Klasse, Stand, Kaste

Klasse, Stand, Kaste

Der Fotograf August Sander
August Sander

Wie der Regisseur das Tableau auf der Bühne arrangiert, so inszeniert der Fotograf seine Bilder. Er weiß um die sprechenden Motive, Metaphern, Symbole und die Kraft des bildnerischen Ausdrucks. Und er setzt den bedeutsamen Rahmen. Was Fotografien uns erzählen, hat der Fotograf erfunden. Eine Neuausgabe der „Menschen des 20. Jahrhundert“ von August Sander führt, wie Matthias Buth beschreibt, zur Ambivalenz der Geste, zur Erkenntnis.

August Sander – Photographien, die in uns und mit uns sprechen

In der Höhle der gefesselte Mensch: er sieht nicht Menschen und Gegenstände, er sieht nur deren Schatten, die das Licht an die Wand wirft. Die Inszenierung des Schattenspiels, das ist es, was Platon im „Höhlengleichnis“ zur Frage bringt, was denn das Wahrnehmen leitet, das Sehen oder das Nachdenken darüber, die Idee der Dinge zu erfassen. Nicht was dem Menschen vorgespiegelt wird, sondern was die Seele, das Innenleben des Menschen, ihm sagt, führt zum Erkennen, das im Kosmos und so im Göttlichen ankert. Im Mittelalter ist der Mensch als beschränktes Abbild Gottes erfasst worden. Sein, Liebe und Erkennen bildeten die Trinität und so den Abdruck Gottes im Menschen.

Platons Ideenlehre wirkt nach. Im Tractatus Logico Philosophicus zerlegt 1922 Ludwig Wittgenstein das Abbild und stellt fest, dass es auf die Beziehungen der Dinge in einem inneren, funktionierenden Zusammenhang ankomme. Ein Abbild zwingt zu einem Nachdenken zu Dingen, die außerhalb stehen, die von der Außenwelt, dem Bewusstsein, Erfahrungen und eben von Ideen gesteuert werden. Bilder greifen über sich hinaus, ja, werden erst durch den Betrachter zu Bildern, für jeden anders. Bei Sprachbildern, bei Metaphern, ist es nicht anders. Der Leser, der Rezipient wird zum zweiten, vielleicht zum eigentlichen Autor. Was Wirklichkeit ist, entschlüsselt sich in einem dynamischen Prozess und ist nicht gänzlich zu erfassen, da von der Außenbeziehungen des Menschen abhängig.

Und so stehen wir vor den Bildern von August Sander. Den Fotos, den Fotogemälden, die kühl und doch anmutig auf die Bildplatte in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gebannt wurden. Wir meinen, so war es. Und sehen doch hindurch und wohl auch uns selbst an. Sie spiegeln wie alle Kunst. Als Modell.

Am 17. November 1876, fünf Jahre nach Gründung des kleindeutschen Nationsstaates als Kaiserreich, kam er zur Welt in Herdorf. Nach zwei Untergängen von Deutschland und Europa lief sein Leben aus am 20. April 1964 in der Hauptstadt des Heimwehs, in Köln. Was man über seine Bilderwelt erfahren will und so über Deutschland und seine Menschen, eröffnet sich in dem Epoche machenden Buch „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Ausgangspunkt ist das Jahr 1925. Sander war ein Chronist und bildender Künstler zugleich. Ihm ging es darum, Personen „unbedingt wahrheitsgetreu und in ihrer ganzen Psychologie wiederzugeben“. Das war seine Maxime.

Das Buch liegt nun wieder vor, ein schwerer Ziegelstein, eine Wunderkammer der Bilder und Einsichten und man meint: kenne ich doch, irgendwie durch die Bilder der Großeltern, man beginnt zu kramen und sieht in eine sehr deutsche Welt der Bürger, der stolzen Arbeiter, scheuen Frauen und mancher Untertanen wie aus dem Roman von Heinrich Mann; und auch feiste Nazi-Größen, die wir gerne vergessen wollen und doch als Korsettstangen in unserem nationalen Gedächtnis rosten und bleiben.

Wenn ich mein Haus verlasse, schauen sie mich an, die Großeltern, das Portrait von Oma und Opa, fein gemacht – man ging ja zum Photographen –, aus der eine feine und doch steife Bürgerlichkeit spricht: man wollte was darstellen, so sein wie das Bild aus dem Jahre 1947. Ein Dokument für andere, eine Projektion des Inneren, dem man nie ganz entsprechen konnte. Und in dieser Sehnsucht, die das Bild auch einfängt, eröffnen sich Anmut und Wärme, so als könne man wieder oder jetzt erst ins Gespräch kommen, wie es wirklich war.

So wirken auch die Sander-Bilder auf mich

In sieben Gruppen, die in 45 Untergruppen (Mappen) mit je 12 Photographien gegliedert sind, entfaltet sich die Bilderwelt. Die Gruppen heißen „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“. Eine Typologie schien ihm das Ziel, zumindest aber ein „Spiegel der Zeit“, der 1927 in der Ausstellung des Kölnischen Kunstvereins unter dem Titel „Antlitz der Zeit“ mit 60 Bildern den ängstlichen Nachkriegs-Deutschen im Rheinland gezeigt wurde. Als Buch kam es 1929 mit einem Vorwort von Alfred Döblin im Kurt Wolf/Transmare Verlag in München heraus. Im Jahre 1930 erkannte Kurt Tucholsky, dass Sander keine Menschen, sondern Typen, typischen Repräsentanten eines bestimmen beruflichen und gesellschaftlichen Standes dargestellt habe. „Klasse, Stand, Kaste“, das waren für den zeitkritischen Dichter Merkmale für das bildnerische Erfassen von August Sander. Das bringt es auf den Punkt, denn er war Kind seiner Zeit, Standesdenken und gesellschaftliche Schranken werden pointiert, nicht etwa in Frage gestellt. So sind seine Bilder stets sprechend, aber eben auch statisch, wie ins Papier gemeißelt.

Die Kölner Ausstellung war für Sander ein Ritterschlag. „Von der Kölner Künstlerschaft wurde ich auf Grund meiner Ausstellung als Mitglied aufgenommen. Und zwar in der Gruppe: Progressiver Künstler“, wie er stolz am 6. Februar Prof. Otto Mende schrieb, der ihn zu den „Kölner Progressiven“ zählte, eine Künstlergruppe, zu der u.a. die Maler Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, Hubert Anton Räderscheid, Otto Freundlich und der Architekt Wilhelm Riphahn gehörten, alle einig darin, Menschen in ihren Sozialstrukturen zu erfassen.

Dieses Erfassen hängt indes davon ab, was der Betrachter einbringt an Erfahrungen, Wissen und eigenem Sehen, das Bild verändert sich so, und das von Generation zu Generation, Ort und Zeit. Die Sander-Bilder zeigt meist den Menschen, allein oder in Gruppen, statisch, nicht in Bewegung. Und dies selten unter Hinzuziehung von Interieurs, die kommentieren, in Frage stellen oder erhellen. Die Portraits wirken so nackt und so auch durchdringend. Sie schauen an, nehmen auf und verweisen zugleich auf die andere Seite, die der Zuschauers. Die Ambivalenz ist vielleicht künstlerisch gewollt, ist aber vielleicht eher an die Zeit gebunden, in der sie entstanden sind, an die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, wo Status und gesellschaftliche Zuordnung mit gewissem Stolz und Gelassenheit hingenommen wurden. Der Ernst der Gesichter, nur ganz selten durch ein Lächeln erhellt, gezeichnet mit dem Schwarzstift von Schattenwürfen, aus denen die Vorstellungen von Welt und Zukunft schwer abzulesen sind. Ja, es sind sämtlich Schwarz-weiß-Fotos, aber auch das Schwarz-weiß-Agieren des Künstlers führt die Linse.

Die Bilder führen den Betrachter nicht nur in die eigene Familiengeschichte und so meist in deren Ärmlichkeit und Begrenztheit des Lebensradius’. Die Vertrautheit, die sich einstellt, kommt zudem aus den Bildern, die wir aus jenen Regionen des östlichen Europas kennen, wo die Landbevölkerung prägend ist und in den Städten eine Modernität wie aus dem vergangenen Deutschland. Rumänien, die „Süße Heimat Siebenbürgen“ und die Ukraine, die uns mit stolz-traurigen Gesichtern aus den zerschossenen Straßenzügen ansieht, erscheinen auf der Festplatte der Erinnerungen. Das gibt dem Buch zusätzlich Wärme und zugleich eine Melancholie, die anzieht und zugleich verwundet.

Die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist ein imponierendes Dokument, künstlerisch und zeithistorisch. Es auszuleuchten wird noch viele Forscher in verschiedenen Disziplinen anziehen. Die Ausstellung „Das Antlitz der Zeit“ war die Grundlage und fächerte sich dann immer weiter auf.

Die Rezeption in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt uns einen Eindruck davon, wie politisch Kunst immer wahrgenommen und damit reduziert wird. Die Dissertation von Claudia Gabriele Philipp „August Sanders Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts / Rezeption und Interpretation“ von 1986 macht dies ebenso deutlich wie der kluge Aufsatz in dieser Neuausgabe von Gabriele Conrath-Scholl und Susanne Lange (von der Photographischen Sammlung / SK Stiftung Kultur Köln).

Die Wahrnehmung des Werks von Sander wird sich immer verändern, je mehr sich unser Seelenleben wandelt, unsere Erfahrungen und vielleicht das Sehen-wollen und so der Wunsch, uns im Bild selbst zu sehen und zu erkennen.

Letzte Änderung: 17.04.2023  |  Erstellt am: 17.04.2023

Menschen des 20. Jahrhunderts

August Sander Menschen des 20. Jahrhunderts

Gesamtausgabe in einem Band
Herausgegeben von
Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur
Mit Texten von Gabriele Conrath-Scholl und Susanne Lange
808 Seiten, 619 Duotone-Tafeln, geb.
ISBN: 978-3-8296-0500-7
Verlag Schirmer-Mosel, München 2022

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Kommentare

konstanze Streese schreibt
In einem kleinen Essay von 1979 lässt John Berger das Titelfoto dieses Bandes zusätzlich an Tiefenschärfe gewinnen und bereichert damit auch den Blick auf die anderen: John Berger, The Suit and the Photograph, in ABOUT LOOKING, New York, 1980, S. 27ff.

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