STROMERN – DAS FESTIVAL

STROMERN – DAS FESTIVAL vom 1.-5. September 2021: Das vielleicht kleinste Festival der Stadt ist zurück. Fünf Tage lang lesen und diskutieren Autorinnen und Autoren.
PROGRAMM
Sharon Dodua Otoo
Adas Raum
01.09.2021 19:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Wer ist diese Ada, von der Sharon Dodua Otoos Debütroman handelt? Ada ist viele. Sie ist eine junge Sklavin im Ghana des 15. Jahrhunderts, sie ist Ada Lovelace, Programmierpionierin des 19. Jahrhunderts, sie wird in einem KZ zur Prostitution gezwungen und sucht im Berlin der Gegenwart hochschwanger nach einer Wohnung. Otoos Adas sind schwarz und weiß, und was sie verbindet, ist das goldene Armband, das von Zeitebene zu Zeitebene weitergegeben wird. Und wer spricht im Roman? Nicht nur Ada, sondern auch ein Weltgeist, der mal die Perspektive eines Besens annimmt, mal Reisepass ist und mal Türklopfer.
Nach ihrem Siegtext beim Bachmannpreis 2016, bei dem es ein Frühstücksei war, das uns Herrn Gröttrup näherbrachte, legt Sharon Dodua Otoo mit Adas Raum nun auch auf der langen Strecke einen Text vor, der formal viel wagt. Über nahezu 600 Jahre spannt sie einen Erzählbogen, der bei aller Freude am Experiment und am Sprachspiel Verlaufslinien nachzeichnet von Gewalt und Rassismus, von Ungleichheit und Ohnmacht.
Moderation: Björn Jager
Doris Knecht
Die Nachricht
01.09.2021 20:30 Uhr, Haus am Dom, Quadrum im Dommuseum
Vier Jahre nach dem Tod ihres Mannes lebt Ruth allein in dem Haus auf dem Land, wo die Familie einst glücklich war. Die Kinder haben längst ihr eigenes Leben, während Ruth das Alleinsein zu schätzen lernt. Bis sie eines Tages eine anonyme Messenger-Nachricht bekommt, von einer Person, die mehr über ihre Vergangenheit zu wissen scheint als Ruth selbst. Was zunächst wie eine Lappalie wirkt, entwickelt sich bald zu einer gefährlichen Machtprobe, denn die Nachrichten werden immer bedrohlicher, und bald sind auch Ruths Freunde und Kinder betroffen.
Doris Knechts erster Roman Gruber geht (2011) war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. In ihrem neuen Roman Die Nachricht schreibt sie über familiäre Geheimnisse und die fatalen Folgen von Frauenverachtung und digitaler Gewalt – und erweist sich damit nach ihren letzten Romanen Alles über Beziehungen (2017) und weg (2019) einmal mehr als virtuose Skeptikerin zwischenmenschlicher Beziehungen.
Moderation: Lisa Straßberger
Das (un)sichtbare Patriarchat
Mit Rebekka Endler und Nicole Seifert
01.09.2021 21:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Dass patriarchale Strukturen der Gleichberechtigung im Weg stehen, wissen wir nicht erst seit gestern. Das Ungleichgewicht bei der Entlohnung von Männern und Frauen oder bei der Aufteilung von Sorge- und Hausarbeit ist bekannt, Ungerechtigkeiten in anderen Bereichen bleiben jedoch häufig verborgen. Ob öffentlicher Raum, Medizin oder Teilhabe am Literaturbetrieb: Schieflagen finden sich überall. Herzinfarkte bei Frauen sind rar? Nein, aber sie weisen andere Symptome auf als bei Männern und werden daher seltener diagnostiziert. Öffentliche Toiletten? Während Pissoirs oft kostenlos nutzbar sind, fällt für die Kabinennutzung eine Gebühr an. Autorinnen? Publizieren nicht weniger Bücher, werden aber deutlich seltener besprochen – ganz davon abgesehen, dass Literatur auch sehr viel häufiger von männlichen Rezensenten besprochen wird.
In Das Patriarchat der Dinge und Frauenliteratur machen Rebekka Endler und Nicole Seifert Strukturen sichtbar, von denen man zwar wissen könnte, die aber im Verborgenen bleiben, wenn man nicht genau hinschaut. Die Autorinnen legen Finger in Wunden, und dass ihre Texte dabei durchaus Widerstand erzeugen, zeigt erst recht, wie wichtig sie sind.
Moderation: Sonja Eismann
Unverschämt jüdisch
Mit Barbara Honigmann und Levi Israel Ufferfilge
02.09.2021 19:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Auch nach 1700 Jahren jüdischem Leben in Deutschland ist sichtbar gelebtes Judentum hierzulande alles andere als selbstverständlich. Wenn Levi Ufferfilge mit seiner Kippa aus dem Haus geht, ist er der Unwissenheit, dem Unverständnis und dem offenen Judenhass seiner Mitmenschen ausgesetzt. In Nicht ohne meine Kippa! erzählt er von kuriosen Begegnungen, antisemitischen Klischees und Bedrohungen, aber auch von dem Reichtum der jüdischen Kultur und der Kraft, die ihm sein Glaube gibt, um immer wieder zu seiner Identität zu stehen.
Barbara Honigmann erzählt in Unverschämt jüdisch in Reden und Essays von ihrer Jugend in Ost-Berlin, von ihren Eltern, die nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrt sind, um den Auf-bau eines neuen Deutschlands zu unterstützen – und sie erzählt vor dem Hintergrund der deutschen Geistesgeschichte von ihrer eigenen Identität als Schriftstellerin, die sich aus einer ganz besonderen Konstellation ergibt: „Frau, Jüdin, Deutsche und dazu noch aus dem Osten.“
Mit Barbara Honigmann und Levi Ufferfilge sprechen zwei Menschen verschiedener Generationen mit denkbar unterschiedlichem Lebensweg darüber, was es heißt, jüdisch zu sein – sichtbar, selbstbewusst und im besten Sinne unverschämt.
Moderation: Christian Dinger
Wir und die Anderen – Exil. Fremdheit. Solidarität.
Mit Asal Dardan und Shida Bazyar
02.09.2021 21:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
In seinem Roman Warten auf die Barbaren beschreibt J.M. Coetzee eine Gesellschaft, die aus Furcht vor dem vermeintlich Fremden letztlich zu dem wird, was sie fürchtet. Es ist diese verhängnisvolle Dynamik aus Angst und Othering, die Asal Dardan in ihren Betrachtungen einer Barbarin in der deutschen Gesellschaft aufdeckt. In einer Verschränkung aus Erlebtem und Gelesenem erzählt Dardan von antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen und den NSU-Prozessen – und von ihrer eigenen Geschichte als Kind iranischer Eltern, den Erfahrungen des Exils und dem Rassismus, den sie als „Textur meines deutschen Lebens“ bezeichnet.
Dieselbe Textur hat auch das Leben der drei Protagonistinnen in Shida Bazyars Roman Drei Kameradinnen. Saya, Hani und Kasih sind in derselben Siedlung aufgewachsen, sind geprägt von den Blicken der Anderen, von Ausgrenzung und Hass. Und als sie sich nach Jahren wiedertreffen, um alte Zeiten aufleben zu lassen, steht – auch in diesem Buch – der rechte Terror vor Gericht.
Mit beiden Autorinnen sprechen wir über Erfahrungen von Alltagsrassismus, Fremdheit und Exil – und über die Frage ob, und wie Literatur dazu beitragen kann, die Grenzen zu überwinden, die in der Gesellschaft immer wieder hochgezogen werden.
Moderation: Miryam Schellbach
Das Sterben schreiben
Mit Gabriele von Arnim und Maren Wurster
03.09.2021 19:00 Uhr, Haus am Dom, Dompfarrsaal
Es heißt oft, der Tod sei das große Tabu unserer Gesellschaft. Vielleicht müsste es etwas präziser heißen: Das Sterben ist das Tabu. Genau davon erzählen Gabriele von Arnim in Das Leben ist ein vorübergehender Zustand und Maren Wurster in Papa stirbt, Mama auch. Am Tag, als Gabriele von Arnim ihrem Mann sagt, dass sie ihn verlassen wird, erleidet dieser einen Schlaganfall, wenige Tage später einen zweiten. Maren Wursters Vater liegt mit einer schweren Krankheit auf der Intensivstation, ihre demente Mutter erkrankt kurz darauf im Pflegeheim an COVID. Zehn Jahre wird von Arnim ihren Mann pflegen, Wurster bleibt nur wenig Zeit.
Ganz offen beschreiben die Autorinnen die Zumutungen des Alltags und ihrer Lebensgeschichten, schreiben von Sucht, von Übergriffigkeit und immer auch von der Frage, was Würde ist. Halt gibt ihnen der Blick zurück – zu verstehen, warum jemand geworden ist, was er ist. Und zu verstehen, warum man für den Anderen tut, was man tut. So gelingt es ihnen, ungeschönt von den Härten des Verfalls und der Pflegearbeit zu erzählen und gleichzeitig auch immer von Liebe und Zuneigung.
Moderation: Julia Wolf
Gesellschaft in der Literatur: Wortmeldungen, gestromert
Mit Marion Poschmann, Kathrin Röggla und Leona Stahlmann
03.09.2021 21:00 Uhr, Haus am Dom, Dompfarrsaal
Über die Frage, ob jeder literarische Akt auch ein politischer ist, ließe sich lange streiten. Dass jedoch ein Festival wie „stromern“, das im Rahmen zahlreicher Podien Themen unserer Gegenwart nachspürt, sich damit auseinandersetzen muss, wie gesellschaftliches Engagement und Literatur sich zueinander verhalten, steht außer Frage. Der beste Partner für einen solchen Abend? Die Crespo Foundation und der Wortmeldungen-Literaturpreis, der dezidiert gesellschaftspolitische Texte auszeichnet.
Kathrin Röggla (Preisträgerin 2020), Marion Poschmann (Preisträgerin 2021) und Leona Stahlmann (Förderpreis 2018/2019) sprechen mit Jan Wilm über das Spannungsfeld, in das man sich hineinbegibt, wenn Poetik und ihre ästhetischen Kategorien auf den Wunsch treffen, sich literarisch zu dem zu äußern, was in der Gesellschaft passiert.
Wortmeldungen – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor*innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner*innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.
Moderation: Jan Wilm
Matthias Nawrat
Reise nach Maine
03.09.2021 21:00 Uhr, Haus am Dom, Giebelsaal
Am Anfang steht der Sturz: Kaum in New York angekommen, rutscht die Mutter des Erzählers in der Airbnb-Wohnung aus und bricht sich die Nase. Der gemeinsame Urlaub in den USA könnte kaum schlechter beginnen, dabei stand die Reise schon vor dem Abflug unter einem schlechten Stern: Denn statt, wie geplant, nach der Woche im Big Apple alte Freunde zu besuchen, lässt die resolute Frau den Sohn wissen, dass sie mit ihm weiterreist, hoch bis nach Maine, an der Küste entlang. Aus den Plänen, die Einsamkeit zu genießen und am nächsten Buch zu arbeiten, wird also nichts.
Matthias Nawrat gelingt in seinem neuen Roman Reise nach Maine einmal mehr der Drahtseilakt, der schon sein bisheriges Werk auszeichnet: das Existenzielle im Alltäglichen zu fassen. Mit ungeheurem Gespür für den Witz und die Tragik des vermeintlich Banalen erzählt er vom gemeinsamen Urlaub eines erwachsenen Manns und seiner Mutter, in dem eine kaputte Nase das größte Abenteuer zu sein scheint. Auf dem Roadtrip aber erkennen die beiden, dass ihre Vergangenheit noch ganz andere Wunden geschlagen hat, nämlich jene, die sich in nahezu allen Familien finden: Sprachlosigkeit und das damit verbundene Geflecht aus unausgesprochenen Erwartungen, Wünschen und Enttäuschungen.
Moderation: Björn Jager
Yevgeniy Breyger
Gestohlene Luft
04.09.2021 18:00 Uhr, Haus am Dom, Giebelsaal
„Vergiss, was du tust, folge einem Gesang.“ Präziser lässt sich ein poetologischer Gedanke kaum in einen Vers packen: Denn nicht immer muss ein Text ein Narrativ verfolgen, schon gar nicht muss er gänzlich entschlüsselbar sein – manchmal strahlt er in Klang und Rhythmus eine Schönheit aus, die für sich allein Gültigkeit hat. Es ist nicht irgendein Gesang, dem wir im Gedichtband Gestohlene Luft folgen, sondern der von Yevgeniy Breyger, dem „Dichter der Königreiche und des Tages 8“ (so die Darmstädter Jury in ihrer Begründung zur Verleihung des Leonce-und-Lena-Preises). Klar in der Form, wildwüchsig in seiner Bilderwelt, mal im Ton der Verkündigung, mal zweifelnd werden in Breygers Gedichten Fragen ins Nichts gestellt, werden Königreiche heraufbeschworen und prophetische Ratschläge erteilt. Schöner lässt sich die Aufbruchstimmung eines Spätsommers nicht in Worte fassen: Vergessen wir, was wir tun, folgen wir einem Gesang.
Moderation: Beate Tröger
Klasse & Kampf
Mit Anke Stelling und Francis Seeck
04.09.2021 19:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Klassenkampf – wenige politische Begriffe hören sich so aus der Zeit gefallen an wie dieser. Er klingt nach bärtigen Gesellschaftsphilosophen des 19. oder den Arbeiter- und Bauernstaatsideen des 20. Jahrhunderts. Aber im 21. Jahrhundert, so meinen nicht wenige, haben wir „Klasse“ doch längst überwunden: Nie sei eine Gesellschaft so durchlässig für Aufstieg gewesen wie heute. Stimmt das aber? Ist die Reise vom Tellerwäscher, wenn nicht zum Millionär, so doch wenigstens zur Anstellung im öffentlichen Dienst heute einfacher? Und wenn ein System durchlässig ist, gilt das dann nur für den Aufstieg – oder rutscht es sich auch leichter nach unten?
Die Anthologie Klasse & Kampf versammelt 14 Texte von Autor*innen, die der Frage nachgehen, ob wirklich alle die gleichen Chancen bekommen in unserer Gesellschaft. Sie erzählen von Herkunft und Scham, von Ausgrenzung, weil man nicht dem richtigen Milieu zugehört, von struktureller Diskriminierung und den Privilegien anderer. Mit Anke Stelling und Francis Seeck stellen wir zwei dieser Stimmen vor.
Moderation: Benjamin Pfeifer
Angela Lehner
2001
04.09.2021 20:00 Uhr, Haus am Dom, Giebelsaal
Restmüll, so werden Julia und ihre Crew genannt, allesamt Jugendliche, die selbst in der Hauptschule nicht hinterherkommen. Nichts könnte ihnen aber so egal sein wie Zuschreibungen aus der Dorfgemeinschaft. Man schreibt das Jahr 2001, und an so etwas wie eine Zukunft glaubt Julia längst nicht mehr: Die Eltern sind genauso abwesend wie Ausbildungsplätze im Bergkaff und daran wird auch der Euro nichts ändern. Stattdessen gibt es nur das Jetzt, und das will gefeiert werden: auf Festen, in Dorfclubs, mit Alkohol – Hauptsache gemeinsam. Dann aber schlägt ein Lehrer ein Rollenspiel vor: Jeder zieht einen Zettel mit dem Namen einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte und muss fortan in deren Haut leben, ohne den anderen zu verraten, wen man verkörpert. Und plötzlich geraten Gewissheiten ins Wanken.
Angela Lehners Erstling Vater unser wurde 2019 als eines der originellsten Debüts der letzten Jahre gefeiert und vielfach ausgezeichnet. Mit 2001 legt sie jetzt einen zweiten Roman vor, der genauso schwer in Genreschubladen zu stecken ist wie sein Vorgänger: Es ist ein Provinzroman, eine Coming of Age-Geschichte und ein Buch darüber, wie sich politische Radikalität in unseren Alltag schleicht.
Moderation: Malte Kleinjung
Von Raststätten und krummen Türmen
Mit Charlotte Van den Broeck und Florian Werner
04.09.2021 21:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Auf den ersten Blick haben die Wiener Staatsoper und die Raststätte Garbsen Nord absolut nichts gemeinsam. Hier der Prachtbau im Zentrum der österreichischen Hauptstadt, dort, nun, ein Asphalt- und Betonungetüm der 1950er Jahre in der Mitte der Republik zwischen A2 und A7, hier verbringt man Stunden mit Kunst, dort höchstens 15 Minuten zum Austreten und Auftanken. Was der gegenwärtige Blick aber außer Acht lässt: Auch die Staatsoper war vor gut 150 Jahren ein Unort – nicht prachtvoll genug, hieß es, und als die Ringstraße um das Gebäude herum während des Baus erhöht wurde, galt, oh weh!, die Oper auch noch als „versunkene Kiste“. Für einen der beiden Architekten war die Schmach so groß, dass er sich das Leben nahm.
Auf gleich dreizehn Orte des Scheiterns blickt Charlotte Van den Broeck in Wagnisse, während Florian Werner in Die Raststätte – Eine Liebeserklärung anhand von Garbsen Nord das Wesen der deutschen Autobahnunorte zu fassen versucht. Bei allen Unterschieden von Parkplätzen und sich neigenden Kirchtürmen ist es ein ganz ähnlicher Zugriff auf die Gegenstände, der die Bücher verbindet. Mit groteskem Humor und Sinn für Details unternehmen Van den Broeck und Werner einen Ausflug in die Vergangenheit und verbinden diesen mit Reflexionen auf die jeweils eigene Biographie. Und nicht zuletzt gelingt es beiden, auch im Scheitern und im Mittelmaß Schönheit zu entdecken.
Moderation: Heinz Drügh
Der forschende Blick
Mit Mara-Daria Cojocaru und Eva Maria Leuenberger
05.09.2021 15:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Die Sprache der Lyrik ist auch eine Sprache der Wissenschaft. Das klingt jetzt vielleicht nach einer kühnen Behauptung, aber immerhin geht es in beiden Bereichen um die größtmögliche Präzision. Dass ein Lyrikband auch als Forschungstagebuch daherkommen kann, beweist Mara-Daria Cojocaru mit ihrem Buch der Bestimmungen. Darin begleiten wir das lyrische Ich rund um die Welt, den forschenden Blick vor allem auf die Tierwelt gerichtet, und beobachten so beispielsweise einen Dachs (Meles meles) als Grenzgänger zwischen Religion und Physik auf dem Weg ins Priesterseminar oder einen Fuchs (Vulpes vulpes), der sich des Nachts seinen Weg zwischen den Liebenden bahnt.
Kein Forschungstagebuch, sondern ein kunstvoll verwobener Diskursteppich aus Zitaten und poetischer Reflexion ist Eva Maria Leuenbergers kyung. Ihre Texte kreisen um den Körper, das Frausein und die Performancekünstlerin und postkoloniale Avantgardistin Theresa Hak Kyung Cha – und sind gleichzeitig eigenständiges Sprachkunstwerk und Sekundärpoesie. Beide Bände beweisen eindrucksvoll, wie Wissensdrang und sprachliche Schönheit miteinander vereint werden können.
Moderation: Beate Tröger
Ferdinand Schmalz
Mein Lieblingstier heißt Winter
05.09.2021 17:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Dass die österreichische Kultur eine besondere Beziehung zum Thema ‚Tod‘ hat, ist bekannt. In diese Tradition humorvoller Leichenprosa reiht sich Ferdinand Schmalz mit seinem Roman Mein Lieblingstier heißt Winter auf ganz besondere Weise ein. Sein Protagonist, der Wiener Tiefkühllieferant Franz Schlicht, der sich selbst als „wüsten Charakter“ sieht, bekommt eines heißen Sommertags einen skurrilen Auftrag: Sein Kunde Doktor Schauer will sich zum Sterben in eine Tiefkühltruhe legen und Schlicht soll den gefrorenen Körper auf eine Lichtung verfrachten. Zum vereinbarten Zeitpunkt ist die Tiefkühltruhe jedoch leer, und Schlicht begibt sich auf eine höchst ungewöhnliche Suche nach der gefrorenen Leiche. Dabei begegnet er der Tatortreinigerin Schimmelteufel, einem Ingenieur, der sich selbst eingemauert hat, und einem Ministerialrat, der Nazi-Weihnachtsschmuck sammelt.
2017 gewann Ferdinand Schmalz mit einem Auszug aus diesem Roman den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun liegt das Buch in voller Länge vor und glänzt vor sprachlichem Eigensinn und einer schalkhaften Freude am Grotesken.
Moderation: Jan Wiele
Felicitas Hoppe
Die Nibelungen – Ein deutscher Stummfilm
05.09.2021 19:00 Uhr, Haus am Dom, Großer Saal
Drachen, Zwerge und Gold: Sie denken an Tolkien? Weit gefehlt! Um Drachentöter und Blutbäder (im doppelten Wortsinne) ging es schon viele hundert Jahre zuvor in den Nibelungen. Und was für ein Stoff das ist: Ein unermesslicher Schatz, eine Liebe, Ränkespiele und Mord. Boy meets Girl, könnte man meinen, als Siegfried auf Kriemhild trifft, und wie immer wird alles kompliziert, sowie ein Dritter auf den Plan tritt: Hagen, Held mit Hang zur Verschlagenheit, der wiederum Brünhild rächen will, die sich von Siegfried hintergangen fühlt.
Beginnend im hohen Norden verläuft die Geschichte entlang des Rheins und der Donau und endet am Schwarzen Meer – voilá, sagt Felicitas Hoppe, ein ganz Europa umspannendes Heldenepos. Und weil heute niemand sagen kann, wie sich die Dinge damals ganz genau zugetragen haben, nimmt die Büchnerpreisträgerin von 2012 die Sache selbst in die Hand und fabuliert, wie nur Hoppe es kann: poetisch, politisch, absurd.
Moderation: Carsten Otte
Letzte Änderung: 27.08.2021 | Erstellt am: 25.08.2021
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