Ödipus bei den Roma

Ödipus bei den Roma

Griechischer Biennale-Pavillon

Bedingt und verstärkt durch die Pandemie und die damit verbundenen wochenlangen Schließzeiten der Theater haben sich etliche Künstler*innen um die Entwicklung und Bereitstellung digitaler Formate bemüht. Ein Beispiel, wie ein solches Format aussehen kann, ist derzeit auf der Biennale in Venedig zu erleben.

In ihrem Beitrag für die Biennale 2022 – „OEDIPUS IN SEARCH OF COLONUS“ – überträgt die griechische Künstlerin Loukia Alavanou die Handlung von Sophokles‘ letztem fast 2500 Jahre alten Drama „Ödipus auf Kolonos“ in die Gegenwart und verwebt die Realität vor Ort mit der Geschichte von Ödipus – zu sehen und zu erleben mittels eines 360 Grad-VR-Films.

Erst lernte die Künstlerin den Text von Sophokles Drama – ein Geschenk ihres Vaters – kennen, dann verfährt sie sich und landet an diesem „Unort“ – einer Barackenstadt vor den Toren des heutigen Athens. Entscheidet früh, beides zusammenzudenken und zusammenzuführen und gewinnt über einen längeren Zeitraum das Vertrauen der Roma, die sonst eher misstrauisch und abweisend gegenüber „Eindringlingen“ sind und spielt mit Amateurdarsteller*innen dieser Roma-Gemeinden, die Handlung des antiken Dramas als Flüchtlingsdrama nach. „Es ist eine Zeitreise von Sophokles‘ zweieinhalbtausend Jahre altem Drama zu den sozialen Missständen von heute, explizit politisch und doch fest in der Kulturgeschichte ihrer Heimat verankert“ (Heinz Peter Schwerfel, Kurator des Griechischen Pavillon).

„Von Kunst habe man in Nea Zoi (was übersetzt “Neues Leben” heißt) keine Vorstellung“, erzählt die Künstlerin. „Die Bewohner*innen hätten an diesem Ort auch nichts von Sophokles oder Ödipus gewusst“. Dennoch hatten erstaunlich viele vor Ort Lust, an dieser Produktion mitzuwirken. Uns so konnte Loukia Alavanou etliche Bewohner*innen der Barackenstadt als Laiendarsteller*innen für ihre Reinszenierung des antiken Stoffes gewinnen. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie das, worum es geht, so gut kannten und kennen. Also spielten sie Kreon, Polyneikes, Antigone, Theseus, den Chor. Doch eigentlich – und das macht den Reiz und die Besonderheit des Films aus – spielten sie sich selbst.

Eine größere Anzahl von Menschen wartet geduldig vor dem Eingang zum griechischen Pavillon. Einzeln wird man eingelassen und es stehen nur wenige Plätze oder besser Liegen zur Verfügung. Man betritt einen dunklen Raum und wird von freundlichem Personal zu einem Platz geführt und belegt seinen Stuhl – eine Mischung aus Liege- und Gynäkologenstuhl – und setzt unter Anleitung eine VR-Brille plus Kopfhörer auf und ist von da an für die Dauer der Installation in einer anderen Welt. Man sitzt im Käfig zwischen Raubvögeln, vermutlich Geiern, und das erste Erschrecken ist groß. Schließlich kommen einem die Tiere bedrohlich nahe. Die Illusion ist nahezu perfekt, umfasst 360 Grad und dauert 17 Minuten.

In dieser Zeit bewegt man sich durch einen Slum am Rande Athens. Dieser Ort wird von Roma bewohnt, die sich in den achtziger Jahren in dieser Landschaft zwischen Hügeln angesiedelt haben. An einem Ort, der idyllisch sein könnte, wenn hier nicht überall Berge von Müll lägen und die Menschen nicht in zusammengeschusterten Hütten hausen müssten, abgelehnt von der Gesellschaft.

Nach Jahren der Verbannung erscheint der vergreiste, blinde Ödipus in Begleitung seiner Tochter und Halbschwester auf dem Hügel Kolonos bei Athen, um zu sterben. Man will ihn dort aber nicht haben, er soll dahin zurückkehren, wo er herkam. Auch die Roma kamen einst an diesen Ort unweit des historischen Kolonos um Ruhe zu finden. Auch sie mussten feststellen, dass sie verachtet wurden und nicht gewollt waren und sind. Trotzdem blieben sie, bauten sich ihre eigene Welt aus den Resten der Zivilisation. Damit thematisiert Alavanou zugleich auch ein akutes Problem, denn die Athener Behörden erlauben den Menschen dort nicht, ihre Toten vor Ort zu begraben – in der VR-Installation eindringlich und in Gebärdensprache erzählt.

Mit der Brille auf dem Kopf durchwandern wir diesen „Unort“, dürfen in ihre Wohnungen eintreten und schauen, wie sie leben. Wir sind umringt von Menschen, die zum Teil wunderliche Clowns- oder Tiermasken tragen, uns bisweilen aber auch ganz offen ins Gesicht sehen. Sie stehen dort, konfrontieren uns mit ihrer Gegenwart und Wirklichkeit– und wir sind für die Dauer der Installation Teil dieser Welt und gleichzeitig der Geschichte von Ödipus.

Ein Erlebnis der besonderen Art und ein Beleg dafür, wie aktuell antike Dramen und Geschichten sind. Uns noch heute etwas über uns und unsere Zeit erzählen können.

Eine tiefe Erfahrung, die jeder, der die Kunst-Biennale in Venedig besucht, nicht versäumen sollte. Wir tauchen ein in eine Welt, die uns in der Wirklichkeit verschlossen ist, ohne ihre Bewohner zu verletzen oder zu beschämen. Ihre Würde wird durch die sensible Wahrnehmung der Künstlerin Loukia Alavanu bewahrt und sogar erhöht. Sie gibt ihnen eine Sprache.

Wie gut, dass sich die Künstlerin vor Jahren hierher verfahren hat, mit dem von ihrem Vater geschenkten Buch „Ödipus auf Colonos“ im Gepäck!

Letzte Änderung: 06.07.2022  |  Erstellt am: 28.06.2022

 Sophokles: Ödipus auf Kolonos

Sophokles Ödipus auf Kolonos

Übersetzung: Kurt Steinmann Reclam Philipp Jun., 07/1996 Einband: Kartoniert / Broschiert Sprache: Deutsch Umfang: 136 Seiten
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