Wir waren Nachbarn

Wir waren Nachbarn

Auf den Spuren jüdischen Lebens
Villa Bockenheimer Landstraße 102

DENK MAL AM ORT in Berlin und in München, Hamburg und Frankfurt werden am Wochenende nach dem Jahrestag der Kapitulation der jeweiligen Stadt viele Haus- und Wohnungstüren geöffnet. Unter der Überschrift „Jedes Haus hat eine Geschichte zu erzählen“ erinnern Ausstellungen, Lesungen, Stadtführungen und Gespräche zwei Tage lang an die Namen, Biografien, Verfolgungs- und Fluchtgeschichten ehemaliger Nachbar:innen. Doris Stickler stellt das Programm vor.

„Wir waren Nachbarn“

Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ versetzte der Kulturwissenschaftlerin Marie Rolshoven einen Schock. Beim Besuch hatte sie erfahren, dass während der NS-Zeit aus ihrer Berliner Wohnung neun Menschen deportiert worden sind. Weil sie durch die Amsterdamer Initiative Open Jewish Homes wusste, wie tröstend es ist, gemeinsam mit anderen an die Namen und das Schicksal der NS-Opfer zu erinnern, brachte sie mit ihrer Mutter Jani Pietsch 2016 das Projekt DENK MAL AM ORT auf den Weg. Der bereits zuvor von ihr, der inzwischen verstorbenen Künstlerin und Historikerin Jani Pietsch und dem Naturwissenschaftler Florian Voß gegründete Verein Kubin – er verschreibt sich der Förderung von Völkerverständigung, Kunst und Kultur – organisiert seither die jährlichen DMAO-Programme.

Die beschränken sich nicht mehr allein auf Berlin. In München, Hamburg und Frankfurt werden ebenfalls am Wochenende nach dem Jahrestag der Kapitulation der jeweiligen Stadt viele Haus- und Wohnungstüren geöffnet. Unter der Überschrift “Jedes Haus hat eine Geschichte zu erzählen“ erinnern Ausstellungen, Lesungen, Stadtführungen und Gespräche zwei Tage lang an die Namen, Biografien, Verfolgungs- und Fluchtgeschichten ehemaliger Nachbar:innen. Alle Veranstaltungen sind kostenlos.
 
 
Kurzfassung Programm
Das Frankfurter Programm umfasst am Samstag, 1. April, den Rundgang „Auf Spuren jüdischen Lebens im Diplomatenviertel“, den Stadtgang über die Zeil „Boykottiert-Arisiert-Enteignet. 90 Jahre Aprilboykott 1933“, eine Führung durch „Die Villa 102: Ein Gebäude als Zeitzeugung“, die Filmvorführung „Meinen Freunden zum Abschied. Erinnerung an Ernst Ludwig Oswalt“ mit anschließendem Gespräch, die Ausstellung “Ein ehemaliges ‚Ghettohaus’ öffnet seine Türen: Hier wohnte die Familie Stern“ mit anschließendem Gespräch sowie die Lesung „Der Rechtsanwalt Dr. Julius Meyer schrieb im Exil über die November-Pogrome“. Am Sonntag stehen zwei Vorträge mit anschließenden Gesprächen auf dem Programm: „Aus dem Altenheim vertrieben – Elise Hofmann und ihre Mitbewohner:innen“ sowie „Doppel-Grab ohne Inschrift: Erinnerung an Siegmund und Rosette Una & Familie“.
Das detaillierte Programm mit Zeit- und Ortsangaben unter: www.denkmalamort.de/deutsch/frankfurt-1-2-april-2023/
 
 
Detailliertes Programm
 
 
Auf Spuren jüdischen Lebens im „Diplomatenviertel“
Treffpunkt: Zeppelinallee 47, Frankfurt- Bockenheim

Samstag, 10-11.30 Uhr

Rundgang

Die Ortsbegehung beginnt in der Zeppelinallee 47 vor der Villa Herxheimer, die 1911 für Prof. Dr. med. Karl Herxheimer gebaut wurde, einen führenden Dermatologen seiner Zeit und Mitbegründer der Universität in Frankfurt. Als 80-jähriger wurde der Medizinalrat nach Theresienstadt deportiert. Die Spurensuche endet an der Frauenlobstraße. Vom Leben und Wirken der zahlreichen jüdischen Frankfurter*innen, die bis 1938/39 im „Diplomatenviertel“ lebten, erzählt die Geschichtswissenschaftlerin Dr. Cilli Kasper-Holtkotte.
 
 
Die Villa 102: Ein Gebäude als Zeitzeugin
Bockenheimer Landstraße 102, Frankfurt- Westend

Samstag, um 11 und 14 Uhr

Führung

Dr. phil. Albert Sondheimer zog 1918 mit seiner Frau Margarete und den vier Töchtern Auguste, Ellen, Erna und Anna in die Villa Bockenheimer Landstraße 102 ein. Ein Hausbesuch in der Villa ermöglicht Einblicke in das Architekturdenkmal von 1912 und erzählt die Geschichte der Familie Sondheimer, die 1932 Deutschland verlassen musste. Die über hundertjährige bewegte Chronik der Villa 102 zeugt vom großbürgerlichen Frankfurter Westend und jüdischem Leben in Frankfurt, aber auch von Vertreibung und Enteignung während der Zeit des Nationalsozialismus.
Die Kunsthistorikerin und Provenienzforscherin Laura Vollmers führt um 11 und 14 Uhr durch die Villa 102. Wer nicht vor Ort sein kann, hat die Möglichkeit, das Haus im virtuellen Rundgang zu besuchen.
Anmeldung erforderlich bis 31. März, 12 Uhr unter:

KfW-Stiftung

 
 
„Meinen Freunden zum Abschied” Erinnerung an Ernst Ludwig Oswalt
Kino Mal Sehn, Adlerychtstraße 6, Frankfurt- Nordend

Samstag, 13 Uhr

Filmvorführung & Gespräch

Ernst Ludwig Oswalt (1922-1942) war Schüler der Musterschule und Leiter der Jugendarbeit in der Evangelischen Sankt Petersgemeinde. Von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt, verfasste er am Tag vor seiner Deportation einen Brief an seine Freunde. “Meinen Freunden zum Abschied” heißt auch der 80-minütige Dokumentarfilm des Frankfurter Filmemachers Heiko Arendt über Ernst Ludwig Oswalt, der gezeigt wird. Zum anschließenden Gespräch mit Heiko Arendt reist Ernst Ludwig Oswalts Nichte Ruth Oswalt aus Basel an.
 
 
Boykottiert – „Arisiert“ – Enteignet – 90 Jahre Aprilboykott 1933
Treffpunkt: Vor dem Café Hauptwache Ostseite Platz an der Hauptwache

Samstag, 14 – 15.30 Uhr

Stadtgang über die Zeil

Bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts waren zahlreiche Kaufhäuser auf der Frankfurter Zeil in jüdischem Besitz. Mit dem Aprilboykott am 1. April 1933, an einem Samstag vor 90 Jahren, begann eine systematische Kampagne des NS-Staates gegen die jüdischen Geschäftsinhaber. Sie wurden boykottiert, unter Druck gesetzt, kriminalisiert und zum Verkauf ihrer Geschäfte gezwungen. Der Stadtgang über die Zeil macht die Geschichte einiger Kaufhäuser und die Lebenswege der Geschäftsinhaber und ihrer Familien erfahrbar.
Anmeldung unter: Angelika.rieber@t-online.de
 
 
Ein ehemaliges “Ghettohaus” öffnet seine Türen: Hier wohnte die Familie Stern
Kantstraße 6, Frankfurt Nordend- Ost

Samstag, 15 Uhr

Ausstellung & Gespräch

Selma und Seligmann Stern lebten mit ihrer Tochter Elfriede, die 1935 nach Palästina emigrieren konnte, in der Kantstraße 6. Nach dem Wegfall des Mieterschutzes für jüdische Mitbürger*innen wurde das Haus zu einem der ca. 300 „Ghettohäuser“, in das jüdische Familien zwangsweise einquartiert wurden. Mit einer Treppenhaus-Ausstellung vom Parterre bis zum 4. Stock wird mit Fotografien, Dokumenten und biographischen Notizen an Familie Stern und die 32 Menschen, die hier lebten, erinnert. Die heutigen Hausbewohner*innen laden Sie ein, einzutreten und mehr über die wechselvolle Geschichte des Hauses zu erfahren.
 
 
Der Rechtsanwalt Dr. Julius Meyer schrieb im Exil über die November-Pogrome
Autorenbuchhandlung Marx & Co Grüneburgweg 76, Frankfurt- Westend-Nord

Samstag, 16 Uhr

Lesung

Der Rechtsanwalt und Notar Dr. Julius Meyer lebte während der November-Pogrome 1938 im Grüneburgweg. 1940 schrieb er im Londoner Exil über das Erlebte. In seinem Bericht erzählt er von der willkürlichen Festnahme in seiner Frankfurter Wohnung, der Busfahrt zur Festhalle, den Schikanen und Demütigungen an diesem gefängnisgleichen Sammelplatz bis hin zum Transfer an den Südbahnhof. Von dort fuhren die Züge mit etwa 3.000 als Juden verfolgten Frankfurter*innen im Alter von 18 bis 60 Jahren in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau ab. Jochen Nix liest aus Dr. Julius Meyers Zeitzeugenbericht eindringliche Auszüge über dessen Verhaftung.
 
 
Aus dem Altenheim vertrieben – Elise Hofmann und ihre Mitbewohner*innen
Café Anschluss, Hansaallee 150, Frankfurt- Dornbusch

Sonntag, 11.30 Uhr

Vortrag & Gespräch

Die Witwe Elise Hofmann geb. Bloch war eine der ersten Bewohner:innen der von der Henry und Emma Budge Stiftung 1930 fertiggestellten Seniorenresidenz in der Hansaallee 146. Die Schwestern Karen und Connie Levi reisen aus den USA an, um ihrer 1942 in Treblinka ermordeten Urgroßmutter Elise Hofmann zu gedenken. Bis 1939 wurden alle jüdischen Bewohner*innen aus ihrem vermeintlichen letzten Ruhesitz vertrieben.
Über die bewegte Geschichte des Hauses, dessen Gebäude zu den Ikonen der Frankfurter Bauhausarchitektur gehört, spricht die Historikerin Dr. Gudrun Jäger. Heute befindet sich hier die Grünhof im Park Residenz.
 
 
Doppel-Grab ohne Inschrift: Erinnerung an Siegmund und Rosette Una & Familie
Jüdischer Friedhof, Rat-Beil-Straße 10, Frankfurt- Innenstadt

Sonntag, 14 Uhr

Vortrag & Gespräch

Am Grab von Rosette & Siegmund Una erzählt Peter Lobbenberg, der als Verwandter aus London anreist, die Geschichte der Familie Una. Die Historikerin Christine Hartwig-Thürmer ergänzt seinen Bericht um ihre Recherchen zu der weit verzweigten Familie Una-Buseck-Fraenkel- Dreyfuss- Deutz, jüdische Frankfurter*innen, denen die Nationalsozialisten erst alle Rechte, dann Eigentum und Leben, und letztlich mit der Entfernung der Inschrift auf ihrem Grabstein auch noch die Erinnerung an sie nahmen. Majer Szanckower, Verwalter der jüdischen Friedhöfe in Frankfurt, gibt Einblicke in jüdische Begräbniskultur und die Geschichte des Friedhofs.
Die Erinnerung findet im Freien statt, Männer sind aus rituellen Gründen gebeten, eine Kopfbedeckung zu tragen.

Letzte Änderung: 28.03.2023  |  Erstellt am: 28.03.2023

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