerreißenden Reden von Ruth Klüger, Charlotte Knobloch und zuletzt von Inge Auerbacher gehört hat, weiß mehr von der Tiefendimension „deutsch“, mehr von den unendlichen Abgründen der NS-Geschichte unseres Volkes. Scham und Verstörung bleiben, auch wenn die TV-Programme längst weitergegangen sind. Was sind wir für Menschen, was unsere Vorfahren, was diejenigen, die beschönigen und nicht wahrhaben wollen? Und vor allem: Wie konnte große, ja fast göttliche Musik in den KZs, in Theresienstadt und auch in Auschwitz von der SS befohlen, gespielt und gehört werden, um dann weiter zu morden? Haben diese Perversionen nicht auch Beethoven getötet?

Kolja Lessing wurde am 27.1.2021 von der Bundestagsverwaltung eingeladen zu spielen, aber nicht zu lange, denn die Sprache der Musik hat in Deutschland keine eigene Frequenz, sie hat sich dem Reden anzupassen. Aber wer allein vor dem Hohen Haus und der deutschen und internationalen Öffentlichkeit die Violine ans Kinn führt, um die von Josef Joachim komponierte Kadenz zum Violinkonzert von Johannes Brahms zu spielen, ist ein Mensch, der anderen eine Stimme geben, der mit Saiten ins Innere der Seelen loten will. Und wer von Ursula Mamlok (1923-2016) den achtminütigen Zyklus „Aphorismus I“ spielen möchte, wird von der Bürokratie reglementiert: drei Minuten müssen reichen – von einer Musik, die zurückgekehrt ist, denn diese große Komponistin konnte sich 1939 vor Deutschlands Schergen retten, floh und kehrte aus den USA 2005 in ihre Geburtsstadt Berlin zurück, wo sie 2006 starb. Das Geigenspiel von Kolja Lessing von Joachim/Brahms zu Mamlok war eine eigene Rede, ohne Worte, aber dadurch umso tiefer.

Lessing beklagt, dass niemand auf ihn zugegangen sei, kein Volksvertreter, bis auf die selbstreferenzielle Monika Grütters, um ihm zu sagen, sie hätte es noch schwerer. Das muss erschrecken, und dass der Künstler mit einer „Aufwandsentschädigung“ abgespeist wurde, ebenso. Musik ist eben Gedenktag-Staffage, kein Lebensmittel, so im Bundestag und in anderen Amtsstuben.

Doch wie sehr kann Musik mitnehmen in Klangwelten, welche die Begriffe „deutsch“ und „europäisch“ mit klarem Licht verbinden aus erwärmenden und bedeutenden Oeuvres! Die vom Kamenzer Lessing-Museum unter dem Titel „Im tastenden Bogen“ zusammengestellten Texte zu lesen, macht Freude, sie sind ein Genuss: es ist ein Mosaik der Lessing-Welt, die auch die unsrige sein müsste. Es sind überwiegend Essays aus CD-Booklets und führen so zu den Einspielungen von Kolja Lessing als Geiger und Pianist.

Wer sich mit der Musik von Israel befassen möchte, sollte sich von Lessing an die Hand nehmen lassen. Paradigmatische Wirkung hat das Stück „Brashrav“ für Geige solo des im ostpreußischen Cranz 1915 geborenen und 2003 in Tel Aviv gestorbenen Abel Ehrlich, der es 1953 komponierte und in einer rondoartigen Form orientalische und deutsche Elemente zusammenbrachte, ein ständiges Verwandeln unter Verwendung von Mikrointervallen aus der arabischen Musikästhetik, wobei das Rufen der Muezzin aufgenommen wird. Ein Stück wie eine Friedensbotschaft und deshalb so sehr in der israelischen Musikkultur geschätzt. Lessing war Jahrzehnte mit Ehrlich befreundet und ist es immer noch mit dem aus Saarbrücken stammenden Tzvi Avni, der dort 1927 als Hermann Jakob Steinke zur Welt kam. Wer die Aufsätze zum Musikland Israel, zu den Werken für Violine solo und zu den Klavierwerken israelischer Komponisten liest und dann auch die Dankesrede zum Otto-Hirsch-Preis von 2015, nimmt Namen und Werke wahr, die aus der deutschen und mitteleuropäischen Musik kommen, aus der ästhetischen Erinnerung heraustreten, um einen eigenen Klang zu erzeugen. Die Verwurzelung der Musik Israels im deutschen Klang hat etwa Tragisches, hat aber vielleicht auch die Funktion eine Brücke, die über das Grauen die Sphäre der Kunst erhält und begehbar macht. Komponisten vom Rang wie der Posener Josef Tal, Haim Alexander, Paul Ben-Haim oder Hanoch Jacoby kamen schon 1933 und 1934 nach Palästina, erst 1938/39 folgten Max Brod, Abel Ehrlich (er lehrte einige Jahre in Zagreb), Ödön Pártos und Joachim Stutschesky. Und wer vom europäischen Geigenspiel berichten will, wird stets auf den Namen von Bronislaw Hubermann (er gründete 1936 das Palestine Orchestra in Tel Aviv) und Emil Hauser (der Gründer des Jerusalem Conservatory for Musical and Dramatic Art) stoßen.

Die Werke von Komponisten beiderlei Geschlechts aus dem hochbürgerlichen deutschen wie jüdischen Klangraum zu entdecken und in die Abonnementskonzerte zu bringen, ist ein noch offenes Desiderat. Berthold Goldschmidts Opern „Der gewaltige Hahnrei“ und „Beatrice Cenci“ wurden von Barbara Busch zwar wissenschaftlich ausgeleuchtet, auf die deutschen Bühnen schaffen sie es aber nicht. Wo wird die zauberhafte Musik des deutsch-russischen Wladimir Vogel gespielt? Lessing hat dessen Gesamtwerk eingespielt, aber dann? Wer hat sich in Rumänien mal Leon Klepper zugewandt?

Und wer die Klanglinien zwischen Orient und Okzident kennenlernen will, sollte sich mit Lessing in die Klavier- und Violinwerke von Hugo Herrmann, Felix Petryrek und Isco Thaler entführen lassen und wird so einer Musikästhetik begegnen, die sich auf den großen Komponisten und künstlerischen Lehrer Franz Schreker (1878-1934) gründet. Und dass das heutige ukrainische Galizien den genialen Spätromantiker Karol Rathaus – auch ein Schreker-Schüler – hervorgebracht hat, dass aus Ungarn Zdenka Ticharich (1900-1979), künstlerische Freundin von Berthold Goldschmidt, als Pianistin und Komponistin hinzukam, ach, die Schreker-Schüler bilden einen Kosmos, der mehr beinhaltet als Namen sagen können, mehr als Wilhelm Grosz, Kurt Fiebig oder Alexander Ecklebe. Diesen auszuleuchten und auf die Podien zu bringen, würde Glanz in die Konzerthäuser bringen und zugleich die Erkenntnis vermitteln, dass viel untergegangen ist, was zum einen NS-Deutschland vernichtet hat und zum anderen eine Musikkonzeption nach 1945, die in den Musikforen in Darmstadt und Donaueschingen aus lauter politischer Angst eher einer diffusen Aleatorik als einer umfassenden und so auch noch tonalen Musiksprache den Vorzug gab. Zugespitzt gesagt: Ein Dreiklang war schon faschistisch.

Die tiefe Kenntnis der Musik im deutschen und europäischen Kontext von Kolja Lessing begrenzt sich nicht auf die sogenannten exilierten bzw. jüdisch grundierten Werke, zu seinen Leuchtsternen als Pianist wie als Geiger gehören besonders die Meisterwerke von Max Reger (1873-1916), einer der Großen der Musikgeschichte, die wenig in den Konzerten zu hören sind. 2009 spielte Lessing das Gesamtwerk Regers für Violine und Orchester ein. Und er erfüllte sich zudem den Traum, das geradezu riesige Klavierkonzert auf CD zu bringen, ein Stück, das emotional aufwühlt und dem das fast sinfonische Klavierquintett c-moll, op. 64 zur Seite zu stellen ist. Über all dies schreibt der poetisch inspirierte Geiger und Pianist kundig, elegant und nie gelehrt auftrumpfend, da er wirklich aus und in dieser Musik lebt.

Das ganze Buch ist durchwirkt von solch vielen Namen und Begegnungen, dass einem fast schwindelig wird und dabei Leerstellen im Konzertleben dokumentiert, die einem peinlich sind. Wer weiß denn von Oeuvre von Franz Reizenstein (1911-1968), wer hat das D-Dur-Violinkonzert des spätromantischen Meisters Emil Bohnke (1888-1928) gehört? Und warum wird Carl Czerny (1791-1857) immer noch in den Etüden-Keller verbannt, wo es doch die brillante „Kunst des Präludierens“ op.300 gibt, die Lessing ausgegraben, eingespielt und so eine atemberaubende Miniaturen-Welt von 120 Vorspielen vorstellt hat, die große Kunst ist?

Dem Geiger (er lehrt in Stuttgart) und Pianist zuzuhören, ist stets ein Gewinn. Ihn zu lesen ebenso. Was diesem Buch fehlt, sind ein Personenverzeichnis (es sind hunderte) und ein Glossar. Dies könnte nachgeholt, falls ein Sachbuchverlag sich diesen Schriften zuwendet, vielleicht im Zusammenhang mit der lange erwarteten musikgeschichtlichen Arbeit von Kolja Lessing zu Ignaz Strasfogel, der 1909 in Warschau geboren wurde, auch zum Schreker-Kreis gehörte (er lebte von 1912 bis 1934 in Berlin) und 1994 in New York verstarb. Musik ist Weltsprache und hat oft einen deutschen Klang, vor dem sich die Welt nicht fürchten muss. Das gibt Licht.

 
 

Siehe auch:
www.kolja-lessing.de

Letzte Änderung: 04.03.2022  |  Erstellt am: 04.03.2022

Kolja Lessing

Kolja Lessing Im tastenden Bogen

Essays, Glossen, Erinnerungen
Hrsg.: von Sylke Kaufmann
148 S., Softcover
ISBN: 978-3-910046-81-8
Kleine Schriften der Städtischen Sammlungen Kamenz, Nr.14
Lessing-Museum, Kamenz 2022

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