
Wofür – über den Besitz eines deutschen Passes hinaus – halten sich die Deutschen? Sind es, wie Ludwig Börne schrieb, unsere Fehler, die uns zu Deutschen machen? Oder sind es gar die Dichter? Tatenarm und gedankenvoll? Matthias Buth geht dem Zusammenhang von ungewissem Selbstverständnis, Recht und Politik nach.
Manchmal schimmert die alte Formel noch durch den Sprachnebel. Sie ist ja auch zu schön, eine Alliteration und eine Selbstzuschreibung, die Grazie, Geist und ein sanftes Schweben über den Dingen verheißt.
Wer wäre es nicht gerne, wer würde nicht aus vollem Herzen dazugehören wollen – zum Volk der Dichter und Denker? Der Ursprung des Zwillingswortes ist nicht ganz eindeutig zu ermitteln, ihm liegt aber wohl romantisches Empfinden zugrunde. „Was wäre das enthusiastischste Volk unserer Denker, Dichter, Seher ohne die glücklichen Einflüsse der Fantasie?“ fragte Johann Karl August Musäus (geb. 1735 in Jena und gest. 1787 in Weimar), der als aufklärerischer Autor und Philologe in fünf Bänden „Volksmärchen der Deutschen“ sammelte, ein Buch, das Christoph Martin Wieland nach seinem Tod neu herausgab. Herder schätzte ihn sehr und hielt seine Totenrede.
Der von Heinrich Heine wenig geschätzte Literaturhistoriker Wolfgang Menzel ging im 19. Jahrhundert diesem Begriff nochmals nach und schrieb 1828 in seinem Buch „Über deutsche Literatur“: „Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben umso mehr. Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. (…) Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit.“ Madame de Staël liebte Deutschland und die Gelehrsamkeit ihrer Nachbarn (die deutschen Schriftsteller beschäftigten sich mit Theorien, literarischen und philosophische Untersuchungen, vor denen sich die Mächtigen der Welt aber nichts zu fürchten hätten), von ihr stammt die Formel aber nicht. Thomas Mann trieb es 1945 in „Adel des Geistes“ und mit Rückblick auf das 19. Jahrhundert auf die Spitze: „Ein deutscher Dichter: das war etwas dazumal in der Welt. Das Wort vom Volk der Dichter und Denker stand in seiner vollen Geltung. (…) Ein Deutscher sein, das hieß beinahe ein Dichter sein. Aber noch mehr: Ein Dichter sein, das hieß beinahe schon, ein Deutscher sein.“ Puh, möchte man heute sagen. Und klar: Friedrich Dürrenmatt wies das zurück, stanzte aber zugleich die alte Formel, indem er 1956 feststellte: „An die Schweitzer und die Deutschen: Wir sind schon längst kein Volk der Hirten mehr, so wenig wie Sie ein Volk der Dichter und Denker.“
Auf diese Abstraktionsebene begeben sich Politiker nicht. Auch nicht Bundeskanzler Scholz, als er am 25. Januar 2023 im Deutschen Bundestag gefragt wurde, was denn das deutsche Volk außerhalb des staatsbürgerlichen Status ausmache. Herr Scholz verwies darauf, dass in Deutschland gemeinsame Überzeugungen gewachsen seien, dass die Menschen in einer offenen und demokratischen Gesellschaft lebten, Unterschiede akzeptierten, aber nicht vor Recht und Gesetz, dass die Menschen hier pünktlich und fleißig seien und sich gern an die Gesetze hielten. Das war’s.
Staatsvolk und Nation sind jedoch begrifflich nicht identisch, und so ist es schon erstaunlich, dass der Kanzler sich nicht beraten lässt, was er zu solch banalen, dennoch immer wieder in den Feuilletons ausgebreiteten Fragen sagen sollte. Und dass in einem Bundesgesetz, im Gesetz zum Deutschen Auslandsrundfunk – der Deutschen Welle – seit 2005 steht, dass der Sender sich um das Bild Deutschlands in der Welt als „europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich demokratischen Rechtsstaat“ einsetzen soll, ist doch eine Formel, die an jene von Deutschland der Dichter und Denker heranreicht. Im einstimmig beschlossenen Bundesgesetz wurde in der gesetzlichen Begründung gar auf vier bedeutende Dichter Bezug genommen mit dem Satz, dass Deutschland auch Ausdruck eines Freiheits- und Humanitätsideals sei, das sich in den Werken von Schiller, Goethe, Herder und Heine dokumentiere.
Ist das alles alter Schnee? Joschka Fischer bekannte sich als damaliger Außenminister noch klar zu Deutschland als Kulturnation. Claudia Roth, die als Kulturstaatsministerin des Kanzlers an den Kabinettssitzungen ohne Stimmrecht teilnehmen darf, postulierte noch 1991 „Nie wieder Deutschland“ und will nun aus dem Namen „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ das Preußenwort ebenso streichen wie die Verantwortlichen in Potsdam, wo das „Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte“ ebenfalls den P-Namen verlieren soll. Der bekannte Historiker Julius H. Schoeps, Gründer des Moses-Mendelssohn-Zentrums, An-Institut der Universität Potsdam, protestierte vehement. Und der 1938 in Königsberg geboren Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft, Heinrich-August Winkler, hat sich in den Großforschungen wie „Geschichte des Westens“ (2015) und „Nationalstaat wider Willen“ (2022) umfassend zur Genese Deutschlands geäußert und eben nicht an Carl Schmitt, sondern an Helmut Plessner angeschlossen. Und wer kennt nicht das Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne? Der Staat – so präzisierte er – könne einerseits nur dann bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert und andererseits könne er die Regulierungskräfte nicht mit Rechtszwang garantieren, ohne seinen Freiheitsanspruch zu gefährden. Es komme also auf die ethische Kraft aus verschiedenen Quellen an, aus Christentum, Aufklärung und Humanismus, um diesem Dilemma zu begegnen, mithin mit Wertschöpfungen, die sich rechtlich nicht voll erfassen lassen.
Und diese wandeln sich, liegen aber in jenem Begriff, dem man nicht den Verschwörungs-Geisterfahrern von links und rechts (sie begegnen sich häufig) überlassen darf – dem Volk, der Nation, nur formal erfasst durch die Idee des Staatsvolks. Das alles scheint an den Politikern in den Amtsstuben Berlins vorbeizogen zu sein, ohne Abdruck in Gedächtnis und Empfindung gefunden zu haben. Die Worthülse „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ weicht all dem aus, was Winkler, Böckenförde sowie auch Herfried Münkler und Karl Schlögel in analogen wie digitalen Medien schreiben. Es geht um mehr als Soziologie, es geht um unser Selbstverständnis als Deutsche, als Staats- und Kulturbürger in einem Land von 150 Ethnien. Alle haben irgendeinen Migrationshintergrund, weshalb man diesen Begriff streichen kann. Selbst Friedrich Merz hat das eingesehen.Mit Blick auf das Grauen des nationalsozialistischen Staates, auf das Terror-Deutschland, das weiterhin auf uns alle Schlagschatten wirft und das Handeln der Regierungen bestimmt, halten wir uns immer wieder am Begriff des Rechtsstaates fest im festen Glauben, er werde es richten, uns und andere vor Chaos und Willkür schützen. Was ist, wenn wir enttäuscht werden, wenn wir uns täuschen lassen und bewusst nicht zu genau hinschauen, hinschauen wollen?
Blicken wir auf Afghanistan, und nicht nur auf das letzte Jahr, als die Bundeswehr sich davon machte, davonmachen musste, als die US-Amerikaner wie vorher die Sowjets das Land am Hindukusch fluchtartig verließen. Das Gebirgsland in Asien war schon im 19. Jahrhundert im Focus der Großmächte.
Und wer hat darüber berichtet, es in eine Ballade gefasst und so in unser literarisches Gedächtnis gelegt? Er war Brandenburger, Preuße, ein Dichter und Denker, der 1857 als Auslandskorrespondent für deutsche Zeitungen in London tätig war: Theodor Fontane (1819-1898), der Meisterfeuilletonist in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, der herrliche Romancier und Balladendichter im 19. Jahrhundert, das Thomas Mann so hochjazzte und viele heute noch als das deutsche Jahrhundert in Europa ansehen. Fontane stützt sich in der Ballade „Das Trauerspiel von Afghanistan“ auf das 1848 in Leipzig erschienene Buch von Karl-Friedrich Neumann gleichen Titels, das schildert, wie sich die Großmacht-Interessen des Britischen Empire mit jenen des zaristischen Russlands kreuzten, ein Machtspiel auf dem Schachbrett der Politik, auf dem die Afghanen hin- und hergeworfen wurden. Aber sie wehrten sich. Und das unheimliche Felsenland half ihnen. 1842 markiert schauerlich das machtpolitische Ringen der Briten um Zentralasien. Das „Great game“, die Niederlage, das Gemetzel vor Dschalalabad, welche das afghanische Heer unter dem Kommando von Wazir Mohammed Akbar Khan (1816-1846) den Invasoren des Empires zufügten, war ein Fanal. Freies Geleit war von afghanischer Seite zugesichert; dieses Wort wurde gebrochen. Im britischen National-Gedächtnis ist dieses Verbluten und Erfrieren von etwa 15.000 Menschen (d.h. 12.000 Zivilisten, 690 britische und 2.840 indische Soldaten) auch heute noch gegenwärtig, ebenso die Formel „Gott schütze uns vor der Rache der Afghanen“.
Und das veröffentlichte 1860 der deutsche Dichter aus Brandenburg:
Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“
Afghanistan! Er sprach so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.
Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:
„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.
Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“
Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.
Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laß sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!“
Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied und Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.
Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.
Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.
Dieser Eine war der britische Militärarzt Dr. Brydon; er erreichte am 13. Januar 1842 Dschalalabad, wo ein britisches Fort Schutz versprach.
Hals über Kopf wollten die Briten Afghanistan verlassen. Auch die sowjetischen Truppen zogen sich 1989 nach zehn Jahren ergebnisloser Eroberungsversuche zurück. Und dann 2021 nach zwanzig Jahren die US-Amerikaner, deren NATO-Verbündeten und weitere Invasoren. Die Bundeswehr beklagte 59 Soldaten in einem Krieg, den als solchen zu bezeichnen, lange ein politisches und mithin sprachliches Tabu war. Der pomadige Verteidigungsminister Karl-Theodor Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg (das ist sein personenrechtlich korrekter Name) galt geradezu als mutig, als er am 4. April 2010 von „Krieg“ und von „Gefallenen“ sprach, die ihr Leben am Hindukusch ließen. Das muss umso mehr erstaunen, als die Militäraktion unter Leitung der USA unter dem Namen „Enduring Freedom“ vom 7. Oktober 2001 bis zum 28. Dezember 2014 als „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgerufen war, eben als Krieg, der sich aber als Militäroperation einen vernebelnden Namen gab.
Kaum einer fragt heute, warum, mit welcher völkerrechtlichen Legitimation auch die Bundesrepublik Deutschland nach Afghanistan einrückte. Das ist erstaunlich, denn wir verstehen uns doch als Rechtsstaat, der aus den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges, der aus den Invasionen Deutschlands durch seine Wehrmacht entgegen aller völkerrechtlichen Prinzipen das Grundgesetz von 1949 geschaffen hat, um endlich und ausschließlich Recht und Gesetz zu folgen und nicht Herrschaftsansprüchen über andere Staaten.
Und wie war die Rechtslage nach dem 11. September 2001, als das US-amerikanische Freiheitssymbol – die Twin Towers – mit gekaperten Flugzeugen zum Einsturz gebracht wurden und fast 3.000 Menschen ihr Leben verloren und zudem das Pentagon-Gebäude mit einem Flugzeug angegriffen wurde? All dies ging von Tätern aus, die in Hamburg beheimatet waren.
Die USA sahen sich ins Mark getroffen, sie kamen nicht entfernt darauf, ein eigenes Versagen der Behörden zur inneren Sicherheit zu erörtern, sondern erklärten dem internationalen Terrorismus den Krieg. Sie riefen den UN-Sicherheitsrat an, der durch einen Beschluss die völkerrechtliche Legitimation hätte geben sollen. Mit der Resolution 1368 des Sicherheitsrates am 12. September 2001 wurden die Terroranschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit verurteilt und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung zum Ausdruck gebracht.
Was war denn „Nine eleven“, ein terroristischer Akt oder eine Kriegshandlung und von wem?
Das Recht auf Selbstverteidigung, das jedem Staat völkerrechtlich zusteht, wird in Artikel 51 der Uno-Charta normiert. US-Präsident George Bush nannte die Anschläge in einer Presseerklärung „terroristische Akte“. Das sind Handlungen nichtstaatlicher Akteure, die Gewalt gegen zivile Objekte oder Zivilpersonen ausüben, um Angst auszulösen in einer Bevölkerung oder bei Regierungen. Dies orientiert sich an der Montreal-Konvention von 1971 zum Schutz der Zivilluftfahrt. 150 Staaten traten ihr bei. Die US-Administration hatte aber kein Interesse, nach nationalem und internationalem Recht vorzugehen. Außenminister Powell intervenierte beim Präsidenten, der dann umschwenkte und den von ihm erkannten Terrortakt umfirmierte in einen „Act of War“. Das Trauma des japanischen Angriffs auf den Hafen von Pearl Harbor im Jahre 1941 wurde PR-gemäß hochgezogen: hier sei der Fall ähnlich. Der Kongress verlor alle Einsicht und autorisierte den Präsidenten, militärische Gewalt einzusetzen.
Und dann kam es zu oben genannter Sicherheitsresolution. Nur: Diese sprach nicht von einem Act of War, einem kriegerischen Akt, sondern einem terroristischen. Und von wem sollte denn ein kriegerischer Anschlag auf die USA ausgegangen sein? Von welchem Staat? Denn danach orientiert sich das Kriegsvölkerrecht. Weder Zivilpersonen noch nicht-kombattante Personengruppen können Kriege auslösen bzw. führen, das können nur Staaten.
Die UN-Resolution konnte keine völkerrechtliche Legitimationsgrundlage sein, den NATO-Fall, also die Beistandspflicht aller seiner Vertragsmitglieder nach Artikel 5 NATO-Vertrag am 12. Oktober 2001 auszulösen. Das US-Verhalten war kein Kunstfehler, sondern Rechtspraxis durch politischen Zwang. „Wir sind alle Amerikaner“, rief Bundeskanzler Gerhard Schröder im Deutschen Bundestag aus, um sich so der Rechtsbeugung der Amerikaner zu unterwerfen.
Wer hat ihm eigentlich widersprochen? Oder wer hat zumindest öffentlich gesagt, der militärische NATO-Beistand der Bundesrepublik folge – contra legem – aus außenpolitischer Zwangslage, um Sicherheitsinteressen Deutschlands nicht zu gefährden, da die USA Schutzmacht für Deutschland und die EU seien?
Zudem:
Selbst wenn man das Liften des Völkerrechts à la Bush hinnehmen wollte oder müsste, so ergibt sich ein weiterer Völkerrechtsverstoß aus Artikel 51. Denn Maßnahmen der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gelten nur solange, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Im Herbst 2001 war die Taliban-Herrschaft schon beseitigt, und Osama Bin Laden war nicht mehr in Afghanistan.
Es braucht nach allem keinen höheren Sachverstand, um zu erkennen, dass der Einmarsch in Afghanistan der NATO völkerrechtswidrig war und nur den geopolitischen Interessen der USA folgte. Und die Bundesregierung und der Bundestag kuschten. Auch heute noch. Und die sogenannte Operation „Enduring Freedom“ endete bereits am 28. Dezember 2014. Die Bundeswehr blieb jedoch bis 2021.
Als der Bundestag am 6. Oktober 2021 der Bundeswehr das Mandat zur Evakuierung der Soldaten und der Ortskräfte gab, fragte, soweit bekannt, keiner nach der Völkerrechtslegitimation. Inzwischen hatte Afghanistan ja neue Machthaber, da sich die US-Armee überstürzt davon gemacht hatte. Lag eine Zustimmung der neuen Machthaber vor? Oder hatte der Sicherheitsrat ein entsprechendes Mandat erteilt? Oder handelte man nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ oder aus einer aus dem Strafrecht bekannten „Garantenpflicht“ aus vorangegangenem Tun? Die von der Bundesregierung gerne ins Feld geführte Völkerrechtsbindung, eine „regelbasierte Ordnung“ sieht anders aus.
Was bleibt aus allem? Verzweiflung? Empörung, dass man es sich hat gefallen lassen, so düpiert zu werden? Welche im Bundestag vertretenen Parteien sind diesem Schauerstück des Rechts nachgegangen?
Wir, die demokratische Wertegemeinschaft (gibt es die?) haben Chaos hinterlassen, 70 Staaten waren an dem Feldzug gegen den tatsächlich zu fassenden Terror beteiligt. 72.000 Menschen wurde allein in Afghanistan getötet. Wie es heute dort aussieht und was der Islam des Taliban-Kalifats den Frauen antut, führt uns die aus Afghanistan stammende Kölner Ethnologin und Journalistin Shikiba Babori im Buch „Die Afghaninnen – Spielball der Politik“ (Frankfurt/ New York 2022) vor Augen: eine Schreckensbilanz.
Und wir hatten solch brillante Sprüche eines Verteidigungsministers wie Peter Struck zu ertragen, wonach unsere „Freiheit am Hindukusch verteidigt“ werde. Da ist mir eine unfreiwillige Kabarett-Größe wie Eddi Stoiber mit seinem Satz „Lieber Hindelang als Hindukusch“ schon lieber, wenngleich der afghanische Abgrund an mangelnder Rechtsstaatlichkeit zum Lächeln wenig Anlass bietet.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“? Wenn doch Friedrich Hölderlin nur Recht hätte. Theodor Fontane kritisiert mit seiner eindrucksvollen Ballade den Kolonialismus und so in gewisser Weise auch unsere Geschichte, wenn wir auf Afrika blicken.
Also doch das Land der Dichter und Denker? Kluge Historiker und Völkerrechtler an den Universitäten gibt es genug, deren Bücher müssen aber gelesen und verstanden werden und jene der Dichter in Lyrik und Roman ebenso.
Wie gerne würden wir in einem Deutschland der Dichter und Denker leben. Es gibt es. Aber nur in uns. Im geheimen, im Deutschland der Lüfte. Schade. Deutschland bleibt ein Wintermärchen.
Letzte Änderung: 05.08.2023 | Erstellt am: 05.06.2023